«Wie meinen Sie?«
«Es war ein Scherz.«
«Sie wissen«, sagte Pater Frederik,»die Kongregation ist ausschließlich an einem Wunder interessiert. Ein Wunder muß leider unbedingt sein.«
«Es war gewiß ein Wunder«, wiederholte Kuni Herzog.
3
Carl kommt in den Erinnerungen von Kuni Herzog gar nicht vor. Pater Frederik Braak ging davon aus, daß an jenem Abend nur die drei Frauen anwesend waren — Franziska Herzog, ihre Tochter Kuni und Edith Stein. Seine Tante, sagte Carl, habe das ihm gegenüber damit gerechtfertigt, daß die Erwähnung seiner Anwesenheit die Sache ihrer Meinung nach nur verkompliziert hätte. Was für eine Sache denn, habe er sie gefragt. Sie meine damit ihren Beitrag zur Seligsprechung des Fräulein Stein. Kuni Herzog schämte sich vor Pater Frederik Braak, daß sie und ihre Mutter ein Kind in ihre Eskapaden hineingezogen, daß sie in ihrem einsamen Egoismus keine Rücksicht genommen hatten. Sie fürchtete, damit die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente aufs Spiel zu setzen. Soll man im Prozeß um eine Seligsprechung jemanden als Zeugen vorführen, der nicht einmal die primitivste menschliche Verpflichtung, nämlich die gegenüber einem Kind, zu erfüllen gewillt oder in der Lage ist? Deshalb hat Kuni Herzog die Geschehnisse der Nacht» verkürzt«, wie sich Carl mit gekünstelter Bitterkeit kichernd ausdrückte.
«Übrigens«, eröffnete er seine Version der Geschichte,»ist Edith Stein nicht aufgewacht, weil sie im Schlaf die Not meiner Tanten gespürt hat. Das ist Quatsch. Sie ist aus dem gleichen Grund aufgewacht wie ich. Und ich war vor ihr unten.«
Carl erwachte von einem lauten Krach. Irgend etwas war umgefallen. Glas war zersplittert. Jemand schrie. Er lief über die Treppe hinunter, hinein in das langgestreckte Falsett von Tante Franzi, das nun das Haus erfüllte. Es drang aus dem Badezimmer. Hinter sich hörte er Fräulein Stein, sie rief seinen Namen. Sie war schnell in ihre Sachen geschlüpft, und während sie über die Treppe hinunterlief, knöpfte sie sich die Ärmel ihrer Bluse zu. Unten im Flur erwischte sie ihn, hielt ihn fest. Er solle sich nicht von der Stelle rühren, befahl sie ihm. Sie sprach knapp, bewegte sich kantig, als wäre sie in einem dienstlichen Einsatz und nicht erst vor einer halben Minute aus dem Schlaf gerissen worden.»Tu, was ich dir sage, ich werde dich brauchen!«Sie drückte ihn in die Nische, wo der Schirmständer stand. Hier solle er auf sie warten, legte ihren Finger auf seinen Mund. Sie riß die Badezimmertür auf. Carl sah das Entsetzen in ihrem Gesicht, und nun trat er doch neben sie und schaute ebenfalls ins Badezimmer. Das hohe Regal, in dem die Handtücher und die vielen Toilettensachen aufgereiht waren, war umgefallen und auseinandergebrochen, die Regalbretter lagen verstreut auf den Kacheln, dazwischen Scherben, Fläschchen, Cremedosen, Bürsten, Kämme, Wattebäusche, Seifenschalen, Lockenwickler, eine Brennschere. Tante Kuni stand nackt mitten im Badezimmer, ein Streifen Blut über der Brust, dem Bauch, der Leiste, wo er auf der nassen Haut ausebbte. Sie hatte ein Handtuch um einen Unterarm gewickelt, der Stoff war blutdurchtränkt, Blut tropfte auf den Boden. Die Badewanne war angefüllt mit rotem Wasser. Darin saß Tante Franzi, auch sie nackt, schreiend, einen Arm erhoben, aus dem Puls quoll Blut, färbte den Arm auf seiner ganzen Länge bis in die Achselhöhle. Als Tante Kuni das Fräulein Stein und neben ihr Carl im Schlafanzug sah, fing auch sie an zu schreien.»Mama! Mama! Mama!«schrie sie.»Helft der Mama!«Fräulein Stein schob mit dem Fuß die Regalbretter beiseite, warf Tante Franziska ein Handtuch zu.»Ruhe!«herrschte sie die beiden an. Sie hob zwei Glasfläschchen auf, die nicht zerbrochen waren, drückte sie Carl in die Hand.»Laß kaltes Wasser darüberlaufen!«Sie half Tante Franzi aus der Wanne, drückte das Handtuch auf ihren Unterarm.»Sind die Flaschen kalt? Füll sie mit kaltem Wasser auf!«Sie betrachtete die Wunden über den Handgelenken. Tante Kuni hatte nicht so tief in die Haut geschnitten wie ihre Mutter. Fräulein Stein preßte die kalten Fläschchen, die ihr Carl reichte, auf die Wunden.»Halten Sie das, drücken Sie das fest darauf, und heben Sie den Arm über den Kopf!«Tante Franzi hatte zu schreien aufgehört, sie setzte sich auf den Rand der Badewanne. Blaue Äderchen verästelten sich über ihre Oberschenkel; im Badezimmerlicht sah die Haut gelb aus. Tante Kuni setzte sich neben ihre Mutter, blickte apathisch vor sich nieder, auch sie den Arm über ihrem Kopf.
