Aber er meinte es ernst. Und er fand auch einen Kompagnon — Arnold J. Reiter, den fröhlich ängstlichen Unglücksraben. Die beiden im Gespann waren eine Garantie für jedes Mißlingen. Nun wäre es tatsächlich notwendig gewesen, meine Bedenken einzubringen. Aber nun tat ich es nicht. Aus schlechtem Gewissen, weil ich glaubte, meinem Vater die Heimkehr verdorben zu haben, sagte ich zu allem, was mit Hot Club Vienna zu tun hatte:»Das ist eine tolle Idee. «Und ich konnte mich nicht darauf hinausreden, daß er ohnehin nicht auf mich gehört hätte. Das hätte er wahrscheinlich. Er hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen.»Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?«fragte er.»Es ist eine tolle Idee«, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich:»Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee. «Er zog ein Gesicht, als wollte er sagen: Das kommt von dir, nicht von mir, ich verhalte mich in dieser Frage neutral wie die Schweiz, aber ich bin stolz, daß ich einen Sohn habe, der logisch denken kann. Und klemmte meine Wange zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und streichelte über den Wulst.
Arnold J. Reiter war Schallplattenproduzent und Besitzer eines Aufnahmestudios. Das J stand für nichts, es sollte lediglich amerikanisch wirken. Er war dicklich und kurzhalsig und hypochondrisch, hatte einen glattzüngigen Witz und wuselte beim Reden mit den Fingerchen immer vor seinem Gesicht herum, als würde er etwas Winziges zusammensetzen. Er hatte Aufnahmen mit Fatty George und eine Sprechplatte mit Helmut Qualtinger produziert und One Night in Vienna , die erste Schallplatte meines Vaters. Arnold sagte bei jeder Gelegenheit, Jazz sei sein Leben, und als ihm meine Mutter einmal bolzgerade in die Augen starrte und fragte, was er genau damit meine, wurde er rot wie ein Ziegeldach und brachte kein Wort heraus. Wahrscheinlich aber, weil meine Mutter es war, die ihn danach gefragt hatte. Sie mochte ihn nicht. Aber das sagt wenig. Meine Mutter mochte fast niemanden, der mit meinem Vater umging (außer dem Schlagzeuger Philipp Mayer, den mochte sie sogar besonders gern, aber den mochte jeder). Wenn sich jemand für ihren Mann interessierte, argwöhnte sie Motive, die ihm schaden könnten. Ihre Abneigung Arnold gegenüber begründete sie damit, daß er die Platte versaut habe, weil er zu feige gewesen sei, Georg Lukassers eigene Musik aufzunehmen, und ihn statt dessen zur simplen Wiedergabe von ausgeleierten Standards gezwungen habe. Komisch, so eine Argumentation aus dem Mund meiner Mutter zu hören. Erstens hatte sie keine Ahnung, zweitens hatte Arnold meinen Vater sicher nicht gezwungen, sondern höchstens gebeten — allerdings in dieser zähen, weinerlichen Art, gegen die sich mein Vater nicht durchsetzen konnte. Feige war Arnold, da hatte meine Mutter recht. Er war mutig feige. Mutig, wenn er verkündete: Nächstes Jahr werde ich …; feige, wenn es hieß: morgen. Es wurmte ihn, daß er damals meinem Vater nicht die Klasse zugetraut hatte, die in London und New York sofort erkannt worden war. Und es wurmte ihn, daß nicht er es gewesen war, der die fulminanten Lassithi Dreams produziert und herausgegeben hatte. (Ebenso ärgerte er sich sein Leben lang, daß er zwar mit Fatty George und Helmut Qualtinger je eine Schallplatte aufgenommen hatte, aber nicht jene legendäre, auf der die beiden gemeinsam zu hören sind — Helmut Qualtinger spricht Texte von François Villon, die H.C. Artmann ins Wienerische übersetzt hat, Fatty George improvisiert dazu auf seiner Klarinette. Arnold hatte das Produkt mit der Begründung abgelehnt, Qualtinger sei wie ein Wiener Schnitzel, Fatty George wie eine Sachertorte, H.C. Artmann wie ein vorzügliches Erdäpfelgulasch, Villon wie eine Bouillabaisse, zusammengemischt komme einem das Kotzen.) Eine zweite Chance wollte er sich nicht entgehen lassen, also sagte er von nun an — genauso wie ich — zu jeder Idee von Georg Lukasser sicherheitshalber ja. Als Lokalität hatte Arnold ein ehemaliges Bierlager in der Taborstraße im zweiten Bezirk in Aussicht, das aus drei miteinander verbundenen Kellergewölben bestand. Arnold besaß etwas Geld, mein Vater besaß nichts. Mein Vater sprach mit Carl. Der ließ sich die Idee Hot Club Vienna in aller detailbesessenen Ausführlichkeit vortragen, inspizierte die Lokalität und erklärte sich zu unser aller, auch zu meines Vaters Erstaunen einverstanden, für eine beträchtliche Summe bei der Bank zu bürgen.
