«Schön«, sagte ich,»nun gilt unsere Vereinbarung nicht mehr.«
«Du hältst dich nicht daran«, antwortete sie prompt,»eine Vereinbarung gilt nur, wenn sich beide Seiten daran halten.«
«Aber du«, sagte ich,»du hast das Steinchen geworfen!«
Und Maybelle:»Ich halte mich innerlich daran, du nur äußerlich.«
Wir besuchten Attila, blieben zwei Tage. Wir machten Musik. Spielten Back Door Man , ich am E-Baß, Attila an der Gitarre, Maybelle hat gesungen — Attila hat die Aufnahme mitgeschnitten, ich habe sie, während ich dies schreibe, vor mir liegen. Am dritten Tag fuhren wir gegen Abend los. Mehr weiß ich nicht. Als ich aufwachte, lag ich im Memorial Hospital von Brattleboro. Mein Becken war zertrümmert. Maybelle war tot.
Frau Mungenast berichtete, daß die Buben, die bald nach Dreikönig angefragt hatten, ob sie den abgeschmückten Christbaum haben dürfen, auf dem Stoppelfeld vor dem Dorf einen großen Reisighaufen aufgeschichtet hätten, den sie zum Abend hin anzünden wollten; was ihnen auch erlaubt worden sei; die Frau an der Kasse beim ADEG habe gesagt, wer weiß, vielleicht entwickle sich ja ein neuer Brauch daraus. Carl wollte, daß ich ihn am Abend zu den Feldern schiebe, er könne sich das Feuer nicht entgehen lassen, sagte er. Er dürfe ja nicht hoffen, noch lange genug zu leben, um die Frühlingsfeuer um Ostern herum zu riechen. Er sei bereit, als erster diesen neuen Brauch zu akzeptieren. Gleich aber fragte er mit einem erschrocken besorgten Blick zu mir:»Würdest du deine Geschichte gern vor einem Reisigfeuer im Freien zu Ende erzählen wollen?«
«Nein«, sagte ich,»diese Geschichte nicht.«
«Dann müssen wir auf das Feuer verzichten«, wandte er sich an Frau Mungenast.»Gehen Sie, und stellen Sie sich in den Qualm, ich werde an Ihrem Mantel schnuppern.«
1
Maybelle sei am Steuer gesessen. Ich erinnerte mich nicht. Becky erzählte es mir. Sie hatte es von der Polizei. Ein entgegenkommender Wagen habe uns gerammt. Der Fahrer wurde dabei schwer verletzt; er war betrunken. Becky erzählte, ihre Mutter sei auf der Stelle tot gewesen. Es könne sich gar nicht anders zugetragen haben, hatte ihr die Polizeibeamtin erklärt, die wenige Minuten nach dem Unfall zusammen mit ihrem Kollegen am Unfallort eingetroffen war.»Mum hat nicht gelitten«, sagte sie. Sogar in meinem benebelten Zustand erschien mir das wie eine allgemein anerkannte Formel dafür, daß jemand eben doch gelitten hatte.
Becky hielt meine Hand, während sie sprach. Sie hatte sehr rote lange Fingernägel; vielleicht waren sie ja aufgeklebt und aus Kunststoff; man kriegt das nicht hin, daß echte Nägel bei dieser Länge gerade bleiben. Sie habe mir das alles bereits erzählt, sagte sie mit sanfter, empathischer Stimme; zweimal sogar habe sie es erzählt; beim erstenmal sei Gil dabeigewesen. Ich konnte mich an nichts erinnern. Und wer Gil war, fiel mir auch erst nach zwei, drei Atemzügen wieder ein. Gil sei nur einen Tag in Brattleboro geblieben, sei gleich wieder zurück nach New York gefahren, mit dem Bus, um alles für die Beerdigung zu organisieren.
«Man glaubt es ihm nicht«, sagte sie und lächelte dabei.»Weil er ein Boxtrainer ist und einen Gym besitzt, meinen die Leute, er muß auch gut trainierte Nerven haben.«
Und dann weinte sie.
Daß ich mich an nichts erinnern könne, sei ein großer Vorteil für mich, klärte mich einer der Ärzte später auf, und ein zweiter Arzt sagte das gleiche; so würden mir posttraumatische Komplikationen vielleicht erspart bleiben. Was sie damit meinten? Belastungsstörungen wie Angstzustände, Depressionen und so weiter. Was sie mit» und so weiter «meinten? Sprachstörungen, Schlafstörungen, motorische Störungen — ein weites Feld, bei jedem anders, der Mensch ist verschieden.
