«Das sind Spinner«, sagte Souad, wenn man von einem Bombenattentat erfuhr, mehr Empörung durfte ein taktvoller Mensch von ihm nicht verlangen.
«Man möge mit dem Begriff Verlierer in weltgeschichtlichen Zusammenhängen sehr vorsichtig sein«, sagte Elmar Wittekind aus seiner Schattigkeit heraus, während die Lichtstreifen um seinen Kopf rötlich zu strahlen begannen, denn die Sonne ging unter, das Licht wurde schwächer, seine Züge begannen hervorzutreten. Er erinnere daran, daß die Kämpfe der Geschichte nicht nach den Punktsystemen von Linienrichtern gemessen würden. In vielen Fällen sei es folglich unmöglich, Gewinner und Verlierer festzustellen. Wenn eine Seite verliere, dann heiße dies meist nur, daß der Kampf noch nicht zu Ende sei. Für verlorene Partien würde in der Geschichte immer Revanche gefordert, manchmal freilich fünfhundert Jahre später.
«Man hat den Krieg mit dem Schachspiel und das Schachspiel mit dem Krieg verglichen«, sagte Wittekind, der jetzt dort angelangt war, wo er sich am wohlsten fühlte. Seine Freundin, die sich behaglich ausstreckte, sah auffordernd zu Hans hinüber; sollte das heißen, er möge die Ohren spitzen?
«Das ist ein schöner Vergleich, wenn man auch den wichtigen Unterschied festhält: Der Krieg ist ein Schachspiel, bei dem die geschlagenen Figuren auf dem Brett bleiben. «Den Sieger erwarte die schlimmste Last: Nun habe er die Verlierer auf dem Hals. Ein Verlierer lasse sich nicht mehr abschütteln.»Denken Sie an die Griechen«, sagte Wittekind zu Hans, der nie an die Griechen dachte,»was geschah, als sie die Perser besiegt hatten? Sie persifizierten sich.«
«Aber hieße das nicht, daß wir — sollten die Islamisten doch irgendwie die Verlierer sein — «, ganz mochte Hans sich von der schönen These, die soviel Beruhigendes hatte, nicht lösen,»daß wir uns dann islamisieren würden?«Ein Staunen war seinen Worten anzuhören, das über Widerspruch weit hinausging.
Das täten wir doch schon, antwortete Wittekind voll heiterer Genugtuung. Schon heute zeichneten sich Züge einer kommenden Theokratie in Nordamerika ab, der Tag sei nicht fern, an dem der Präsident gemeinsam mit den Deputierten und Senatoren zum Sonntagsgebet fahre — eine Kuppel habe das Capitol ja bereits. Er könne sich gleichfalls gut vorstellen, daß aus dem amerikanischen Feminismus neue Formen der Abgrenzung und Aussonderung der Frauen hervorgingen, die vom islamischen Harem, was schließlich» Heiligtum «heiße, gar nicht so weit entfernt seien.
«Gut, die Amerikaner«, rief Hans und dachte an seinen scharf gebügelten, muskelhart trainierten Kollegen mit der praktischen Lebensphilosophie,»aber wir Europäer …«
«Wir sind keine Europäer mehr«, sagte Wittekind und verbarg seine Genugtuung nicht,»wir sind Phönizier. Wir haben die europäische Kultur aufgegeben und die Nachfolge der phönizischen Kultur angetreten. «Die Europäer hätten alle wesentlichen kulturellen Merkmale des weitgehend untergegangenen, aber wirkmächtig in die Geschichte hineinverdampften phönizischen Volkes zu neuer Blüte und zu einer ungeahnten Entfaltung geführt.
Britta schloß die Augen in einem Akt gesteigerten Zuhörens, Hans bemerkte aber trotz des Dämmerns, daß sich ihres Körpers eine atmende Ruhe bemächtigte, die dem entspannten Schläfchen einer Siesta in der Hitze des Tages auffällig glich. Sie hatte sich tatsächlich während der oft quälend langweiligen Proben eine Technik angeeignet, aufs höchste konzentriert zu erscheinen und zugleich in eine kontrollierte Ohnmacht abzutauchen.
