«Doch, das können sie. Sie können auch anders. Ich hab’ was gehört: Der Junge, der gestorben ist, hat angeboten, für sie zu spitzeln, wenn sie dafür sorgen, daß er versetzt wird. Haben sie gesagt: Gerade dort, wo Sie sind, brauchen wir sie, Genosse Burre. Natürlich werden wir Sie schützen, wir wissen, was Soldatenethik bedeutet. Die können, wie sie wollen. «Sie gingen über den Marktplatz zum Brunnen, ein vierköpfiger wasserspeiender Greif aus schwarzem Sandstein.»Und Siegbert?«fragte Christian.
«Sie sind auseinander. «Das war nicht mehr die selbstsichere, manchmal hoffärtige Reina, die er gekannt hatte. Sie wirkte verschreckt, vorsichtig, blickte sich oft um, musterte die Vorübergehenden, die Polizisten, die über den Marktplatz schlenderten.»Weißt du, ich wollte dir immer schreiben, aber ich habe mich nicht getraut. Es hat sich so vieles verändert. Wir kamen aus der Schule und … naja, das klingt jetzt vielleicht komisch … so naiv. Vielleicht waren wir so. Ich meine, ich wußte schon, daß ich nicht alles sagen durfte, zu Schnürchel nicht und zu Roter Adler nicht und zu Fahner schon gar nicht. Und ich hab’ mich gefragt: Warum eigentlich nicht? Das sind doch Kommunisten, die wollen ehrlich sein … Und wir? Warum reden wir zu Hause so und in der Schule ganz anders … beten unsere Sprüche ab, um nicht anzuecken? Aber wieso eckt man an, wenn man eine Meinung hat, die anderen Meinungen zuwiderläuft? Und wieso gibt es diesen Widerspruch: Da die Wirklichkeit — dort das, was darüber geschrieben wird, und das sind zwei völlig verschiedene Dinge? Ich war so blind, ich … habe nichts gewußt. Manchmal saß ich im Wohnheimzimmer, hab’ an dich gedacht, und daß du mich wahrscheinlich verachten wirst für meine Ahnungslosigkeit. Aber du … du hast auch Glück gehabt — «
«Hat mir Siegbert auch mal vorgeworfen.«
«Ich werfe dir das nicht vor, bestimmt nicht. Es ist nur … die Erziehung. Ich bin im Glauben an das Land erzogen worden, an die Ideale, das System. Na, erzogen«, Reina lachte nervös,»meinen Eltern war so vieles egal. Abgesehen von: Solange du deine Beine unter unsern Tisch steckst — «
«Kann Verena weiterstudieren?«
«Sie ist exmatrikuliert. Vorher: eine von den Besten, man hat sie hofiert — dann der Antrag, und man hat sie fallengelassen wie eine heiße Kartoffel.«
«This tender butterfly with dark brown eyes.«
«Du warst in sie verliebt.«
«Glaub’ nicht.«
«Sie war’s nicht wert!«verlangte Reina in einem Ausbruch von plötzlichem Haß.
«Glaub’ doch. — Wie geht’s ihrer Schwester?«
«Sie und die Mutter haben noch Arbeit. Der Vater ist gleich nach dem Antrag entlassen worden. Bis auf mich haben sich alle Freunde abgewandt. Siegbert hatte ja schon Probleme, und einer von denen hat ihm gesagt, wenn er die Beziehung zum Fräulein Winkler nicht abbricht, können sie für nichts mehr garantieren.«
«Will er immer noch zur See?«
«Ja. Damit haben sie ihn in der Hand. Er studiert jetzt Pädagogik, Sport/Geographie.«
«Siegbert ein Lehrer! Und seine vier Jahre Verpflichtung?«
«Hat er widerrufen. — Alle ihre Freunde haben sich abgewandt. Als wäre sie aussätzig! Und ich? Was soll ich machen? Sie sagen mir offen, daß ich die Beziehungen abbrechen soll.«
«Dann tu’s doch. Sie ist doch eh irgendwann draußen. Und was hat’s dir dann genutzt, wenn Verena weg ist und du ohne Studienplatz dastehst.«
«So denkst du wirklich? Du?«
«Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß nicht, was wird.«
«Du kannst nicht wirklich so denken. Siegbert, ja. Aber du nicht. Und du weißt das. Nur aus Widerspruchsgeist gibst du dich so zynisch. Aber du bist nicht so.«
«Wieso nicht? Hat doch einiges für sich, was ich sage. Übrigens weiß ich selbst nicht, wie ich bin. Aber du willst es wissen. Wir haben uns lange nicht gesehen, und es war eine Zeit — «
«Was meinst du damit — du weißt selbst nicht?«
«Es gibt Situationen, Entscheidungen, die man fällen muß … Aber es kam anders, und man ist überrascht. Vielleicht war man feiger, als man glaubte zu sein. Vielleicht dachte man ein ehrenwerter Mensch zu sein, der weiß, was sich gehört, und daß er gewisse Dinge niemals tun würde — und dann liest er doch heimlich in fremden Tagebüchern. — Wie war’s eigentlich bei meinen Eltern? Warum hast du sie besucht?«
«Ich habe dieses praktische Jahr gemacht, in einer Klinik. Eine kleine Klinik. Dort habe ich Dinge gesehen … Wir hatten keine Spritzen. Dann hatten wir sie doch: Patienten sind in den Westen gefahren und haben Spritzen, Verbandsmaterial von dort mitgebracht. Sie fahren in den Westen und kaufen sich ihre Insulinspritzen, die Kanülen von dort, damit wir sie ihnen hier geben können. Wir haben sozialistische Hilfe in einem Pflegeheim gemacht. Keine Schwestern da, die Alten lagen in ihren Windeln, die keiner gewechselt hatte. Einen Pfleger gab’s, der ging über die Stationen und sagte: Wer Westgeld hat, dem wisch’ ich die Scheiße ab. Sagte: Die alten Knacker kommen doch rüber, ich nicht. Es gibt Betten und ganze Krankenstationen nur gegen Devisen. Dein Vater hat das bestätigt. Er hat’s mir erklärt: Das Gesundheitswesen schafft ja keine Devisen, hat aber Auflagen vom Staat, der Devisen dringend braucht, und da müssen sie eben das verkaufen, was da ist — «
«Ja, davon haben wir in der Schule nichts gehört.«
«Swetlana ist in die Sowjetunion gegangen. Hier gäb’s kein Feuer mehr, nur noch Asche. Sie konnte es nicht mehr ertragen, die Müdigkeit überall, die Bürokratie.«
«Und das Feuer sucht sie nun bei den Freunden. Könnte sie Glück haben, welches zu finden. In Tschernobyl hat’s ja kürzlich ein schönes gegeben.«
«Du bist sehr zynisch geworden. So kenne ich dich gar nicht. Ich weiß, Swetlana … war speziell. Mir hat sie eher leid getan.«
«Ich glaube, sie hätte nichts dabei gefunden, Jens oder Falk anzuzeigen, wenn die so unvorsichtig gewesen wären, ihre wahre Meinung vor ihr zu sagen.«
«Kennst du Swetlana?«
«Sag’ bloß, das hätte sie nicht gemacht.«
«Sie hat dich geliebt.«
Christian schwieg.