Carl:»Ich hatte ihn wegen seines Amerikajahres aus den Augen und auch, ich weiß das, aus dem Sinn verloren und war deshalb ungeübt im Umgang mit ihm. Sonst hätte ich wohl gemerkt, daß sein Entschluß, sich an mich zu wenden, für ihn der letzte Ausweg war, aus dieser Sache herauszukommen.«
«Du meinst, er hat gehofft, du sagst nein?«
«Ja, das meine ich. Er war endlich auch in seinem Kopf in Wien angekommen, und die amerikanischen Träume hatten sich verduftet. Aber er hatte bereits den Mund zu weit aufgemacht. Vor allem dir gegenüber. Das war für ihn die schlimmste Vorstellung: daß er seinen Sohn enttäuschen könnte.«
«Meine Mutter hat es ähnlich gesehen.«
«Hat sie das zu dir gesagt?«
«Ja. Nach seinem Tod. Auf unserem langen Spaziergang. Er habe sich am Ende seines Lebens so viel vorgeworfen. Weil er geglaubt habe, ich sei immer nur enttäuscht von ihm gewesen.«
«Das war nicht fair von Agnes, daß sie das zu dir gesagt hat. Nach seinem Tod.«
«Fair sicher nicht, aber vielleicht die Wahrheit.«
Die Wahrheit lautete: Mein Vater hatte das Interesse am Jazz verloren. Wahrscheinlich war er sich dessen gar nicht bewußt. So viele Einflüsse hatte er in Amerika in sich aufgenommen, die schwirrten alle durch seinen Kopf und durch sein Herz. Nicht nur mir gegenüber hatte er ein schlechtes Gewissen, vor allem seiner Musik gegenüber. Im magischen Weltbild meines Vaters anthropomorphisierte sich jedes Ding, wenn er erst eine Weile damit Umgang gehabt hatte, jedes Ding, jede Idee, jede Gewohnheit. Er ging einen bestimmten Weg, nahm eine bestimmte Straßenbahn, kehrte in einem bestimmten Kaffeehaus ein, trug Schuhe, Hosen, Jacken, Hemden bis zu ihrem Zerfall — warum? Weil bei einem Wechsel der Weg, die Straßenbahn, das Kaffeehaus, die Schuhe, die Hose, die Jacke, das Hemd gekränkt sein könnten. Er hatte schon einmal musikalischen Verrat begangen, nämlich an der Schrammelmusik seines Vaters; das hatte ihm lange zu schaffen gemacht. Und nun, das spürte er, kündigte sich ein neuer Verrat in ihm an: am Jazz. Er erzählte uns von so vielen Musikern, denen er in New York und auch während der Tournee mit Chet Baker begegnet war, mit denen er gesprochen, mit denen er gespielt, die er gehört hatte, deren Eigenarten nachzuahmen er auf der Gitarre versucht hatte, ob es sich um Joe Pass, den Zauberer auf der Gitarre, oder um Spieler auf anderen Feldern wie die verschollene Bluessängerin Memphis Minnie, die jeden Ton am Ende umstülpte, oder den Schlagzeuger Art Blakey oder um Thelonius Monk handelte.
Carl:»Er war enttäuscht von denen allen. Tief in seinem Herzen war er enttäuscht, daß er mit ihnen mithalten konnte. Er hatte erwartet, daß sie größer wären. Daß sie für ihn unerreichbar wären. Nun konnte er nicht nur mithalten mit ihnen, vielleicht war er sogar besser. Es war so, wie ich es ihm von allem Anfang an gesagt hatte. Nun hatte er es erlebt: Er gehörte zu den Besten. Damit hatte diese Musik für ihn jedes Hoffen und Bangen verloren. Sie bot nicht einmal Anlaß für seine Eifersucht. Sie ließ keinen Platz für den Traum. Dein Vater zählte sich nicht zu jenen Glücklichen, denen sich ein Traum erfüllt. Ergo: Wenn sich doch einer erfüllte, dann war er es nicht wert gewesen, geträumt zu werden.«
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