Ehepaare, die sich auseinandergelebt haben, finden in gemeinsamem Spott über andere Leute oft noch ein Stückchen der alten Gemeinsamkeit zurück. Man hat einen Ton gemeinsam, man sieht Ähnliches und lacht über dasselbe. Unter dem Gesichtspunkt ehelicher Friedfertigkeit und des Festhaltens am gemeinsamen Leben ist der böswillige eheliche Nachklatsch moralisch durchaus zu rechtfertigen. Auch Ehefrieden hat eben einen Preis. Hans und Ina waren heute abend zum ersten Mal in der Verfassung, diesen Weg zu beschreiten, um wieder zueinander zu finden. Ina hatte den ganzen Abend geschwiegen, auch deshalb, weil niemand das Wort an sie richtete, aber dafür hatte sie gut zugehört.
«Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß jedes einzelne Wort, das diese Frau sagte, gelogen war. Sie hat es so hinbekommen, daß alles, was sie sagte, falsch klang, auch ganz gleichgültiges Zeug. Zum Beispiel: ›Ich vertrage kein Olivenöl‹ oder ›Ich brauche zum Arbeiten eine Flasche Champagner‹ oder ›Ich möchte keine Hauptrolle spielen, ich bin noch nicht soweit‹ oder ›Wir freuen uns wahnsinnig, Sie zu sehen‹ oder ›Ich hasse Rom‹ oder ›Ich liebe Musik‹ — daß das alles ausgedachte Behauptungen sind, von denen das Gegenteil ganz genauso gestimmt oder auch nicht gestimmt hätte. Und du hast an ihren Lippen gehangen, aber der Mann ist nicht dumm, dem war das alles furchtbar peinlich.«
Hans bestritt, an Liliens Lippen gehangen zu haben, obwohl er genau das getan hatte, aber ohne ihr zuzuhören, nur indem er ihre Lippen in ihrem Klappauf-Klappzu beobachtete —»muschelrein «fiel ihm ein, wenn er an diese hellgrauen Lippen dachte, die ein zarter Speichelfilm opalisierend glänzen ließ, aber er lachte von Herzen, als Ina ihre Aufzählung brachte. Sie war unbestechlich gegenüber falschen Tönen, nur bei ihrer Mutter nicht, und doch steckte mütterliches Training in diesem arglos-unbestechlichen Hinhören. Ina ließ sich von ihm ein bißchen umarmen. Sie versöhnten sich auf Kosten der Wittekinds. Es trug zu Inas Befriedigung bei, daß sie schwören wollte, dort unten sei nach ihrem Verschwinden noch ein Streit losgebrochen. Sie meinte, im Schacht, auf den die Badezimmerfenster beider Wohnungen hinausgingen, einen scharfen Wortwechsel gehört zu haben.
Heute nacht war es anders als gewohnt: Ina hatte sich kaum ausgestreckt und mit dem Leintuch zugedeckt, ein Geschenk aus den alten Aussteuerbeständen der Mutter, und tatsächlich war ein großes I unter kleinem fünfzackigen Adelskrönchen hineingestickt, da fielen ihr auch schon die Augen zu, während Hans, der sich zu ihr gedreht hatte, um, wie sie es zuvor immer getan hatten, sich gegenseitig in den Schlaf zu plaudern, allein im Zustand der Bewußtheit zurückblieb. Und so sehr er sich auch wünschte, daß der Schlaf ihn einholte und in die Arme nahm, es wurde nichts daraus. Er blieb hellwach. Zunächst war es die Enttäuschung, die ihn munter hielt. Hoffte er etwa, daß die zurückgekehrte gute Laune in Ina den Wunsch gefördert hätte, sich noch ein bißchen mit ihm zu beschäftigen? Jedes geübte Paar hat sein kleines Ritual in der Liebe. Bei diesen beiden kam die Leidenschaft nicht in Lüsternheit oder durch irgendwelche aufreizenden Manöver zustande, sondern spielerisch. Außenstehende, die es zum Glück nicht gab, hätten auch von Albernheit sprechen können. Die ging vor allem auf Inas Konto, die sich, obwohl Hans keineswegs ihr erster Liebhaber war, in der Vorstellung gefiel,»von diesen Dingen nicht viel zu verstehen «und auch nicht zu begreifen, was die Leute daran so wichtig fänden. Hierin hätte eine tüchtige Portion Heuchelei gelegen, wenn die angebliche Ahnungslosigkeit nicht in ihr Spiel eingebaut gewesen wäre. Von Hans’ Seite gehörte zum Ritual die Frage, ob» er ihr wehtue«, die nach Zögern verneint wurde. Daß es Hans nicht glücklich machte, Ina die Frage, ob er ihr» wehtue«, nun schon eine Weile nicht gestellt zu haben, darf man freilich annehmen. Ina schlief mit festen Zügen, aber die Hitze setzte ihr auch im Schlaf zu, und so schob sie das Leintuch weg. Ihre Schultern, immer noch leicht bronziert, und die weißen Brüste kamen aus dem Laken hervor. Zeit sie zu betrachten hatte Hans. Sie knirschte leise mit den Zähnen und runzelte die Brauen. Etwas Unerfreuliches begegnete ihr in dem nahen fernen Land, in das sie sich hatte hineingleiten lassen.