Der Fahrer, der den Unfall verursacht hatte, sei auch hier, sagte Becky. Er liege im Koma. In welchem Zimmer wisse sie nicht. Das werde vor den Angehörigen des Opfers geheimgehalten. Auch den Namen kenne sie nicht. Der werde ihr auf alle Fälle mitgeteilt, irgendwann, nur jetzt noch nicht. So jedenfalls habe sie die Beamtin verstanden. Sie hoffe, daß der Mann nicht mehr aufwache. Nicht, weil sie ihm den Tod wünsche, bestimmt nicht. Er sei so schwer verletzt, daß er wahrscheinlich nie mehr richtig werde. Das habe ihr ebenfalls die Polizistin verraten. Eigentlich dürfe sie das ja nicht. Sie habe es gesagt, um sie zu trösten, das sei ihr schon klar, sagte Becky.»Sie denkt, ich wünsche ihm den Tod, weil er meine Mum getötet hat. Aber ich wünsche niemandem den Tod. Und ich wünsche ihm auch nicht, daß er ein Krüppel wird oder nicht normal im Kopf. Wahrscheinlich wird er sterben.«— Da wußte ich bereits nicht mehr, von wem Becky sprach.
Ich erinnerte mich in den ersten zwei Tagen nicht einmal daran, daß Maybelle und ich in Townshend bei Attila Zoller gewesen waren. Nicht einmal, daß wir aus New York weggefahren waren. Als mir der Arzt — bereits zum wiederholten Mal — sagte, ich läge im Memorial Hospital in Brattleboro im Bundesstaat Vermont, hatte ich keine Ahnung, wie ich hierhergekommen sein könnte, und erst mußte ich sogar überlegen, was Vermont sei, und als mir das einfiel, wo es liege. Ich fühlte mich, als wäre ich zu Hause, das hieß für mich, in Wien; vielleicht sogar, als wäre ich noch nicht vierzehn. Daß es in meinem Leben einen Menschen gab, der Maybelle hieß und den ich liebte, war in dem engen Raum, den der Schock mir gelassen hatte, als Gedanke für eine kleine Frist der Gnade nicht zugelassen. Ich hätte Deutsch mit ihm gesprochen, erzählte mir der Arzt später. Die retrograde Amnesie werde allmählich nachlassen, mein Gedächtnis werde sich Schritt für Schritt an den Moment des Aufpralls herantasten, aber kurz davor doch zurückschrecken, irgendwelche Bilder freizugeben. Und so werde es bleiben für immer. Ich fühlte mich gut. In der Mitte des Körpers spürte ich ein dumpfes Zerren, wenn man es so nennen kann, eine hintergründig schmerzhafte Schwere, die mich sanft, aber bestimmt ins Bett drückte. Zugleich erzeugte dieser Schmerz in mir das angenehme Gefühl, keine Rechenschaft ablegen zu müssen — über mich nicht und auch über sonst nichts, auch nicht über meine Gleichgültigkeit allem Menschlichen gegenüber. Mein rechtes Bein pochte; es war in eine Vorrichtung gebettet, an deren Ende Gewichte hingen. Im Gesicht spürte ich ein feines Stechen, als würde ein Nadelkissen auf Stirn und Wangen gepreßt; das rühre von Splitterverletzungen her, harmlos. Die Braue über meinem rechten Auge war aufgerissen und gequetscht worden und habe genäht werden müssen. Dort würde mir eine kahle Stelle bleiben und eventuell eine schmale, attraktive Narbe zur Stirn hinauf. In meiner linken Armbeuge steckte eine Infusionsnadel, über die sickerte Morphium in mein Blut.
Am zweiten Tag nach meiner Operation begann ich zu fragen. Ich fragte Becky, wer sie sei. Die Ärzte hatten sie aufgeklärt, daß Patienten wie ich irgendwann anfangen, ihre Umgebung zu interviewen; daß sie die Antworten aber sofort wieder vergessen. Das dauere einen Tag oder zwei. Plötzlich setze das Begreifen ein. Das hieß, ich begriff, daß Maybelle tot war.
«Woher weißt du, wer ich bin?«fragte ich Becky.
«Mum hat es mir erzählt«, sagte sie.»Sie hat mir erzählt, du bist der liebste Mann, den sie nach meinem Vater kennengelernt habe.«
Trotz des seligen Gifts, das über meinen Arm in mein Gehirn floß und mich mit allem einverstanden sein ließ, glaubte ich ihr nicht, und ich dachte, so hätte Maybelle nie gesprochen, und auch diese Frau hier würde nicht so sprechen, wenn sie sicher wäre, daß ich bereits über dem Berg sei. Becky war groß und ein bißchen dick und nicht so dunkel, wie ihre Mutter gewesen war. Wie eine Komikerin kam sie mir vor; wahrscheinlich, weil ihr Mund so voluminös und beweglich war; wie der Mund von Rotkäppchens Großmutter. Sie strömte einen linden Veilchenduft aus.
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