Als Maybelle und ich zum erstenmal allein in einem Hotelzimmer waren und sie mir das Hemd über den Kopf zog, war sie fünfzig und ich zweiunddreißig. Sie trug ihr Haar, wie es schon seit einigen Jahren nicht mehr Mode war, im sogenannten Afro-Look, nicht kraus, sondern in Locken, wie um den Daumen gewickelt, und sie hatte sie indianerschwarz gefärbt. Sie trainierte täglich an den Geräten im Keller des Gym, immer an dem, das gerade frei war; sie hatte einen sehnigen Händedruck, und wenn ich sie umarmte, spürte ich die beiden Muskelstränge in ihrem Rücken. Sechs Jahre zuvor hatte mich Abe, als wir die Busgarage an der Esplanade in Brooklyn Heights betraten, wo die Streetworker-Party stattfand (Abe:»Der Besitzer hat eine Tochter, die von unseren Leuten von der Straße geholt worden ist. Als Dank stellt er uns einmal im Jahr die Garage zur Verfügung und bezahlt das Bankett«), am Ärmel gepackt und hinter sich hergezogen, am Bierausschank und den Grillplatten vorbei, zwischen Männern und Frauen hindurch, die fast alle schwarz waren und sich über die Stehtischchen beugten, die an den parkenden Bussen entlang aufgestellt waren, und als ich schon meinte, jetzt sei er übergeschnappt, hielt er vor einer Frau in einem schimmerndroten, schenkelkurzen Samtkleid, legte meine Hand in die ihre und sagte erst auf deutsch, dann noch einmal auf englisch:»Darf ich Ihnen meine liebe Freundin Maybelle Houston vorstellen!«Und Maybelle, als wäre sie auf meinen Auftritt vorbereitet, zeigte mit dem Finger auf Abes Nase und sagte:»Darf ich vorstellen: Er ist der einzige Jude von Manhattan, der mich leiden kann. «Abe dagegen:»Und Maybelle ist der einzige Mensch in Brooklyn, dem ich meinen rechten Arm übers Wochenende ausleihen würde.«»Und wer bist du?«wandte sich Maybelle an mich; aber ehe ich die Kiefer aufklappen konnte, antwortete Abe:»Sebastian Lukasser, ein verirrtes Schaf, das noch meint, auf dem richtigen Weg zu sein. «Und sie:»Was heißt ›noch‹?«Und Abe:»Maybelle, ich lese zwischen deinen Augen und deinem Mund die Geschichte von Little Red Riding Hood und der Wolfsmutter, die mit ihren makellosen Zähnen ihr Junges am Nacken packt und in die Höhle schleppt, weil sie in Rotkäppchens Körbchen, zwischen Kuchen und Weinflasche, den Lauf einer Fünfundvierziger gesehen hat. «Und Maybelle zu mir:»In Wahrheit, Luke, bin ich die einzige Frau, bei der es Abe leid tut, daß er schwul ist. «Später meinte Maybelle, sie erinnere sich nicht an ein einziges Wort, das wir beide an diesem Abend miteinander gesprochen hätten, allerdings sei sie so stoned gewesen, daß sie sich an gar nichts erinnere.»Aber du hast dich an mich erinnert«, protestierte ich,»sonst hättest du mich doch nicht nach sechs Jahren in dem Café in der Bleeker Street sofort wiedererkannt!«»An dich, Luke, habe ich mich erinnert, ja«, antwortete sie,»aber von dir habe ich in einer nüchternen Nacht geträumt, lange bevor Abe deine Hand in meine gelegt hat. «Wenn sie mir zuhörte oder wenn wir im Fort Greene Park im Schatten des Prison Ship Martyrs Monuments, den Rücken an die Marmorsäule gelehnt, schweigend nebeneinandersaßen — was mich in unserer ersten Zeit irritierte —, bekam ihr Gesicht einen Ausdruck wie aus der Zeit entrückt, die Augenlider halb gesenkt, die Lippen, die im Profil so vornehm stoisch wirkten, zwei Millimeter voneinander getrennt, ein Bild wie erstarrte Trauer, so daß ich sie des öfteren fragte, woran sie denke und ob sie noch bei mir sei. Dieser Eindruck verlor sich augenblicklich, sobald sie zu sprechen begann. Ihre Stimme war kräftig und laut, und die Vokale sprangen innerhalb eines Wortes manchmal über eine Oktave hinauf und hinunter. Bald mochte ich es sogar besonders gern, wenn wir leer in die Luft starrten und nichts sagten und eigentlich auch nichts dachten — jedenfalls ich, soweit ich mich an meinen Teil erinnere.
«Maybelles Story «hatte mir Abe am Morgen nach der Party beim Frühstück erzählt, als ich ihn fragte, wie er und Mrs. Houston einander kennengelernt hätten — nicht die ganze Geschichte freilich hatte er mir erzählt.»Sie meint, sie habe eine große Schuld auf sich geladen«, deutete er an.
«Hat sie das?«fragte ich.