Liebevolle, oder besser, begehrliche Gedanken, die aber nicht auf Erfüllung hoffen durften, galten ihrem Anblick, aber Gelegenheit, die letzten Stunden zu bedenken, gab es auf diese Weise gleichfalls. Hans staunte, wie unerwartet scharfsinnig Ina beobachtet hatte. Wie unversöhnlich kritisch sie war. Dabei hätte Britta eine Schwester von ihr sein können in dieser» Muschelreinheit«— da war es wieder, das seltsame Wort, aber Hans wollte etwas ganz Bestimmtes darunter verstehen: Das Muschelige sollte die Vorstellung eines reinen, dünnflüssigen, duftenden Speichels hervorrufen. Das Appetitlichste, was es für Hans überhaupt gab, sich in einen solchen reinen süßen Speichelmund zu versenken, das war der Gipfel seiner Wünsche.
Er konnte, wenn er sich aufrichtig Rechenschaft gab, auch gar nicht finden, daß Britta da nun unablässig» gelogen «habe, ohnehin ein viel zu starkes Wort, Ina war eben noch sehr jung, man konnte sagen, sie war von juvenilem Moralismus. Britta hatte ein wenig auf die Pauke gehauen. Sie war Gastgeberin und wollte die Gäste unterhalten. Bei einer Schauspielerin war es nicht mehr als recht und billig, wenn das dann bedeutete, daß die Gäste zu Publikum werden mußten. Schon deshalb war der ernste Begriff Lüge hier ganz fehl am Platze. Eine Schauspielerin log nie. Sie spielte ihre Rolle, und wenn man solches Theaterspielen im Privaten, nachdem der eigentliche Vorhang gefallen war, auch fragwürdig finden mochte, war es doch ein verzeihliches gesellschaftliches Delikt. Fragten sich die Wahrheitsfanatiker eigentlich zuweilen, was ihnen überhaupt den Anspruch auf wahrheitsgemäße Reden, wahrheitsgemäße Bekenntnisse gab? Warum sollte man denn verpflichtet sein, sich vor Fremden zu entblößen?
Er hatte über Inas Sammlung von aufgespießten Bemerkungen gelacht, aber er fühlte sich jetzt, nachdem sie ihn allein gelassen hatte, ein bißchen schlecht mit diesem Gelächter, als habe er damit einen Verrat verübt, der dazu noch gar nicht belohnt worden war.
Für Hans war die Treue zu Ina eine Selbstverständlichkeit. Er war keine frivole Natur. Auch wenn sich früher die Gelegenheit zu kleinen Abenteuern ergab, schenkte er seinen Damen immer reinen Wein ein, und empfand keine Freude daran, jemanden zu betrügen. In dieser Hinsicht hatte Frau von Klein schon recht mit ihrem Urteil, Hans sei» plain«, aber Ina sah diese Einfachheit als Vorteil und wollte gern in einfachen Verhältnissen leben und selbst auch einfach sein. Ina war eigentlich niemals Hansens Geliebte gewesen, in der vollen, berauschenden, sinnlichen Bedeutung dieses schönen alten Wortes. Es war da von Anfang an eine Art erotischer Geschwisterlichkeit zwischen ihnen, wie man sie vielleicht bei Völkern findet, in denen man die kleinen Buben und Mädchen lange vor der Geschlechtsreife miteinander verlobt und zusammen aufwachsen läßt, so daß sie sich, wenn der Augenblick der Hochzeit dann schließlich kommt, schon ihr ganzes Leben lang zu kennen meinen, weil sie zusammen sprechen gelernt und zusammen Versteck gespielt haben. Treue wird hier ein Lebensgesetz. Und obwohl Hans nicht mit Ina aufgewachsen war, sondern sie erst vor fünf Jahren kennengelernt hatte — der Entschluß zu heiraten war von beiden schon sehr schnell gefaßt worden, beinahe gleichzeitig, einen regelrechten Heiratsantrag hätte man historisch nicht destillieren können —, war ihm, als habe er sie schon immer gekannt. Eine Treulosigkeit war ihm dennoch anzulasten und keine kleine: die Treulosigkeit gegen die vielen Jahre vor Ina, die nun mit all ihren Begegnungen und Erlebnissen gar nichts mehr darstellen sollten.
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