Für fünf Dollar trug ich eines Tages Kartons mit aus der Mode gekommenen Kleidern und Hosen von einer Boutique an der Avenue of the Americas Ecke 10. Straße zu einem katholischen Sammelplatz für Altkleider in einem pseudoklassizistischen Kasten an der 14. Straße, Ecke Broadway, also gerade etwa zweihundert Meter weit, und dort wurde ich von einer Schwester in hellblau-dunkelblauer Tracht gefragt, ob ich für vier Dollar in der Stunde an den Waschmaschinen aushelfen möchte, was ich fünf Wochen lang tat, bis ich irgendwann nachts auf dem Heimweg mitten im Washington Square Park stehenblieb und in den Himmel blickte, wo tatsächlich Sterne zu sehen waren, und mich die Frage anfiel, ob ich mein Leben mit solchem unbedarften Quatsch vertrödeln wolle, nur um mich wie ein von John Dos Passos erfundener Held zu fühlen …
Schließlich hatte ich meiner Schüchternheit keine Chance mehr gelassen und an der Rezeption meiner jämmerlichen Bleibe, die nicht einmal einen Namen hatte und in der ich und Mr. St. Paul inzwischen die längstdienenden Gäste waren, Maybelle Houstons Nummer gewählt, die sie mir bei der Streetworker-Party in Perlschrift unter ihren Namen in mein Notizbuch geschrieben hatte.
2
Maybelle arbeitete inzwischen nicht mehr in der Rehabilitation. Und auch mit dem Boxsport wollte sie nichts mehr zu tun haben. Die Trainingstermine verwaltete ihre Tochter Becky, für die Buchhaltung bezahlte ihr Schwiegersohn einen Steuerberater aus Williamsburg, denselben, der sich auch um die monetären Angelegenheiten der Streetworkerorganisation kümmerte. Maybelle besorgte den Haushalt der Glancys, und weil die Putzfrauen, die in den Trainingsräumen putzten, in einem Aufwisch auch die Böden in der Wohnung mitnahmen und Becky und Gil wenigstens dreimal in der Woche auswärts aßen, blieb ihr viel Zeit für sich selbst —»die ich«, wie sie sich später mir gegenüber ausdrückte,»verwende, um mich vom Fundament aufwärts zu renovieren, und zwar innen ebenso wie außen und ganz innen.«
Wir verabredeten uns in einem Café in der Bleeker Street in der Nähe meines Hotels. Sie komme mit dem Taxi aus Brooklyn; es sei besser, wir träfen uns in meiner Gegend, hatte sie am Telefon gesagt, als daß ich mich in ihrer verirre und vielleicht für immer verloren sei; und hatte dabei so weich gelacht, daß mir war, als spinne mich aus dem Hörer heraus eine seidige Heimeligkeit in einen Kokon ein, und ich dachte, nun wird doch noch alles gut und, wer weiß, vielleicht sogar besser. Ihre Stimme hatte nicht verwundert geklungen, als ich meinen Namen sagte, und als ich ihr erklären wollte, woher wir uns kennen, daß mich Dr. Abraham Fields ihr vorgestellt habe, hatte sie mich gleich unterbrochen und gesagt:»Luke, ich weiß doch, wer du bist!«Als hätte sie auf diesen Anruf gewartet, jedenfalls mit ihm gerechnet. Ich war eine Stunde vor der verabredeten Zeit im Café, schrieb Sätze in mein Notizbuch, die erste Sätze einer Erzählung hätten sein können, in der Hoffnung, aus dem ersten entstehe irgendwann einmal ein zweiter und ein dritter Satz, der vielleicht schon eine Ahnung in mir aufkommen ließe, was für eine Story hier erzählt werden wollte — aber ich konnte mich nicht konzentrieren, ich war zu aufgeregt.
Maybelle winkte mir von der Straße aus zu, als sie das Taxi bezahlte, marschierte stracks durch das Café zu meinem Tisch und sagte:»Schade, daß Abe nicht mehr lebt, er hätte uns beide so gern verkuppelt.«
Sie sah sehr gut aus; noch kraftvoller, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie trug dunkelgelbe hohe Schuhe und ein dunkelgelbes Kleid mit Spaghettiträgern, außerdem ragten ihre Fingernägel gute drei Zentimeter über die Fingerkuppen, was ja wohl signalisieren sollte, daß sie für körperliche Arbeit nicht zu haben war. Später erklärte sie mir, sie kaufe sich niemals Röcke, fast nur Kleider, jedenfalls seit ihrem vierzigsten Lebensjahr, weil sie nämlich so stolz auf ihre Figur sei, und die mache ab Vierzig in einem Kleid einfach mehr her als in T-Shirt und Hose. Ein Kleid sei um so vieles raffinierter, denn was der Betrachter bei einer Hose im Geist abziehe, rechne er bei einem Kleid dazu. Außerdem liebe sie die Einfarbigkeit, die koste zwar meistens ein Stück mehr, aber man steche von den anderen ab, und genau das wolle sie: Ich bin ich, und du bist du. Jeder Mann, jede Frau hatte sich zu ihr hingedreht, als sie das Café betrat, und sie hatte die Blicke entgegengenommen, wie mir schien, mit einem Zug von Trotz um den Mund, als hätte sie sich diese Huld in einem langen Verfahren erstritten. Es war spätsommerlich schwül draußen, die Türen zur Straße waren ausgehängt, die Klimaanlage bewirkte nicht mehr, als daß sich die Farne, die hier auf Messingständern zwischen den Tischen wucherten, an den Spitzen ein wenig bewegten. Maybelles Oberarme glänzten von Schweiß, und als ich ihr eine von meinen Marlboro anbot und sie mir das Feuerzeug reichte, konnte ich einzelne Muskelstränge unter der Haut wahrnehmen. Ich roch ihr Parfüm, und mir fiel ein, daß Abe erzählte hatte, sie verwende ein bestimmtes, durchaus billiges Rasierwasser, das an ihr jedoch einen unnachahmlich zauberhaften Duft entwickle.
