«Das ist nicht meine Stadt«, sagte der Vetter in quengelndem Ton, und Souad entgegnete mit wehmütiger Treuherzigkeit, während die braunen Tieraugen — man sah fast nichts Weißes bei ihnen — den mageren Vetter festnagelten:»Seien wir doch mal ganz ehrlich. Meinst du, das ist meine Stadt? Das ist auch nicht meine Stadt.«
Als Hans ins Haus ging, sah Souad von dem Vetter auf, in dessen Ohr er geradezu hineingekrochen war, und sagte in muffigem Beschwerdeton:»Warum habt ihr mir nicht gesagt, daß der Hauswirt heute zu euch kommt?«Hans wußte von nichts. Souad wurde richtig ein bißchen ungezogen.
«Nein, nicht so tun, als wüßtest du nichts. Er war stundenlang bei euch oben. Was hat er gesagt? Sagen Sie mal: Was hat er gesagt?«Das Schwanken zwischen Du und Sie nahm Hans nicht krumm, aber als er anfing zu erklären, wo er die letzten Stunden zugebracht habe, wurde ihm plötzlich klar, wie unangemessen diese Fragerei und dieser beschwerende Ton waren. Er brach ab und sagte:»Geht Sie das etwas an?«
«Richtig, Souad«, rief Barbara herüber,»was du immer alles wissen willst. Nicht alle Leute haben so viel Geduld wie ich.«
Es entbrannte da draußen jetzt allseitiges Gackern, von dem Hans aber nichts mehr mitbekam. An der Tür der Wittekinds vorbei, die, wie ihm vorkam, auf nichtssagende Weise geschlossen war, stieg er in seinen vierten Stock.
*
Ina lag im Wohnzimmer auf dem Sopha, möglicherweise genau über dem Wittekind-Sopha — haben die Zimmer nicht wirklich ihre eigene Art, den Bewohnern die Einrichtung vorzuschreiben? — und schlief nicht und las nichts und hatte den Fernseher nicht angestellt und hörte auch keine Musik. Wartete sie? Sie war in abweisender Stimmung, gedankenvoll. Es war hell im Zimmer, viele gelbe Lampenschirme schufen eine weiche Helligkeit, lauter milde Sonnen strahlten in dem Raum. Man hatte kein Gegenüber, vor den Fenstern dehnten sich weite Regionen wie beim Blick von einem Turm.
Sie habe mit Mama gesprochen, sagte sie, ohne zu ihm hinzublicken. Sie habe versucht, Mama seine Theorie mit den Huren zu erzählen. Welche Theorie? fragte Hans ungehalten, die bloße Vorstellung, ein Gedanke von ihm werde Frau von Klein präsentiert — und dann vermutlich nur halbrichtig wiedergegeben —, mißfiel ihm. Nun, die von den Huren, die heute wie Studentinnen aussähen — was sie selber übrigens nicht bestätigen könne, sie finde, die Huren auf der anderen Straßenseite sähen haargenau so aus, wie sie sich eine Hure immer vorgestellt habe; Beweis sei, daß sie die entsprechenden Damen auch sofort erkenne. Frau von Klein habe daraufhin wissen wollen, wo er sich denn solche Erkenntnisse erworben habe. Sie selbst wünsche das eigentlich nicht zu wissen, gebe die Frage aber weiter.
In kurzer Zeit sah er sich nun schon zum zweiten Mal zur Rede gestellt. Woher weiß man, was man weiß? Wenn sich das doch immer so genau feststellen ließe. Hurenerfahrungen hatte er beinahe nicht eine einzige, wenn er vom Militär absah, wo es zum Kameradenritual gehört hatte, die einzige Hure des ländlichen Standorts gemeinsam aufzusuchen; so betrunken war er dabei gewesen, daß er nicht einmal mehr hätte sagen können, was das für eine Frau gewesen sei. Aber darüber hinaus — was man so spricht und darstellt und behauptet — woher bezieht man das alles? Die Fälle, in denen man sagen kann: Aus dem und dem Buch in Kapitel drei oder aus dem und dem Film, sind selten. Irgendwoher fliegt einen an, was man weiß oder zu wissen glaubt, wie auf klebrigem Fliegenpapier bleiben im Hirn die durch die Luft sausenden Realitätssplitterchen hängen. Es gehörte aber zu Frau von Kleins Instinkt, solche Schwächen sicher herauszuspüren. Sie selbst wußte sich in Sicherheit. Sie gedachte das Damenrecht auf Schonung in Anspruch zu nehmen, wenn sie unbedacht daherplapperte.
