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Das Haus stand an einer sanften Anhöhe über den Mäandern des Little Missouri. Als ich es zum erstenmal vor mir sah — das war im später September 1984 —, war mein erster Gedanke: Hier möchte ich leben. Hier, dachte ich, würde ich gesund werden, an Leib und Geist und Seele und an meinen Erinnerungen. Das tiefbraune, im unteren Teil von der Sonne geschwärzte, an den Dachvorsprüngen bald laubrote, bald whiskyfarbene Holz versprach Behaglichkeit, Ruhe und Frieden in einem verschwenderischen Ausmaß, so daß ich für einen Augenblick überwältigt war von der Vision, endlich am Ziel angekommen zu sein — wobei ich bis eine Minute zuvor gar nicht gewußt hatte, daß ich überhaupt auf dem Weg dorthin unterwegs war. Das Haus war nach Osten, Süden und Westen von einer breiten, mit Zinkblech überdachten Veranda umgeben, über deren Balustrade im Winter Fenster eingesetzt werden konnten. Im Rücken reichte ein Mischgewächs aus Föhren, kanadischen Pappeln und Eichen nahe heran; die Bäume sollten das Haus vor den Blizzards schützen, die bereits ab November von Kanada herunterbrausten. Mitten auf dem hohen, spitzen Blechdach saß auf einer Stange ein rostiger Hahn, der sich aber längst nicht mehr nach dem Wind drehte. Das Haus war vor vielen Jahren eine Aufseherstation gewesen; es stand nicht weit von der Interstate 94, die von Dickinson nach Montana führte, und markierte nach Osten hin den Beginn des Theodore Roosevelt National Park in den Badlands von North Dakota.
Der Ausblick war überwältigend. So sehe die Hölle aus, nachdem das Feuer erloschen sei, erklärte mir mein Begleiter, Lenny Redekopp, und fügte mit einem ausgeliehenen Lächeln hinzu:»Was unter unserem gegenwärtigen Präsidenten ja nicht zu befürchten ist, jedenfalls nicht, solange Mrs. Kirkpatrick hinter ihm steht und ihm ins Ohr flüstert, was er denken soll. «Im Auto von Dickinson hierher hatte ich nicht geahnt, was ich zu sehen bekommen würde. Das Land brach plötzlich in sich zusammen; und kurz davor, in der horizontweit endlos scheinenden Prärie, die sich über hundert Kilometer und mehr von Bismarck bis hierher in einschläfernder Eintönigkeit erstreckte, war nichts zu ahnen, nichts davon zu sehen gewesen. Zwischen brandroten Felsstürzen, schwarzen Geröllhalden, wie von Riesenteufelskrallen ausgeschabt, weißen, grauen, gelben, blauen Felstischen, Felsköpfen, Felsnadeln, zwischen violetten und purpurnen Gesteinsschichten wie von altem Blut lagen karge Kräuterteppiche oder zogen sich Streifen mit hohen, scharfkantigen, dünenmäßigen Gräsern dahin und wuchsen vereinzelt Dornensträucher und langstielige Disteln, die jetzt im Herbst braun und verdorrt waren. Wir waren vom Freeway abgefahren und hatten nach einer knappen Meile auf einem Schotterweg das Haus erreicht. Unter uns schlängelte sich der Fluß durch seine grüne Umfassung, die Sandbänke schimmerten in der Sonne. Ich konnte nicht abschätzen, wie weit es vom Haus bis dort hinunter war.
