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Im Jänner konnte ich einigermaßen gewandt mit den Krücken umgehen. Ich ließ mich von einem Taxi zum New Calvary Cemetery nach Queens fahren. Mr. Albert hatte mir genau beschrieben, wie ich Maybelles Grab finden würde, und er hatte mir auch eine Kerze in einem roten Glas besorgt. Ich benötigte dennoch fast eine halbe Stunde, bis ich in dem scheinbar willkürlich aufgewürfelten Gräberfeld ihren Stein fand. Es waren zwei Steine. Auf dem einen stand» Maybelle Houston«, auf dem anderen» Lawrence Houston«; sonst nichts, kein Geburtsjahr, kein Sterbejahr, kein Segensspruch. Die Steine waren gleich — quadratisch, nicht höher als ein Knie —, Maybelles war etwas heller, sie standen dicht nebeneinander und ein wenig einander zugeneigt. Ich stellte die Kerze dazwischen und zündete sie an. Ich wußte nicht, welcher Religionsgemeinschaft Maybelle und ihr Mann angehört hatten, ob sie Lutheraner oder Presbyterianer, Baptisten oder Adventisten gewesen waren, vielleicht waren sie Mitglieder der African Methodist Episcopal Church gewesen — dieser Richtung hatte, soweit ich mich an Maybelles Erzählung erinnerte, jener Michael Jeremias Vincenc angehört, der sie in ihrer Jugend verdächtigt hatte, die Biographie über die Autorin von Onkel Toms Hütte stehlen zu wollen. Ich hatte beim Eingang keinen Hinweis, die christlichen Unterabteilungen betreffend, gefunden. Hier waren nur: Schnee, Steine und Himmel.
Der Himmel war klar, die Sonne blendete, eine eisige Brise strich vom Meer herauf, blies die Nase frei von allen NYC-Gerüchen. Vor mir wölbte sich der Friedhof zu einem sanften Hügel nach Westen hin. Über dem East River — den ich nicht sehen konnte — setzten sich die Grabsteine in den Wolkenkratzern von Midtown fort — im Riesenpult des Citicorp Centers, im Trump Tower und den Türmen von Radio City, dem Chrysler Building und dem Hyatt Hotel, in der Tafel des UNO Gebäudes direkt gegenüber am Ufer des Flusses, im Seagram Building und endlich, die Stadt überragend wie Zeltstangen, im Empire State Building und im Süden hinter dem Downtown Financial District in den Twin Towers des World Trade Centers. Ich erinnerte mich, daß ich in den ersten Tagen in New York von der Plattform des Empire State Building auf Manhattan hinabgeblickt hatte und mir die Insel wie ein gigantischer Friedhof erschienen war; und nun bestätigte sich dieser Eindruck in der Umkehrung des Vergleichs: nicht Manhattan war wie ein Friedhof, sondern der Friedhof war wie Manhattan. Und plötzlich wurde ich vom Glück emporgerissen. Die Arme flogen mir in die Höhe mitsamt den Krückstöcken, und mit ihnen hob ich mein ganzes Wesen empor. Liebe und Dankbarkeit drängten in mir nach oben und brachten eine unbändige Lebenslust, eine Überlebenslust und Sehnsucht mit sich. Ich will: erstens aus dem Morphium aussteigen und trainieren, trainieren, trainieren; zweitens mit dem Biertrinken aufhören; drittens mit dem Rauchen aufhören. Ich will: viertens diese Stadt verlassen und nie mehr hierher zurückkehren; fünftens zuvor noch meine Serie beenden (d.h. noch drei double-tales schreiben, insgesamt würden es also fünfzehn sein, nämlich genauso viele, wie geplant waren; und daß ein Mann aus Hinckley, Illinois, drohte, sein Zeitungsabonnement zu kündigen, würde mich nicht daran hindern, diesen Plan einzuhalten); sechstens ein neues Buch anfangen, einen Roman, in dem alles erfunden sein würde (das Wort» Roman «trieb mein Glück in eine Höhe, wie ich sie glaubte