«Das hast du gut gemacht«, sagte Fräulein Stein zu Carl.»Weißt du, wo das Verbandszeug ist?«Auf dem Boden lag eine große Blechdose, auf die ein rotes Kreuz gemalt war.»Lauf vor die Tür, lauf schnell, hol zwei runde Kieselsteine vom Weg herauf. Schnell, so groß wie eine Kastanie, rund müssen sie sein, keine spitzen!«
Die Haustür war abgesperrt, der Schlüssel steckte nicht. Panik schoß in ihm hoch.»Der Schlüssel!«rief er.»Wo ist der Schlüssel?«Zwischen der Tür und dem Lichtkasten hingen Schlüssel, ein Bord voll. Er war zu klein, um sie zu erwischen. Er lief ins Eßzimmer, wo immer noch die Teller und Gläser vom Abend standen, schob einen Stuhl auf den Gang hinaus und pflückte alle Schlüssel von den Haken.»Ich weiß nicht, welcher der richtige ist!«rief er. Der erste paßte.
Draußen wehte die Augustluft lau an seine Schläfe, die Tanne, die dicht neben der breiten Steintreppe bis zum Giebel des Hauses emporwuchs, roch stark nach Harz, was ihm bisher nie aufgefallen war. Er wollte weglaufen. Nun war er sich nämlich gewiß, daß in dem Haus in seinem Rücken das Glück fehlte, über das man sich sonst überall freuen durfte. Er kniete nieder und wischte mit der Hand über den Kies. Es war zu dunkel, um mit den Augen die Steine zu unterscheiden. Er wußte nicht, wofür das Fräulein Stein zwei runde kastaniengroße Kiesel brauchte, aber er wußte, sie brauchte seine Hilfe.
Die Tanten hatten sich inzwischen ihre Bademäntel übergezogen. Ihre Hände waren wie rot lackiert, die Gesichter verschmiert. Auf dem Boden waren blutige Fußabdrücke, wäßrige Blutpatzen. Das Blutwasser in der Wanne rann ab. Auch die weiße Bluse von Fräulein Stein war blutverschmiert.
«Wasch die Steine ab, Carl Jacob!«sagte sie, und er tat es.
Sie wickelte die Steine in Gaze und drückte sie oberhalb der Wunden auf die Haut, dort, wohin Tante Franzi und Tante Kuni die Fläschchen mit dem kalten Wasser preßten. Die Blutung hatte nachgelassen, bei Tante Kuni kam gar kein Blut mehr. Fräulein Stein wickelte den Verband über die Steine und zog ihn straff an, erst bei Tante Franzi, dann bei Tante Kuni.
«Ich werde gehen und einen Arzt holen«, sagte sie.
«Tun Sie das nicht«, bat Tante Franzi matt.»Sie haben uns kolossal fachmännisch behandelt. Es genügt. Es genügt wirklich. Bitte!«
Als hätte sie das Haus requiriert, führte das Fräulein Stein die beiden Frauen in den Raum, der die Bibliothek genannt wurde, obwohl gar nicht besonders viel Bücher dort waren. Hier hatte sie in den letzten Wochen gemeinsam mit Tante Kuni Husserls Logische Untersuchungen gelesen. Sie befahl den beiden, sich auf das Sofa zu setzen.
«Haben Sie Wundbenzin?«
War nicht im Haus.
«Schnaps?«
Carl wußte, wo der war. In der Kredenz im Eßzimmer, unten links. Er holte eine Flasche Korn. Fräulein Stein löste vorsichtig die Verbände, wickelte die Steine in ein frisches Stück Gaze, goß Schnaps über die Wunden und zog die Verbände wieder fest. Nun reinigte sie Gesicht und Hände von Tante Franzi und Tante Kuni.
«Ist Ihnen kalt?«fragte sie.
«Ich schäme mich so«, sagte Tante Franzi.»Und Ihre schöne Bluse ist auch ruiniert.«
Fräulein Stein tat, als hätte sie es nicht gehört.»Kannst du Tee kochen?«wandte sie sich an Carl. Das konnte er nicht. Sie ging in die Küche, Carl folgte ihr. Sie stellte Wasser auf und suchte in den Schränken nach Tassen und Teepulver. Er hockte sich auf einen Küchenstuhl und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Er tat das mit Absicht, nämlich um ihr zu zeigen, daß er ruhig war, daß sie sich um ihn nicht zu sorgen brauche, daß sie sich auf ihn verlassen konnte und daß er auf ihrer Seite stand.
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