«Wenn du einen Vierradantrieb hast, kannst du mit dem Auto hinunterfahren«, sagte Lenny.»Zu Fuß gehst du nicht mehr als zehn Minuten.«
Das Haus gehörte Lenny; er habe es vor Jahren vor dem Abriß gerettet und zu einem Überpreis erworben. Manchmal, leider viel zu selten, fahre er heraus, setze sich einen Hut auf den Kopf und spiele einen Nachmittag lang, er sei ein anderer. Lenny war liiert mit Toni — Frau Prof. Dr. Antonia Fasching —, die an der Universität in Dickinson deutsche Sprache und Literatur unterrichtete und ein Projekt zur Erforschung der Sprache der Rußlanddeutschen leitete, die sich vor hundert Jahren in der Gegend angesiedelt hatten — was eine akademische Verneigung vor ihrem lieben Partner sei. Lenny stammte nämlich von solchen ab; er war als Jugendlicher in den Süden gezogen, hatte ein Viertel seines Lebens in Arkansas Grundstücke und Häuser verkauft und war heute Angestellter der Kommune; was genau sein Arbeitsbereich war, wußte ich nicht; ich vermutete, daß sein Job dem eines höheren städtischen Beamten bei uns entsprach. Er hatte einen krummen, griesgrämigen Rücken und knickte beim Gehen etwas ein; er war ein witziger Kerl mit einer sprunghaften, sarkastischen Phantasie. Er habe, sagte er mir einmal mit eisernem Gesicht, nur aus einem einzigen Grund Arkansas verlassen und sein Lager wieder in North Dakota aufgeschlagen, weil nämlich dort unten laut Gesetz ein Mann seine Frau höchstens einmal im Monat schlagen dürfe, hier heroben aber ein versuchter Selbstmord als Mordversuch gelte und mit der Todesstrafe geahndet werde. In seiner Gegenwart verkrampfte sich ständig ein Lachen unter meinem Adamsapfel; ich mochte ihn gern. Toni wirkte dagegen alpin stramm und streßfrei humorlos; sie hatte freundliche Apfelbacken und war glücklich, mit mir in ihrem steirischen Dialekt sprechen zu dürfen; spickte dabei das Heimatliche dicht mit amerikanischen Ausrufen des Erstaunens, der Freude, des Übermuts und des Spottes —»Wow!«,»Yeah!«,»Marvelous!«,»Crazy!«—, ob es nun paßte oder nicht. Sie und Lenny seien schon seit zehn Jahren ein Paar, teilte sie mir stolz mit, aber sie lebten nicht zusammen. Ich merkte, sie erwartete, daß ich» Warum?«sage; ich sagte es aber nicht. Lenny sammelte alles, was mit den Indianern in North und South Dakota zu tun hatte — den Ojibwa und den Sioux und den Yanktonai-Sioux, wie er mir erklärte; er hatte einen Bildband über deren bemerkenswerte vergangene Kultur und das erbärmliche Leben, das sie heute führten, herausgegeben — auf der linken Seite früher, auf der rechten Seite heute —, den er mir am Weihnachtsabend 1984 im Tausch gegen Musicians gab. Nachdem ich am Ende meiner Vorlesungen vor Antonia von der Prärie und dem Himmel darüber geschwärmt und gesagt hatte, ich könne mir durchaus vorstellen, eine Weile hier in North Dakota zu leben und zu arbeiten, hatte Lenny vorgeschlagen, mir sein Haus im Nationalpark zu zeigen; wenn ich Interesse hätte, wolle er es mir gern für 150 Dollar im Monat vermieten, inklusive Hut, er komme ohnehin kaum noch dazu herauszufahren.
Das Haus war von der Veranda aus betretbar, es hatte nur einen Raum, in seiner Mitte stand ein hoher gußeiserner Ofen; über seinem Feuertor war ein Backrohr, von der Decke hing ein Drahtgitter, auf dem ich Wäsche und Schuhe trocknen konnte. Die Wände bestanden aus rohen Brettern und waren mit Häuten behängt, auf die indianische Ornamente gemalt und gebrannt waren. Ein grobgehobelter Tisch stand in einer Ecke, zu den Fenstern hin eine zusammengenagelte Sitzbank, zwei Holzsessel waren da und ein schmales Bett mit einer harten Matratze. Die andere Seite des Raumes bildete die Küche, hier hingen Regale mit Geschirr, ein Spülkasten mit einem Emailbecken war in eine Ecke eingelassen, darauf konnte man eine Arbeitsplatte legen, einen kleinen Eisschrank gab es und zwei elektrische Herdplatten. Strom erzeugte ein Dieselgenerator draußen auf der Veranda. Wasser gab es in der Hütte nicht. Man mußte mit einem Eimer fünfzig Meter in die Talsenke gehen, dort war eine Pumpe. Im Winter rate er mir, mich mit Wasser aus der Stadt einzudecken, sagte Lenny, sonst bleibe mir nichts anderes übrig, als in einem Topf Schnee zu schmelzen — falls Schnee liege, es sei nämlich auch schon vorgekommen, daß das Thermometer auf minus 30 Grad Fahrenheit gesunken, aber bis in den März hinein kein halber Daumen hoch Schnee gefallen sei. Außerdem, darauf müsse er mich aufmerksam machen, könne es vorkommen, daß bei sehr niederen Temperaturen der Diesel sulzig werde, in so einem Fall werde das Leben hier draußen doch ziemlich frugal. Toni schlug vor, daß ich über den Winter in ihr Haus ziehe; sie werde ein Gästezimmer für mich herrichten. Ich aber freute mich auf den Winter; ich nahm mir vor, unter allen Umständen in der Wildnis auszuharren. An die Außenwände der Hütte war Brennholz gestapelt; wenn ich ökonomisch umsichtig heize, werde es genügen, sagte Lenny. (In diesem Punkt irrte er sich übrigens gewaltig.) Der erste Stock des Hauses, der Dachboden, war leer und konnte nur über eine Leiter von außen erreicht werden. Er sei vom Erbauer wohl nur deshalb aufgesetzt worden, um eine schöne Proportion zu wahren und das Dach möglichst steil halten zu können, wegen der Schneemassen nämlich. Die Toilette war über einer Grube an die Veranda angebaut.
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