noch nie mit meinen Gefühlen bezwungen zu haben). Ich will: siebtens auf absehbare Zeit allein bleiben, mich nicht mehr in einen neuen Menschen verlieben, auf alle Fälle die Nächte allein verbringen und lesen, lesen, lesen ( Krieg und Frieden, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Der Mann ohne Eigenschaften, Joseph und seine Brüder, Die Brüder Karamasow , noch einmal Nostromo, Tom Jones, Wilhelm Meister, Der grüne Heinrich … — Alles, nur keinen Faulkner, keinen Dos Passos, keinen Nathanael West, keinen Flannery O’Connor, keinen Hemingway, keinen Mailer …). Ich will: achtens David und Dagmar einen Brief schreiben, Carl einen Brief schreiben, meiner Mutter einen Brief schreiben. Neuntens wollte ich nach Hause, und damit meinte ich: nach Wien, zurück nach Wien. Ich fühlte mich, als wäre ich aus dem Gefängnis — eigentlich aus dem Fegefeuer — entlassen; und ich wußte, daß ich das Andenken an Maybelle, die nur wenige Stiche unter meinen Füßen lag, damit sehr, sehr kränkte, aber so war es eben: der Brand dieses vorhöllischen Feuers in meinem Rücken breitete sich exakt über die Zeit aus, in der wir beide ein Paar gewesen waren. Ich ließ dieses Gefühl durch mich hindurchziehen. Ohne mit mir zu hadern.»Im Anfang Seligkeit, dann Schattentrauer. «So heißt es in Shakespeares 129. Sonett.
Einmal in der Woche kam Sarah Jane, um mit mir meine neuen Texte zu korrigieren. Auch Dr. Kupelian besuchte mich in meinem Zimmer in The Best of Chicken Bones — ein dünner, großer Mann mit einem blassen Gesicht, der einen eleganten Dreiteiler aus grauem Flanell trug und dazu schwarzweiße Cowboystiefel und der in nonchalanter Art über meine Zukunft sprach, als wäre sie rechtlich verpflichtend als eine glückliche von Marti Lipman garantiert. Tatsächlich brachte er einen Vertrag mit. Ich solle die Sache gut überlegen, sagte er, aber nicht allzulange. Am Abend lasen Mr. Albert und ich die zehn Seiten durch und besprachen Punkt für Punkt. Danach sagte er, ich dürfe ohne Skrupel glücklich sein. Ich hätte ihn gern gefragt, ob auch Maybelle und er irgendwann ein Paar gewesen waren.
Bevor ich den Vertrag unterschrieb, fragte ich Dr. Kupelian, ob der Verlag mir einen Vorschuß zahle. Er sagte, ich solle eine Summe einsetzen, und er würde sich mit dem Verleger darüber unterhalten. Ich schrieb: Als Vorschuß bezahlt der Verlag die Summe, die Sebastian Lukasser dem Memorial Hospital in Brattleboro, Vermont, und die Summe, die derselbe Dr. Michaelis schuldet. Dahinter setzte ich Telefonnummer und Anschrift der Spitalsverwaltung und die Adresse von Dr. Michaelis. Woraufhin Dr. Kupelian einen Lachkrampf bekam und sagte, der Verlag habe von sich aus mit einem Vorschuß von um die 80.000 Dollar gerechnet. Woraufhin Mr. Albert mich unterbrach und mit zitternder Stimme sagte:»In diesem Falle möchte ich feststellen, daß Mr. Lukasser 100.000 Dollar verlangt. «Woraufhin Dr. Kupelian den Westernhelden mimte, schmale Augen machte und den Mund verzog, mit dem Finger auf Mr. Albert zeigte und mit John-Wayne-Stimme sagte:»It’s okay, you go ahead and do it«— und mit lockerer Hand genau diesen Betrag eintrug. Nachdem er sich verabschiedet hatte, umarmte ich Mr. Albert, und wir lachten lange und laut und hatten Spaß bis spät in die Nacht hinein.
Im März erhielt ich eine Einladung des Germanistischen Instituts der Miami University in Oxford, Ohio. Man bat mich, einige meiner Geschichten vorzulesen und mit den Studenten darüber zu diskutieren. Ich sagte zu — und blieb zwei Monate.
