Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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dann blieb der Motor stehen. Die Lenzpumpe gurgelte nach, dann verstummte auch sie. Das Licht raspelte, brannte aber weiter, Christian konnte die Konturen der anderen noch erkennen. Die Zurrstange der Kanone glänzte unnatürlich weiß. Das Wasser stieg langsamer, eine dunkle, wie mit knisterndem Zellophan bespannte Masse, friedlich begann es eine Splitter-Spreng-Granate zu verschlucken.

«Jan?«Der antwortete nicht.»Jan!«brüllte Christian. Der Richtschütze schüttelte den Kopf.»Kann ihn nicht sehen.«

«Neu starten!«

Niemand antwortete. Das charakteristische Aufrumpeln des Motors, nach dem Knall der Preßluftzündung, blieb aus.»Bergewelle einstellen!«Auch da rührte sich nichts. Dabei war es still, und die Wärme war jetzt angenehm. Wenn sie aussteigen mußten, dann so, wie sie es vorher geübt hatten, im Tauchkessel im Objektschwimmbad, eingeschlossen in einer gefluteten Stahlkammer, Schwimmbrillen und Rettungsgeräte aufgesetzt, atmend, panisch die anderen, nicht er, Christian Hoffmann, Sohn eines Schlossers und Unfallchirurgen. Die Geräusche unter Wasser kamen verzögert, hallten schläfrig nach, Schraubenschlüssel-Schläge dienten der Verständigung. Luke entriegeln, ruhig im wassergefüllten Zylinder nach oben steigen — keine Panik, das war das Wichtigste. Panik zerstörte alles, machte den geregelten Ablauf unmöglich. Den Algorithmus, hätte Baumann gesagt, der apfelbäckige Mathematiker aus Waldbrunn. Warum gerade der einem jetzt einfiel. Was war mit Burre los? Warum meldete er sich nicht? Christian bedeutete dem Richtschützen, nachzusehen. Der wies auf das kletternde Wasser, er saß nun bis an die Knie darin. Aber jetzt ging das Licht doch aus.

«RG-UF an. «Die Instrumente phosphoreszierten nach: Infrarotzielgerät, Funkskala, dieses blöde Thermometer, das der Richtschütze mitgebracht hatte und das gar nicht zur Standardausrüstung gehörte. Achtundsechzig Grad im Panzer. Sie mußten aussteigen. Er schlug gegen die Turmwandung, vielleicht hörte ihn jemand vom Bergeboot, vielleicht war der Schlepperkommandant erfahren genug, um zu sehen, was passiert war. Weiße Boje vorn, rote Boje hinten. Trossen auf die Unterströmungsseite legen, sonst werden sie gegen den Turm gedrückt und können sich verdrehen. Es war dunkel, aber er bekam Luft. Gerade jetzt fiel ihm ein Goethe-Vers ein. Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung, / Leuchtet aus dem Mittelherzen / Rot gesäumt, die Glut der Neigung. Chinesischdeutsche Jahres- und Tageszeiten. Er murmelte vor sich hin. Er hörte das Boot, jemand klopfte gegen das UF-Rohr. Christian klopfte zurück: wartet. Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, ein Fischer saß daran. Wenn Burre versucht hatte, durch die Ausstiegsluke unten in der Wanne rauszuklettern, konnte der Panzer ihn zerquetschen, wenn der Schlepper an der Bergetrosse zog –

«Liebe Reina: Danke für Deinen Brief. Vielleicht können wir uns sehen. Es hat einen Unfall gegeben. Mein Fahrer ist bei einer Übung verunglückt und im Lazarett gestorben. Ich habe eine Dummheit gemacht, meinen Kompaniechef angegriffen. Jetzt bin ich wieder in der Kaserne, weiß nicht, was sie mit mir machen wollen. Es ist möglich, daß ich Ausgang bekommen kann, denn fast das ganze Regiment ist noch auf Übung, und ich habe zwar offiziell Kompaniearrest, kenne aber den Schreiber recht gut, der die blanko unterschriebenen Urlaubsscheine verwaltet. Bitte sage meinen Eltern nichts. Viele Grüße von Christian«

56. Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte

«Salz fehlt.«

«Die schwache Seite. Hier. Entschuldige. Ich vergeß’ es immer. Ich hab’ dir drei Tassen Kaffee gekocht. Kannst ja stehenlassen, ich hab’ Mittelschicht.«

«Brauchst du das Auto? Wär’ mir lieb, wenn ich’s haben könnte. Kann ich nach dem Dienst noch zum Klempner fahren, die haben nun endlich neue Durchlauferhitzer bekommen.«

«Wenn du deinen Süza fertig hättest, könntest du damit fahren.«

«Suiza.«

«Es ist mir nicht ganz geheuer, was ihr beiden da oben treibt. Kriegen wir das Auto auch mal zu sehen?«

