abladen, Fahrt, Kiefernzweige, Teile von Rätseln, bizarr, ungelöst. Die Elbe bei Torgau war wach, Christian hatte noch nie einen wachen Fluß gesehen, große Uhrenziffern trieben darin. Konnte Muriel ihn hören? Der Jugendwerkhof war hier irgendwo. Felder, mit Brandung gefüllt, berstend, knisternd, Fraß? Wind? Sprungbereit. Der Wind war schmierig, schwer, kleine Trödler aus Graphitfett drin.»Absteigen!«hieß es. Scheinwerfer. Spielten stricken. Die Elbe bei Torgau war ein wacher Fluß, ein Hokuspokusriese, nein: er flüsterte, frierend:»Horchpostenriese. «Mit faulenden Stiefeln. Ja genau, das war’s, Pfannkuchen schlenkerte Pißblumen auf den mit Vogelfedern bedeckten Boden: Bettwäschefabrik, (Inlett; von Emmy wußte er das Wort), in der Nähe. Der Fluß hatte Pupillen, eine nach der anderen. Dann wieder nicht mehr. Farbe? Schuhkremschwarz. Halt’s fest. Schlieren von Apfelfaulbraun, dort, wo die krepppapiergrauen Hexenringe hingepunktet sind. Waldhonig, auch so zäh. Bloß nicht kosten. Flappend, schluckend: Nachtigallenkästchenlack, so schwarz. Rausch, lausch: in der Sterndünung bröselnde Bäume, am flußabwärtigen Ufer, wo die Kompanie Stellung bezogen hatte. Horch! So ein Fluß lebt, schläft, träumt, verdaut, wälzt sich hin und her, lebt sein Riesenleben. Was hat er zu sagen?
Er spricht vom Korn.
Flüstert von den Schiffen, die er sah.
Die Schiffszieher, die stromauf die Lastkähne zogen an Treidelketten. Noch gab es die Wegsteine. Die Bomätscher sangen, den Singsang der Schiffszieher, der Elbe-, Wolga-, Rußlandtreidler. Ein Bild von Repin fiel ihm ein, Männer in zerschlissenen Kleidern, Graubärte und Flaumjungen, die in breiten Gurten hingen und das Schiff stromauf zerrten. Sie sagten: Was willst du? — Musik. Alleinsein und Schweigen. Die Musik des Flusses, das kehlige Murmeln durch die Zeiten.»Gehen, bis du frei bist. Das ist, was du willst«: schwatzte Christian, unbekümmert, ob ihn jemand höre. Der Fluß wollte nichts. Der Fluß war ein geschmolzener Magnet, ein barockes Schiff steckte darin und wollte vorwärts, aber die Algen, der Dreck, der Unrat der Städte schlickten um den Bug, wanden sich um die erdrosselte Schiffsschraube. Nicht vorwärts kam es, und es trieb nicht zurück. Voller Menschen war es, eine Stadt war es, man sah Häuser, Stromleitungen, die Eingeweide der Stadt. Dresden …, seufzte es in den Lüften, Dresden … gestrandetes Schiff, ewiggestrig, mit allen Fasern an der Vergangenheit haftend, die so schön nie war, wie du es schwärmst. Dresden … Christian trank einen Schluck Wasser. Bin ich ein Mensch? Was willst du? Niemanden interessiert, was du willst. Jetzt kommen Befehle, und du hast sie zu befolgen. Dann werden Befehle erwartet, und du hast sie zu geben. Was ist ein Befehl? Wieso gibt es überhaupt Befehle?
Der Fluß wußte es nicht. Er stank nach Zellulose und Rieselfeld. Nach Tischlerleim und verbrannter Tierhaut, nach dem marzipangelben Shampoo aus Wutha, den Waschpulvern aus Ilmenau und Genthin. IMI, Spee, Wofalor: nichts vergessen. Nichts vergessen! Die Elbe bei Torgau war ein kaputter Fluß; das Wasser war rostig, und wenn man einen Pfennig warf, schwamm er lange.
Christian suchte einen flachen Kiesel, eine» Butterbemme«, und versuchte sich: Viermal hörte er den Stein aufs Wasser klatschen. Fünfmal hätte es sein sollen, da siebenmal für den ersten Wurf (und nicht mehr geübt seit der Kindheit) unrealistisch gewesen wäre. Einmal zuwenig, dachte Christian. Einmal zuwenig ist ein gebrochenes Bein: sagte ein Spruch, den Anne aus ihrer Kindheit mitgebracht hatte.
