«Er wußte, daß ich zum Freundeskreis Musik gehe, Doktor Hoffmann, und daß ich mehrere Stunden weg sein würde, die Nachbarn über uns waren auch nicht da, und im Stockwerk darüber dürfte der Lärm schon nicht mehr so gut zu hören gewesen sein«, sagte sie, und pumpte die Blutdruckmanschette wieder auf,
«das Schreiben, der Brief«, sagte sie,
«Sehr geehrter Herr Hoffmann: Die Ampullen Alt-Insulin stammen aus dem Bestand der Chirurgischen Kliniken, klären Sie das doch bitte mit der Verwaltung und mit Oberschwester Henrike.
Liebe Edeltraut: Ich dachte mir, sie sollten die Wohnung nicht haben. Bezüglich der Beerdigung bitte keine unnötigen Umstände. Mit Herrn Pliehwe, VEB Dienstleistungskombinat, Bestattungsinstitut ›Erdenfahrt‹, habe ich die notwendigen Regelungen getroffen. In betreff Deiner Witwenrente wende Dich bitte ans Rektorat; Herr Scheffler wird Dir behilflich sein. Ich habe einundvierzig Jahre gute Arbeit geleistet. Als Kommunist und als Arzt. Das ist nicht der Sozialismus, von dem wir träumten.«
drehte die Stethoskopmembran, nahm die Ohroliven mit einer Hand ab, so daß sie zusammenprallten, pumpte die Manschette nach, ließ den Quecksilberstab im Druckmesser schrumpfen, hatte aber vergessen, sich die Ohroliven wieder einzusetzen, pumpte wieder, der Hakenverschluß der Manschette hatte sich gelockert, so daß sie sich asymmetrisch blähte,
«Und«, sagte Niklas, die Augen auf den kaputten Vitrinen, den zerschmetterten Glasblumen, dem Hammer, mit dem Müller die Kristalltropfenbehänge der Lüster auf dem Fußboden zerkleinert hatte,
«Neununddreißig Ampullen«, sagte Edeltraut Müller,»er hat sie in eine Urologenspritze aufgezogen, sehen Sie nur«,
gewiß der himbeerrote Wulst seiner Lippen, gewiß konzentriert die Augen, als er die Ampullen ansägte, ihnen, die Kompresse zwischen Glas und Finger, die Hälse brach, gewiß die Uhubrauen zusammengezogen, die lüpfende Bewegung des Fingers, kühles, professionelles Arbeiten, Alt-Insulin wirkte schnell,
«Sie haben gewartet, bis er in Rente geht«, sagte Edeltraut Müller,
Polizisten stakten über Glasreste, der diensthabende Gerichtsmediziner nickte Richard zu, der Edeltraut Müller auffing, bevor sie in die Scherben neben der Leiche ihres Mannes fiel.
Sollte ich jemals / diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, / so möge mich die harte Strafe der Gesetze / unserer Republik und die Verachtung / des werktätigen Volkes treffen
fahneneid der nationalen volksarmee
«Zügig!«Schlückchen nickte barsch; Christian und Pfannkuchen folgten ihm durch den leeren, durchgeblockerten Kompanieflur. Die Schritte hallten. Muska stand UvD, grüßte, die blauen Augen weit aufgerissen. Fern, dachte Christian, der ist schon weit weg. Für den sind wir schon unberührbar. Er summte leise vor sich hin.»Schnauze, Hoffmann«, befahl Schlückchen. Das Bataillonsgebäude lag öde, die Kompanien hatten Ausbildung. Draußen war das Licht so stark, daß Christian niesen mußte.»Zügig!«Schlückchen stieß ihn vorwärts wie etwas, vor dem man sich ekelt, das namenlosen Abscheu einflößt. Pfannkuchen brauchte er nicht zu ermahnen. Der war still geworden, das schiefe Grinsen war ihm vergangen. Auch er hatte etwas gesagt. Er hatte Christian die Axt aus der Hand genommen und» Aber recht hat er «gesagt. Unter anderem. Aus den Fenstern des Med.-Punktes grinsten Leute. Es roch nach Frühling; das frische Grün an den Bäumen tat den Augen gut. Auf dem Exerzierplatz ging es» Links um! Rechts um! Rechts schwenkt — marsch!«mit den neuen Soldaten, vom Technikpark drang Motorenlärm, vor der Küche wurden Essenkübel verladen.
Ermittlung . Übergabe an den Offizier vom Dienst im Stabsgebäude. In der ersten Etage warteten sie vor einer vergitterten Tür. Christian und Pfannkuchen wurden von einem Mann in Zivil getrennt verhört.