Phönizisch sei unser Verhältnis zu den Zahlen, sagte Wittekind liebenswürdig lächelnd, unser Wille und unsere erstaunliche Fähigkeit, jedes Lebensverhältnis, jeden Gedanken, jede Realität nur noch als Zahlenketten verstehen und darstellen zu wollen. Phönizisch sei unsere entschlossene Abkehr von der Produktion zugunsten des Handels als der vorherrschenden ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Aktivität. Selbst die Kunst hätten wir dem Handel dienstbar gemacht und sähen sie nur noch als Funktion des Handels. Phönizisch sei unser Verhältnis zum Raum: in den Metropolen gleichsam mit dem Rücken zum eigenen Land zu leben und in Frankfurt etwa nicht mit dem Spessart oder der Wetterau, sondern mit Tokio und New York befaßt zu sein, nicht mehr den eigenen Landraum, sondern die ferne Gegenküste im Blick habend. Phönizisch sei unsere neue Unfähigkeit zur Herstellung schöner Kunstwerke — er denke da an die wirklich grauenvollen Fetische und Ölgötzen der Phönizier, bei ihrem gleichzeitigen Sammeln alter und für sie exotischer Kunstwerke —, die Phönizier hätten wie wir kostbare griechische Statuen gekauft, mit denen sie ebenso wenig zu tun hatten wie wir. Ja, was noch? Die phönizische Religion, schließlich: Das Opfern der erstgeborenen Kinder für Moloch, dem entspreche unsere gesetzlich geförderte Praxis der Abtreibung.»Aber das kann man doch nicht vergleichen«, sagte Britta aus ihrem offenbar wirklich sehr leichten Schlaf heraus.
«O doch, das kann man sehr gut vergleichen«, sagte ihr Freund ohne Eifer,»die Abtreibungen bei uns sind genau solche Opfer, die für eine glückliche und wohlhabende Zukunft dargebracht werden.«
«Haben Sie Kinder?«fragte Hans unversehens. Er hätte am liebsten nichts dergleichen gesagt, aber jetzt war es heraus.
«Nein«, antwortete Wittekind und seine Augen blitzten heiter:»Wir sind glücklich und wohlhabend.«
Britta verließ ihren Divan. Sie wirkte, mit gerunzelten Brauen, ärgerlich. Sie zog die Rolläden hinauf. Es war dunkel geworden. Am Himmel stand ein dick und kraftvoll leuchtender Halbmond, nahrhaft wie eine halbierte Torte.
«Beim nächsten Mal müssen Sie Ihre Frau mitbringen, sonst dürfen Sie nicht wiederkommen«, sagte sie sehr nachdrücklich, als Hans sich verabschiedete. Sie blickte ihm offen und fest ins Gesicht. Warum glaubte er nur, er könne diesen Blick nicht aushalten?
*
Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er gar zu gern wieder einmal eine Zigarette rauchen würde. Für sein amerikanisches Büro wollte er sich das Rauchen eigentlich abgewöhnen, die Raucher wurden dort schief angesehen. So fand er seinen Weg, anstatt zu Ina zurückzukehren, noch einmal hinab zum Äthiopier. Der hatte seinen Hinterhofsalon wieder eröffnet, bediente zugleich aber auch noch zur Straße hinaus, dort allerdings ein ganz anderes Publikum, das sich neben den Herrschaften im Hof bei gesunder Selbsteinschätzung nicht hätte blicken lassen dürfen. Nur der Trinker war so dreist, sich aus der Vorderhausmannschaft in den exklusiven Hinterhof mitunter herüberspülen zu lassen. Als Hans den Hof betrat, fand er Souad, Barbara und einen dünnen jüngeren Mann mit langen blonden Haaren und haarreifartig auf den Kopf geschobener Sonnenbrille gesellig beisammensitzen. Alle drei telephonierten angelegentlich in unterschiedlichen Sprachen, Souad sprach arabisch, der blonde Jüngling mit dem Sonnenbrillendiadem französisch, Barbara spanisch. Sie am kürzesten. Souad schützte sich gegen die Abendkühle mit einem gelben Kaschmirpullover, der ihn sehr wichtig aussehen ließ, soviel runden Bauch hatte er zu umspannen, die Temperatur in der Steinwelt des Hinterhofs war aber nur um ein oder zwei Grad gesunken, die Mauern bewahrten die Hitze wie ein guter Ofen. Der Äthiopier hatte einen Kübel mit Eiswürfeln gebracht. Man trank heute kein Bier, sondern Wodka aus kleinen Fläschchen wie aus einem Kinderkaufladen. Barbara unterrichtete Hans über den jungen Blonden an ihrer Seite. Regelrecht vorstellen konnte sie ihn nicht, denn er ließ sich in seinem angelegentlichen Telephongespräch nicht unterbrechen. Er sei ihr Vetter, vielsprachig, in mindestens sechs Sprachen fließend zu Hause, wie sie selbst auch, eine einzigartige Begabung, zuletzt Koch in Gran Canaria, es sei eine Schande, daß der Mann nichts aus sich mache. Seit ihrer Scheidung hätten sie sich ein bißchen zusammengetan, er berate sie.
Читать дальше