«Du hast oft in der Schulbibliothek gelernt. «Reina lächelte.»Arrogant warst du wie ein Enterich. Und herablassend. Swetlana hat dir einen Liebesbrief auf die Staffeleitafel geschrieben, ich sollte ihn auf Rechtschreibfehler durchsehen. Ich fand den Brief irgendwie … unpassend. Für sie unpassend. So kniefällig und gleichzeitig lehrerinnenhaft … Kurz bevor du kamst, hat sie alles weggewischt.«
«Und jetzt ist sie in der Sowjetunion und hofft auf weniger Bürokratie. Oh ja.«
«Schnürchel hat ihr einen Studienplatz in Leningrad vermittelt, für Russischlehrer. Sie hat wohl auch jemanden kennengelernt. Ich habe trotz allem Achtung vor ihr, denn für sie ist das nicht nur … Redensart. Sozialismus. Und daß es allen Menschen gutgehen soll. Hast du dich nie gefragt, weshalb sie im Internat war — und ihre Familie im Nachbardorf? — Die Mutter Alkoholikerin, der Vater das gleiche — und hat geprügelt. Sie hatte sechs Geschwister, und für die war Swetlana die Mutter.«
«Und, warum erzählst du mir das? Was soll ich mit dieser sentimentalen Geschichte? Was willst du mir beweisen? Daß ich ein Arschloch bin? Komisch, das wollte Verena auch schon. Daß ich zu schnell mit meinen Urteilen bin? Hat schon mein Onkel angedeutet. Willst du mich erziehen? — Alle wollen sie immer nur — erziehen!«schrie Christian.»Erzieht euch doch selber!«Ein Tobsuchtsanfall war ein Aufbrechen, die Sprengung einer Kruste, Hitzesprudel schossen durchs Blut, eine finstere Elektrizität schien von einem Generator bis in die Fingerspitzen geschwemmt zu werden, lud sie mit Kraft und Wahn, spitzte den Blick auf ein einziges, mit einem Messerstich oder Faustschlag oder Axthieb zu erledigendes Ziel — vor dem Kompaniechef hatte Christian die Panzeraxt gehoben. Er spürte, wie der Anfall kam, auch dies ein Hoffmannsches Erbe, Richard konnte zum Fürchten jähzornig werden, Christian hatte Großvater Arthur gesehen, wie der in rasender Unzurechnungsfähigkeit mit einem Fleischwolf die Wohnzimmerscheibe einschlug, tobend, brüllend, Emmy hatte er mit Wäscheklammern beworfen. Christian zerrte Reina in einen Hausflur, biß sie in die Hand, küßte die Bißstelle dann. Die Achselhöhle! dachte er, du wolltest ihre Achselhöhle zuerst küssen! Daraus war nun nichts geworden. Im Hausflur lag Schutt, Putzreste hatten helle Rieselkegel auf dem Boden gebildet. Er mußte lachen, als er Reina protestieren hörte. Wie weich sie war, ihre Arme, ihre Wangen — so weich. Vom Hinterhof, wo die Mülltonnen standen, fielen Sonnensplitter ein, kamen aber nur bis zu einem völlig verrosteten Fahrrad. Blindwütiges Begehren. Mit ihr ausgehen. Mit ihr reden. Reina weinte. Er bemerkte, daß er den Beutel mit den Alpenveilchen gegen sie preßte. Irgendwo oben im Haus schlug eine Tür. Er stieß Reina von sich, sie rutschte langsam die Wand hinab, blieb kauernd, mit weggewandtem Gesicht, weinte aber nicht mehr. Er sah vor sich, wie er sich im Spiegel nackt betrachtet hatte: die pustelübersäte, ekelerregende Haut, die sich nach Berührung sehnte und sie fürchtete. Er trat ein Putzhäufchen flach, wartete, unschlüssig, was nun geschehen würde. Er würde wieder Entschuldige, bitte, sagen müssen, und dann gehen, hatte aber keine Lust dazu.
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