«Was wollen Sie schon für eine Verwendung haben für das kleine Bild?«fragte Ina,»man hängt es halt auf. Wenn es hier hängen kann, kann es doch auch bei Ihnen hängen — ich meine, aufhängen ist doch nicht dasselbe wie Verwendung haben?«Es war aber sehr freundlich, nicht belehrend gesagt, wie Hans sofort verstand, er kannte Inas Art, über ihr ungewohnte Redensarten zu stolpern und die Sache aufgeklärt wissen zu wollen.
«Vor dem Krieg war das eine gutbürgerliche Wohngegend, nicht elegant, das nicht, aber man konnte hier wohnen, meine Eltern waren respektable Leute«, sagte Sieger statt einer Antwort. Ihm ging es nicht darum, mit seiner Herkunft zu prunken, sondern sich erneut das rätselhafte Phänomen vor Augen zu führen, daß man in eiserner stabilitas loci verharren konnte, und doch um sich herum alles anders werden sah. Er bedauerte den Wandel nicht. Es beschäftigte ihn nur, wie dieses Haus die Bomben des Krieges, die um den Bahnhof herum besonders dicht gefallen waren, überstehen konnte, nur um dann, den Siebenschläfern vergleichbar, die das Wüten des Tyrannen verschlafen hatten, in einer anderen Welt zu erwachen.
Ob sie gestatte, daß er den kleinen Raum neben der Küche noch einmal betrachte? Damit seien besondere Erinnerungen verbunden. Als er aufstand war es, als rolle er vom Sopha herunter. Die alte Beobachtung über die Behendigkeit der Dicken, hier bestätigte sie sich. Er ging Ina voran, bei jedem Schritt ließ er den Boden leise erzittern. Sie betrachtete seine Hose.»Wir beide hätten in dieser Hose wie in einem großen Schlafsack wohnen können, jeder in einem Hosenbein. «Sieger schob sich beim Gehen wie ein Automat voran, der Schritt des linken Beines wurde von dem Schwung der linken Schulter, der des rechten Beines mit dem Schwung der rechten Schulter vorangetrieben, so sah das aus. Das weiße Hemd, ein Zelt, klebte an seinem Rücken und ließ den Abdruck des Unterhemdes sehen. Er nahm nicht zur Kenntnis, was da alles neu angeschafft und renoviert worden war. Ihn bewegte nur, was er schon kannte. Die Kammer neben der Küche gehörte zu den Vorteilen der Wohnung. Sie war geräumig mit umlaufenden weißen Regalen, die jetzt frisch gestrichen waren. Solche Nebengelasse gibt es in neuen Wohnungen nicht mehr, sie machen solch eine Etage aber erst bewohnbar. Vieles kann in einer solchen Kammer verschwinden. Viel war daraus verschwunden.
«Meine Frau hatte und hat wohl immer noch eine Leidenschaft für Schuhe«, sagte Herr Sieger. Es sei kaum ein Tag ohne den Kauf neuer Schuhe vergangen. Überwiegend seien die Schuhe nicht teuer gewesen. Das klang geradezu beschwörend, er wollte keinen Vorwurf anklingen lassen, er gönnte ihr diese Sammelwut. Sie habe schmale und sehr schöne, aber vergleichsweise lange Füße, das Wort groß vermeide er bewußt, es vermittle einen falschen Eindruck. Für diese Füße sei es nicht leicht gewesen, Schuhe zu finden. Das Sammeln habe mit der Gewohnheit begonnen, jedes Paar Schuhe, das ihr paßte, zu kaufen. Denn sie habe stets befürchten müssen, nicht so schnell wieder passende Schuhe zu finden. So rar seien Schuhe dieser Größe dann aber auch wieder nicht gewesen. Viele habe sie nur wegen der Größe gekauft und dann gar nicht getragen, weil sie ihr nicht gefielen. Waren die Schuhe im Haus, verfuhr sie rücksichtslos mit ihnen und warf sie einfach in diese Kammer. Schließlich habe sie nur mit Mühe noch zwei passende Schuhe zusammenstellen können, vom Betreten der Kammer war schon gar keine Rede mehr. Und da habe er sich einen Tag lang darangemacht, die Kammer aufzuräumen und die Schuhe zu sortieren.