Er blickte mir auf die Stirn, als hätte ich zum wiederholtenmal den gleichen Fehler begangen und sagte.»Ich kann mir niemanden vorstellen, der sich weniger berufen fühlt, diese Frage zu beantworten, als ich. «Dabei war ihm anzusehen, daß er mit sich rang und daß der Vorwurf, den sein Blick mir zugeschoben hatte, eigentlich ihm selbst galt: ob er loyal zu seiner Freundin stehen und schweigen oder ob er sich der Köstlichkeit hingeben sollte, die im Erzählen einer guten Story bestand. Er entschied sich für die Loyalität.
Als Abe altersbedingt aus dem Lehrkörper der Columbia University ausschied, war ihm langweilig gewesen, er sei sich unnütz vorgekommen, und so habe er beschlossen, seine Kompetenz als Psychologe der Rehabilitation straffälliger Jugendlicher zur Verfügung zu stellen — ein weites Feld, für dessen Pflege die Stadt New York keine Zeit und kein Geld habe, was er, Abe, Bürgermeister Abraham D. Beame bereits zweimal bei einer» Audienz «unter die Nase gerieben habe.»Er hat nicht auf mich gehört. Ich habe ihm meine Erfahrung angeboten! Umsonst! Er hat durch mich hindurchgesehen wie durch eine Qualle! Welche Schande! Welche Demütigung! Er ist schließlich Demokrat! Ich habe ihn gewählt! Und er hat den gleichen Vornamen wie ich!«Abe erkundigte sich beim Verband der jüdischen Wohltätigkeitsvereine, dessen Vorsitzenden Sheldon Steinbach er kannte, ein besonnener, gottesfürchtiger Mann, der immer wieder davor warnte, daß es zu Feindseligkeiten zwischen Juden und Schwarzen, vor allem in Brooklyns Viertel Williamsburg, kommen werde, wenn nicht gegenseitige Vertrauensmaßnahmen gesetzt würden. Steinbach nannte Abe eine Adresse in Brooklyn, es war eine private Organisation, die sich die Eingliederung junger schwarzer Straffälliger als Aufgabe stellte und sich ausschließlich aus Spendengeldern finanzierte. Und dort traf er Maybelle.
Maybelles Job war ein ähnlicher wie zuvor im Gym ihres Schwiegersohns, sie organisierte: Termine bei Anwälten, Richtern, Polizisten, Termine für Aussöhnungsgespräche zwischen Muggern und Bestohlenen, Schlägern und Geschlagenen und Treffen zwischen Häuptlingen von miteinander verfeindeten Gangs und Treffen von Prostituierten, die aussteigen wollten; und sie stellte die Dienstpläne der Streetworker zusammen, die in der Mehrheit entweder selbst ehemalige Kriminelle oder Angehörige von Kriminellen waren und ihre mühselige Kunst des Zuhörens und Überredens neben ihrer Arbeit erledigten, denn für die gute Sache bekamen sie nicht einen Cent. Maybelle, erklärte mir Abe, obwohl sie als einzige entlohnt werde, betrachte sie ihren Dienst dennoch als eine Art Buße.»Deshalb betont sie auch immer wieder, sie werde uns nur eine abgemessene Zeit lang zur Verfügung stehen, nämlich bis ihre Schuld gesühnt sei.«
«Eine Buße wofür?«fragte ich.
«Angenommen«, sagte er nach einer langen Pause und zog sich mit Hilfe einer typischen Abraham-Fields-Rede am Schopf aus seiner Verlegenheit, wobei seine Stimme, die anfänglich kleinlaut klang, jedesmal lauter und fester wurde, wenn ich protestierend unterbrechen wollte,»angenommen, Sebastian, Sie treffen Maybelle in Ihrem Leben wieder, und angenommen, Sie beide freunden sich miteinander an, was ich für möglich, ja sogar für wahrscheinlich halte, es war ja nicht zu übersehen, wie Sie auf sie abgefahren sind, das sind Sie, das sind Sie, das sind Sie, und Sie wiederum haben einen großen Eindruck bei Maybelle hinterlassen, das haben Sie, das haben Sie, weswegen ich mich verpflichtet fühle, Ihnen doch eines zu verraten, und zwar, was das Hauptproblem im Umgang mit Mrs. Houston darstellt, nämlich, daß man sich niemals sicher sein kann, ob sie ein rein geistiges oder ein rein körperliches Wesen ist. Ich zumindest habe sie nie als eine Mischung aus beidem erlebt, sondern stets, und das ohne merklichen Übergang, entweder als das eine oder als das andere. Wenn sich ihr gegenwärtiger sexueller Wunschtraum, der so deutlich aus Ihren Augen spricht, eines Tages erfüllen wird und Sie mit der prächtigen Maybelle Houston im Bett liegen, dann wird sie Ihnen die Geschichte ihrer Schuld und Sühne selbst erzählen, da bin ich mir gewiß, wahrscheinlich wird Sie Ihnen die Geschichte schon längst vorher erzählt haben, sie macht nämlich nicht das geringste Geheimnis daraus, es scheint sogar ein Bestandteil dieser Buße zu sein, daß sie kein Geheimnis daraus macht, was übrigens wesentlich dazu beiträgt, daß es mir doch um einiges leichter fällt, nicht darüber zu sprechen, es fehlt der Reiz des Gerüchts, verstehen Sie?«
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