«Warum lachst du, Luke?«fragte sie.
«Mir ist gerade eingefallen, was Abe über dich gesagt hat.«
«Ihr habt also über mich gesprochen?«
«Sehr ausführlich sogar.«
«Und was hat er dir erzählt? Daß ich sein Gottesbeweis sei?«
«Das auch, ja.«
«Hast du auch ein so gutes Gespür dafür, was eine Frau ärgern könnte, Luke? Siehst du in mir ebenfalls eine Art von Gottesbeweis?«
«Also, darüber habe ich bis jetzt noch nicht nachgedacht, Maybelle, wirklich nicht.«
«Ich bringe dich in eine Zwickmühle, stimmt’s? Wenn du ja sagst, bist du genauso mies wie Abe, wenn du nein sagst, bist du uncharmant. Das will ich nicht, Luke. Reden wir von etwas anderem. Was kann ich für dich tun?«
Obwohl wir uns ja erst einmal gesehen hatten — woran sie sich angeblich kaum erinnerte —, sprachen wir bereits nach wenigen Minuten miteinander, als bestünde zwischen uns seit je die unbeschwerteste Vertraulichkeit; und wer uns beobachtete, wie wir auf dem Sperrmüllsofa saßen, der mußte uns für enge Freunde halten, die sich erst vor zwei Stunden zum Lunch getroffen hatten und hier bei einem Kaffee ihr Gespräch fortsetzten. Es schien, als wäre ich Maybelle vertraut wie ein Freund; und sie war mir ebenfalls vertraut, ja, viel mehr vertraut, als jede Vernunft zuließ; sie war seit unserer ersten Begegnung immer wieder als eine Art erotische Wiedergängerin in meine Gedanken eingekehrt; und auch das Wort Wiedergängerin ist nicht so deplaziert, wie es den Anschein haben mag, denn ich hatte an sie gedacht wie an jemanden, der für immer verloren ist und der doch immer wieder und in Augenblicken, in denen man es am wenigsten erwartet, plötzlich vor einem steht, wenn auch nur in der Phantasie. Einmal hatte ich tatsächlich von ihr geträumt; und dieser Traum hatte mich erschüttert und im weiteren meine Gedanken an sie nicht nur eingetrübt, sondern eine Zeitlang sogar zu etwas mir Widerlichem werden lassen. Dagmar und ich — so die Erzählung des Traums — betraten unsere Küche in der Danneckerstraße und sahen eine Frau auf dem Fußboden liegen. Die Frau war schwarz, sie lag auf der Seite, so daß wir ihr Gesicht nicht erkennen konnten, sie war nackt, und wir wußten nicht, ob sie lebte oder ob sie tot war. Als wir uns über sie beugen wollten, hörten wir von weither ein Fauchen. Unsere Küche hatte nicht die gleiche Dimension wie in Wirklichkeit, sie war gedehnt zu einem langen Dreieck, spitz wie ein Schiffsrumpf, die hintere Ecke lag so weit von uns entfernt, daß wir sie in dem Nebel, der aus der Badewanne aufstieg, nur undeutlich erkennen konnten. Von dorther kam das Fauchen. Dagmar und ich hielten uns an den Händen fest wie Hänsel und Gretel im Wald und machten uns auf den Weg nach hinten. Auf dem Regal über der Badewanne lag ein Leguan, gut zwei Meter lang, buntscheckig wie mit Ölfarbe bemalt. Er hatte den Rachen aufgerissen, und sein Auge starrte uns an. Aus dem Gully in der Wanne unter ihm kroch seine Brut, unzählige bunte Leguane, jeder klein wie ein Finger. Wir liefen zur Tür zurück, wo immer noch die Frau lag, und wir sahen, daß sich auf ihrer Haut Beulen gebildet hatten, an den Beinen, am Rücken, auf den Schultern, den Armen, im Nacken, am Bauch. Die Beulen platzten auf, und heraus krochen kleine Leguane. Die Frau bewegte sich, drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen, ich blickte in ihr Gesicht, es war Maybelle. Ich erkannte sie aber nicht sofort, ich wußte nur, mir ist diese Frau schon einmal begegnet, und erst als Dagmar und ich aus unserer Wohnung liefen und die Tür hinter uns versperrten, fiel mir ein, wer die Frau war. Draußen stand unser Nachbar, mit dem wir nie etwas zu tun gehabt hatten, und sagte, er werde uns helfen, wir seien nicht die einzigen, die dieses Problem hätten …
Читать дальше