«Ich habe hier auf den Knien gelegen«, sagte er und wagte Ina nicht anzusehen, so stark ergriff ihn die Erinnerung. Es war auch damals heiß, und die Luft war vom Geruch des Leders, des getragenen Leders erfüllt.»Ich weiß«, sagte Herr Sieger,»für Fremde hat die Vorstellung solchen warmen Ledergeruchs von getragenen Schuhen etwas Abstoßendes, und auch für mich war er teilweise abstoßend, aber auch anziehend. Es war ein sehr starkes und tiefes Erlebnis. Zum Schluß standen dreihundert Paar Schuhe hier aufgereiht wie die Soldaten — und doch muß damals etwas zerbrochen sein — bei ihr, als ich ihr die Kammer vorführte. Wir hatten uns gestritten, sie war ausgegangen, kehrte zurück, und ich zeigte ihr die Schuhkammer. Das war wohl ein Fehler.«
Dann entdeckte er auf dem Fensterbrett ein Glas voll von kleinen Geldstücken aus allen möglichen Ländern, wie man sie auf Reisen in den Hosentaschen sammelt und dann zu Hause irgendwo aufhebt in der Hoffnung, sie noch einmal brauchen zu können.
«Das ist immer noch da, keiner hat das bisher weggeworfen, wie seltsam«, sagte Sieger.»Sehen Sie? Penny, Franc, Lira— bei jeder Münze könnte ich Ihnen die dazugehörende Reise sagen. Welche Achtung die Leute doch vor kleinen Beträgen haben. Möbel hat man hier weggetragen, auch Bücher, aber diese Münzen stehen immer noch da und sind inzwischen überhaupt nichts mehr wert.«
«Wir haben schon welche dazugetan«, sagte Ina und zeigte ihm einen amerikanischen Cent. Herr Sieger begrüßte das. Aber dann wurde er verlegen und bat, eine ungewöhnliche Frage stellen zu dürfen.
«Haben Sie zufällig schon die Miete für diesen Monat bezahlt?«
Ina sagte:»Ja, natürlich, ich selbst habe die Überweisung geschrieben.«
«An wen, wenn ich fragen darf?«
«Wie es vereinbart ist: an Herrn Souad.«
Herr Sieger versank in Nachdenken und murmelte vor sich hin. Natürlich, so sei es schließlich vereinbart, es sei dann wohl in Ordnung so. Sei das Geld etwa nicht angekommen? Sicher sei das nie, sagte Herr Sieger, aber normalerweise komme es schon an, Herr Souad habe sich doch nicht beschwert.
«Sprechen Sie mit Herrn Souad«, das hatte Ina als Aufforderung gemeint, aber unversehens klang es unbestimmt, beinahe wie eine Frage. Nein, mit Souad werde er nicht sprechen, sagte Sieger bestimmt, keinesfalls. Und das, obwohl er gegenwärtig keinen Pfennig, nicht einen einzigen Pfennig besitze.
Ob sie ihm mit fünfzig Euro aushelfen dürfe, fragte Ina. Die Verblüffung hatte ihr diesen Vorschlag eingegeben. Herr Sieger drehte einen Augenblick die Augen weg, bekam sie aber wieder in die Gewalt, faßte Ina würdevoll wie noch an keinem Augenblick des Abends, ja geradezu streng ins Auge und sagte:»Ich würde dies Angebot gerne annehmen.«
Es war etwas geschehen, mit dem weder Hans noch Ina hatten rechnen können. Ein gesunder, junger Mensch stellt sich Veränderungen des Lebens stets als äußeres Ereignis vor: ein neuer Beruf, eine neue Liebe, ein großer Erfolg, neue Menschen, eine neue Stadt, ein neues Land. Wer klug ist, mag hier auch allfälliges Unglück in Rechnung ziehen, denn wir bewegen uns auf dünnem Eis, unsere Schritte erzeugen ein Knistern, das der Lebenserfahrene hören kann, der Bruch der Eisdecke eines Tages ist das zu Erwartende. Im Kleinen war das selbst dem glücksbegabten Hans so geschehen. Man zog sich sorgfältig an, um zu einer wichtigen Verabredung zu eilen, setzte sich aufs Fahrrad, sauste davon auf gewohnten Wegen, auf denen jeder Stein einem vertraut war, geriet bei dem Versuch, einem entgegenkommenden Auto auszuweichen, mit dem Vorderrad zu nah an den Bordstein, schlidderte die Kante entlang und flog schließlich über das Lenkrad hinweg auf den Asphalt. Die Hosen waren zerrissen, die Hände, die sich aufgestützt hatten, blutig verschrammt, das Knie tat weh, mußte durchleuchtet werden und war angebrochen. Die Verabredung fiel aus, die nächsten Tage verliefen völlig anders als geplant, das alles hatte sich in einer einzigen Sekunde entschieden. Ein philosophischer Augenblick war das, wenn man es recht bedachte und seine Schlüsse daraus zog. Solche Einbrüche hinzunehmen und gar anzunehmen und zu überwinden, wurde vom erwachsenen Menschen erwartet. Das Scheitern aller Pläne war immer mit einzurechnen.
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