Das Unsympathischste an einem Panzer war, daß er Geborgenheit vermittelte. Der Kompaniechef tigerte im Vorbereitungsraum hin und her, kontrollierte mit den Zugführern die Besatzungen, die ihre T55 für die Unterwasserfahrt, genannt UF, vorbereiteten. Christian hatte das schon zweimal mitgemacht, Pfannkuchen war Neuling, rannte immer wieder zu den Fahrern der Nachbarmaschinen. Die Elbe bei Torgau war ein breiter Fluß, und tiefer als einen Meter war sie auch, die Panzer konnten nicht mehr ohne Hilfsmittel durch. Die beiden Unterwasserfahrten, die Christian mitgemacht hatte, waren Taglichtfahrten gewesen; diesmal galt es die Durchfahrt bei Nacht, eine von allen Beteiligten gefürchtete Übung. Mehrere Scheinwerfer gaben Licht im Vorbereitungsraum, ein sandiger Platz inmitten einer Kiefernwaldung. Die Besatzungen arbeiteten hastig, innerhalb von dreißig Minuten hatten die Kommandanten ihre Panzer UF-tauglich zu melden. Was alles dazugehörte! Christian hatte viel lernen müssen; dies war zu wissen, jenes zu beherrschen; er war der Kommandant, auf dessen Befehle die Besatzung warten würde, wenn sie nicht weiterwußte. Er mußte weiterwissen. Er hatte Verantwortung für die Besatzung, und er hätte es sich nicht träumen lassen, je einmal in eine solche Zwickmühle zu geraten: den Panzer zu hassen, den Lärm, den Drill, die militärische Lebensweise — doch sie beherrschen zu müssen, weil er der Kommandant war. Technik, Wirkprinzipien (wieso darf ich einen Panzer nicht kalt starten, wieso muß der Fahrer den Diesel vorwärmen und, gibt es Alarm, notfalls im Schlafanzug in den Hangar rennen, um die Vorwärmelektrik einzuschalten?), Konspekte über taktische und strategische Probleme schreiben. Er war auch hier, bei der Armee, Teil eines Großen Plans, einer großen Rechenoperation vom Menschen; auch hier gab es die Worte Kollektiv (seine Besatzung war ein» Kampfkollektiv«) und Hauptaufgabe.
Er arbeitete mechanisch, erschrak, daß er unkonzentriert war. Er zwang sich, systematisch zu denken, Schritt für Schritt alles durchzugehen. Dichtungen an den Luken gegen die aus Moosgummi ausgetauscht? Richt- und Ladeschütze hievten als scharf umrissene Schatten das verpackte Fla-MG auf den Turm. Pfannkuchen war in seine Fahrerluke abgetaucht, Christian hörte das Aufsingen des Kursanzeigers, der die Geradeausfahrt unter Wasser ermöglichte. Er kletterte in den Kampfraum, schloß den Wasserablaß der Walzenblende, prüfte, ob der Verschlußkeil der Kanone geschlossen war. Zurrte den Turm und spannte die Dichtung des Turmdrehkranzes, die sich schon bei den vorangegangenen Unterwasserfahrten als einer der neuralgischen Punkte erwiesen hatte. Überprüfte und schloß den Filterlüfter neben der Kanone. Kontrollierte den Überlaufschieber an der Rückwand des Kampfraums, unter den schweren Splitterspreng- und Hohlladungs-Granaten.»Wozu braucht man den? Uffz. Hoffmann?«hörte er die Stimme seines Zugführers. — »Um in den Trieb eingedrungenes Wasser in den Kampfraum zu leiten und dort abpumpen zu können, Genosse Leutnant!«—»Und wieso darf im Triebraum kein Wasser sein?«—»Damit’s nicht in den Motor kommt, Genosse Leutnant!«—»Und wieso darf da kein Wasser rein? Irrgang?«Du bist der Schüler, und sie sind die Lehrer, hatte Christian während dieser Ausbildungsstunden manchmal gedacht — nur daß sie dich hier über 17-Scheiben-Trockenkupplung und Planetenlenkgetriebe ausfragen; eine Schule, das ganze Land ist eine Schule!» He, Pfannkuchen, Batterien voll?«»Wie ’n Seemann nach Landgang. Hab’ nachgedacht. Die Stenzels kenn’ ich doch. Voltigierreiterinnen.«
«Untere Druckluftflasche geprüft?«
«Hundertdreißig Kilopascal, reicht. — Kursanzeiger intakt, Genosse Muttersöhnchen.«
«Höhe, du Ohrli?«Grober Klotz auf groben Keil; wahrscheinlich grinste Pfannkuchen jetzt. Christian baute die Lenzpumpe ein.»Kettenabdeckbleche gesichert, Elefantenpräser gewechselt«, rief der Richtschütze zum Turmluk hinein. Elefantenpräser: die Mündungskappe auf der Kanone, ohne die Wasser in die Kanone laufen würde. Komische Worte lernte man hier. Ejektorplatte schließen, Trennwandlüfter öffnen. Wozu war der da? Ein merkwürdig an die schwarzen dreistrahligen, auf Gelb gedruckten Gift-Sonnen erinnerndes Fenster zwischen Kampf- und Triebwerksraum — ein Dieselmotor fraß Luft, und die bekam er unter Wasser nicht auf normalem Weg durch die Triebabdeckungs-Jalousien — die wurden abgedichtet —, sondern zog sie sich durch das Periskoprohr, das wie ein Schnorchel drüben auf der Ladeschützenseite angebracht wurde.
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