«Komm uns doch besuchen. Bring Robert mit, der interessiert sich dafür.«

«Der soll hübsch fürs Abi lernen. — Und der Stahl hilft dir, einfach so und ganz uneigennützigerweise? Weil er als Ingenieur den Süza liebt?«

«Bist du mißtrauisch.«

«Ich bitte dich nur um eins: Laß dich auf nichts ein. Denk’ an die Kinder.«

«Morgen, Reglinde.«

«Morgen. Kann ich ins Bad?«

«Bloß noch mal schnell Hände waschen, dann kannst du. Nimmst du bitte den Müll mit, wenn du gehst? Brauchst du was aus der Drogerie? Ich mach’ nachher Besorgungen.«

«Eigentlich bloß Zahnpasta, Anne. Danke. Ich fang’ heute ein bißchen später an, ich kann dir auch helfen.«

«Meine Güte, wer klingelt denn um diese Zeit.«

«Ich geh’ ran. — Morgen, Niklas. Brennt’s?«

«Morgen, Richard. Schalt mal Deutschlandfunk ein. Unser Radio hat’s entschärft.«

«Das aus Japan? Staatskapellen-Mitbringsel?«

«Morgen, Anne. Naja. Das von Sharp. Und wer repariert mir das jetzt. Horcht ma’ zu. — Schweinerei das. Uns sagense nischt, die krummen Hunde. Denken, wir kriegen’s nich mit. Die werden uns noch alle in die Luft jagen. Schönes Frühstück. Ä Käffchen könnt’ ich direkt vertragen.«

«Setz dich schon.«

«Morgen, mei’ Lindchen.«

«Morgen, Schnuff.«

«Und deine Affen, was sagen die dazu?«

«Die strahlen.«

«Vergiften werden die uns, sage ich euch. Vergiften, verraten und verkaufen. Bande. — Was haste denn heute, Richard?«

«Geplantes.«

«Naja, Routine eben. Bei mir auch, du. Geht wieder mal die Grippe um. Meno kommt nachher mal vorbei, hustet ä bissel, der Gute. — Na, ich mach’ mich mal wieder auf die Strümpfe, die fadenschein’schen. Danke für ’n Kaffee. Aber das mit dem Teerwagen is’ schon ä Ding, findeter nich? Soll Geheimpapiere bei sich gehabt haben. Raketen oder was. ’n U-Boot, wie’s die Welt noch nich gesehen hat. Gott, wenn ich jetzt rübergehe, stehen mir alle Öfen bevor … Schön warm habt ihr’s hier. Na, Ezzo muß den Ofen im Kinderzimmer selber machen. Aber Wohnzimmer, Musikzimmer … Der im Wohnzimmer macht’s nich mehr lange. Lungenfibrose, Finalstadium, würdsch sagen. Wenn ich mir vorstelle, daß da der Ofensetzer ran muß — ä Graus. Der Dreck, der Lärm!«

«Setz dich doch schon hin, Niklas, du machst mich ganz nervös mit deinem Auf- und Abgelaufe.«

«Danke, Richard, bin gleich weg. Aber wenn du noch ä Käffchen hättest … Man muß doch wach bleiben. Was Neues von Christian?«

«Das Regiment hatte eine Übung, Nachtalarm, und immer weiter ging’s.«

«Na, Anne, gräm’ dich mal nicht. Der Junge kommt schon durch. Schlägt doch konstitutionell nach Richard — und wie du das durchhältst, stundenlang OP, und Gutachten und deine Ambulanz, möcht’ ich mal wissen, mei’ Gutster. Ich hab’ übrigens wieder schöne Platten. Schöne Platten hab’ ich, sag’ ich euch. Müßmer wieder mal hören. Staatskapelle, Rudi Kempe, Strauss. Kolossal. Ganz kolossal.«

«Willst du nicht doch was essen?«

«Naja, wenn du mich so einlädst. Also, zu diesem Stück Kirschkuchen dort würd’ ich nich nein sagen. Das ist schon ä bissel ä Wunder, dei’ Kirschkuchen. — Sag mal, Richard: Der Müller, där is’ doch nu’ in Rente?«

«Offiziell ab ersten Mai, aber er hat schon seinen Ausstand gegeben.«

«Und da machst du jetzt ’n Chef?«

«Wo denkst du hin. Trautson ist kommissarischer Leiter der Klinik, bis die Berufungsprozedur durch ist. Ich hab’ mich nicht beworben.«

«Paß auf, daß sie dich nicht aufs Abstellgleis schieben. Ist ja manchmal so bei Wechseln. — Schweinerei, dieses Tschernobyl, wie mich das offregt! Solche Lüch-ner, solche Gänk-ster, nee, nee. Wo das noch hinführen soll. Sacht ma’? Wo soll das noch hinführen? Mei’ Lindchen, hier is’ noch ä Plätzchen.«

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