In New York wartete eine weitere Einladung auf mich, vom Germanistischen Institut der State University in Dickinson, North Dakota. Dort lehrte eine Österreicherin aus Leoben die deutsche Sprache; sie habe, schrieb sie, Woche für Woche meine Geschichten gelesen und wünsche sich, daß ich ihren Studenten etwas erzähle. — In North Dakota nun blieb ich vom Herbst 1984 bis zum Herbst 1985 — bis ich von Carl jenen Brief erhielt, in dem er mich darum bat, nach Österreich zu kommen, weil sich im Leben meiner Mutter eine tiefgreifende Veränderung abzeichne.
(Zu den ersten drei Punkten meiner Wunschliste auf dem New Calvary Cemetery in Queens möchte ich anmerken: Die Morphiumabhängigkeit machte mir damals in der Tat schwer zu schaffen. Nachdem Dr. Michaelis verschiedene Morphinderivate ausprobiert hatte, weil er irrigerweise meinte, so könne die Abhängigkeit gemildert und bald überhaupt überwunden werden, wechselte er, als ihn mein Verlangen nach immer höheren Dosen aus diesem Konzept brachte, erst zu einem Piritamid-, dann zu einem Pentazocin-, zuletzt zu einem Dextromoramidpräparat, bevor er auf Methadon umstieg. Schließlich geriet meine Behandlung völlig aus dem Ruder, und er kehrte zu Hydromorphin zurück. Inzwischen konnte ich längst ohne Krücken gehen; das einzige, was von dem Unfall zurückgeblieben war, war ein leichtes Schlenkern des rechten Beins — eben der sogenannte Steppergang. Ich hatte eigentlich auch keine Schmerzen mehr, und hätten wir von Anfang an einen vernünftigen Ausstieg durchgezogen, wäre ich wahrscheinlich medikamentenfrei gewesen und hätte bei Wetterumschwüngen mit Aspirin oder Paracetamol mein Auslangen gehabt. So zog sich meine Morphinsucht fast über ein Jahr hin, am Ende verschaffte ich mir Spritzen und Heroin über einen Dealer bei der Hühnerbraterei; dazu kam, daß ich nun auch noch Barbiturate nahm, weil ich unter Schlafstörungen litt. Im Sommer setzten Panikattacken ein, und ich stürzte in eine schwere, allein durch diesen abenteuerlichen Drogen- und Medikamentenmix ausgelöste Depression. Dr. Michaelis verschrieb mir Amitriptylin, das mir jede Libido nahm und mich wie ein Zombie durch die Tage schlurfen ließ. Um den Hang-over-Effekt abzufedern, nahm ich Aufputschmittel, schließlich Kokain, das ich unter das Heroin mischte und mir spritzte. In der Nacht konnte ich nun erst recht nicht schlafen, und am Tag war es mir nicht möglich, auch nur eine halbe Stunde lang bei einer Sache zu bleiben. In North Dakota endlich unterzog ich mich einer radikalen Selbstentwöhnung, die übrigens auch das Zigarettenrauchen mit einschloß — ein Horrortrip, der eine knappe Woche dauerte. Heroin, Kokain und den anderen Shit wurde ich los; aber nach drei Monaten fing ich wieder zu rauchen an. Noch etwas: Es mag einigermaßen komisch klingen, wenn ich mir auf dem Friedhof vor Maybelles Grab wegen meines Biergenusses Sorgen machte, größere Sorgen sogar als wegen des Morphiums. Ich hatte in meinem Leben bis dahin so gut wie nie Alkohol getrunken, und nach diesem Friedhofsbesuch nie wieder etwas angerührt. Der Mensch kennt seine Süchte, noch bevor er ihnen begegnet, heißt es, und ich habe sehr deutlich gespürt, daß in diesen harmlosen Budweisers eine Gefahr schlummerte, die genetisch in mir verankert ist und der ich, im Gegensatz zum Morphium, nicht nur wenig, sondern innerhalb kürzester Zeit gar nichts entgegenzusetzen gehabt hätte.)
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