«Sie haben Ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden, Hoffmann. Sie sind ja noch jung.«
«Das Problem ist nicht, was Sie getan haben, sondern was Sie gesagt haben. Sie haben Vertrauen verletzt. Es geht hier nicht um den Tod des Genossen Unteroffizier Burre, der ist natürlich bedauerlich. Wir werden das untersuchen, das versteht sich von selbst. Aber hier steht das nicht zur Debatte! Das ist ein vollständig anderer Fall. Das untersuchen wir getrennt. Nein, Hoffmann, Sie und Ihr Kumpan Kretzschmar, den wir kennen, ganz gut kennen, Sie haben Bemerkungen gemacht. Sie haben uns verleumdet. Haben öffentlich unseren Staat angegriffen! Aber das kennen wir schon … Schädlinge. Alle beide. Sie haben Vertrauen verletzt und Zersetzung betrieben. Unseren Staat zu verleumden! Das ist das Schlimmste.«
«Sie haben uns öffentlich herabgewürdigt, Hoffmann. Das wird Folgen haben.«
«Wir kennen Sie auch, ach ja. Sie und Ihre nette Familie. — Ach, wissen Sie nicht? Na, Sie haben doch eine Schwester. Ihr sauberer Herr Vater geht fremd in seiner Freizeit. Das wissen Sie nicht. Aber wir wissen es. Der bumst Ihre Freundin, das Fräulein Kossmann. Aber von der ist Ihre Schwester nicht. Halbschwester, um korrekt zu sein. Sindse baff, was? Könnse mal sehen.«
«Glauben Sie nicht, daß wir Sie kennen? Im Wehrlager mit Besonderem Vorkommnis auffällig. Mit juristischen Winkelzügen vom Herrn Rechtsanwalt aus der Schlinge gezogen. In der POS schon auffällig. Auf der EOS haben Sie folgendes gesagt … Aber das ist ja klar. Moralisch verkommen. Und so was wie Sie lassen wir studieren, so was wie Sie mißbraucht unser Vertrauen! Ich wage es gar nicht in den Mund zu nehmen, was Sie gesagt haben. Das lesen Sie selber vor. Na los, zieren Sie sich nicht! Das etepetete Bürgersöhnchen rauskehren, was? Und ein Vorkommnis nach dem anderen bauen … Wir haben’s schriftlich, von Zeugen bestätigt. Na los, lesen Sie!«
«So was ist nur in diesem Scheißstaat möglich«, las Christian mit stockender Stimme.
«Da haben Sie Ihre Sprache plötzlich wiedergefunden, was? — Aber Sie sind ja noch jung. Es ist noch nicht alles verloren. Sie haben auf der EOS zusammen mit einer gewissen Fieber ein tolles Karl-Marx-Porträt angefertigt, im Karl-Marx-Jahr. Da zeigt sich die gute Wurzel bei Ihnen. Das ist der Einfluß Ihrer Mutter, die ja aus einer illustren Familie stammt. Das ist das Erbe Ihrer revolutionären Großmutter, die für die gerechte Sache gekämpft und gelitten hat. Da ist guter Wille vorhanden, da ist in Ihrem Blut noch nicht alles verdorben.«
Strafgesetzbuch § 220
ÖFFENTLICHE HERABWÜRDIGUNG
(1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft .
Die Wache führte Christian in Richtung Kontrolldurchlaß. Er verließ die Kaserne nicht; es ging in den Wachraum. Eine der Arrestzellen wurde aufgeschlossen. Christian sah: ein Viereck, dessen hintere linke Ecke von Sonnenlicht abgeschnitten war; eine hochgeschlossene Pritsche, ein Hocker. Christian drehte sich zum Posten um, aber der schüttelte den Kopf: Nicht sprechen. Der Posten schloß hinter Christian ab, er gab sich Mühe, nicht zuviel Lärm zu machen. Christian setzte sich. Die Wände waren mit schlammgrauer Ölfarbe gestrichen. IM BAU, dachte er. Nun bist du also hier. Was werden sie tun? Was wird passieren? Sie sagen nichts. Von draußen hörte er die Stimmen der Ausbilder:»Rechts um! — Links um! Im Lauf-schritt: marsch!«Stiefelgetrampel, hin und wieder ein gebrülltes Kommando.»Regiment: Achtung!«Da war der Regimentskommandeur gekommen, und der Offizier vom Dienst erstattete Meldung. Motorengebrumm. Von draußen, aus der Wache, das übliche Blabla vor und nach dem Wachaufzug, das Klirren von Metall, wenn sie die MPis, die Koppel, die Kochgeschirre ablegten. Abends grölten betrunkene Soldaten aus den Nachbarzellen.»He, Kumpel, warum haben sie dich eingebuchtet?«
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