Statt weiter auf die Frage der Schwiegermutter einzugehen, sagte Hans:»Souad behauptet, der Hauswirt habe uns besucht.«
«Das hat er allerdings«, antwortete Ina. Schade, daß er nicht dabeigewesen sei. Sie sprach träumerisch, wie unter einem Eindruck, der zu bedeutend war, als daß sie nicht noch ein wenig bei ihm hätte verweilen wollen, bevor sie darüber berichtete. Es hatte geklingelt, als sie sich gerade die Haare trocknete. Hans sagte sich im stillen, daß es schwer für einen unangemeldeten Klingler sei, den Augenblick zu erwischen, in dem Ina sich nicht die Haare trocknete. Sie öffnete mit dem Frotteeturban auf dem Kopf, im Vertrauen, Hans sei von seinen Leuten dort unten zurückgekehrt. Vor der Tür stand aber ein fremder Mann, eine außergewöhnliche Erscheinung. Noch nie hatte sie einen so dicken Menschen aus der Nähe gesehen. Der Körper schwappte förmlich bei jeder Bewegung um den Kopf herum, der klein und schweißüberströmt aus dem Faß seines Leibes herauswuchs. Keinen Augenblick sei sie besorgt gewesen, denn die kleinen Augen dieses Mannes hatten einen flehenden, schüchternen Ausdruck. Obwohl sein Haar grau war, kam er ihr sehr jung vor, die Haut seiner Hand war weich und zart wie die eines Säuglings. Er stellte sich vor. Er heiße Sieger, Urban Sieger, und sei der Hausbesitzer.
«Ich wäre froh, wenn ich eintreten dürfte, denn häufig werde ich den Weg zu Ihnen hinauf nicht schaffen. Es geht mir nicht gut. «Als er sich auf das Sopha setzte, war es als nehme er auf einem Sessel Platz. Das Sopha stand in der richtigen Proportion zu ihm, schon wirkte er nicht mehr so monströs.
«Wie gut, daß wieder ein glückliches junges Paar hier wohnt«, sagte Sieger,»Sie sind doch verheiratet?«Es liege nun schon Jahre zurück, daß er hier oben gewohnt habe, damals sei er besser zu Fuß gewesen.»Auch ich war damals verheiratet und bin es noch, aber nicht mehr glücklich, alles ist zerbrochen. «Er habe damals die Wohnung, wie sie war, verlassen, mit allem, was darin stand, er habe nichts davon mehr ansehen können. Seine Frau habe mitgenommen, was sie gebrauchen konnte —»das war ihr gutes Recht. Alles was ich besaß, gehörte auch ihr — was in dieser Wohnung war, habe ich zur Disposition gestellt. «Es war, während er das Wort Disposition aussprach, als wollten seine kleinen Augen wegkippen und im Kopf versinken —»Ich hatte eine Puppe«, sagte Ina,»deren Glasaugen sich mitunter wegdrehten, es sah aus, als würde sie plötzlich blind, dann habe ich sie geschüttelt, und dann waren die Pupillen mit Iris wieder da, aber Herrn Sieger kann man nicht schütteln — er würde es nicht einmal merken, wenn man ihn schubste.«
Seitdem sei die Wohnung schon öfter vermietet worden, und jeder Mieter habe mitgenommen, was ihm gefiel — er komme eigentlich nur, um nachzusehen, was inzwischen noch übrig sei. Sieh da, der Schreibtisch seines Vaters — er zeigte auf das schwarze Pseudo-Barock-Ungetüm mit den gedrehten Säulenbeinen. An diesem Schreibtisch habe sein Vater immer gesessen, er sei mit diesem Schreibtisch verwachsen gewesen, eine Schreibtisch-Sphinx gleichsam. So schwer sei dieser Schreibtisch, daß er wohl bis zuletzt noch in dieser Wohnung zurückbleibe. Ina war bereit, alles vorzuzeigen, und das war auch notwendig, denn in dem neuen Zeug, das die Räume füllte, ging der Siegersche Hausrat unter.
«Und das ist auch noch da«, sagte er scheu und geradezu dankbar, als sie ihm die Radierung von Burg Eltz brachte, die sie im Badezimmer aufgehängt hatte. Sie stamme von seiner Tante, die Malerin gewesen sei, sich das allerdings auch habe leisten können, denn sie habe einen reichen Mann geheiratet. Mit der Malerei habe sie keinen rechten Erfolg gehabt —»sie war im Grunde keine Künstlerin«, sagte Herr Sieger. Wußte er, was zu einer veritablen Künstlerin gehörte, oder gab er das Urteil des Familienrates wieder?» Solche kleinen Sachen, das Illustrative, das lag ihr.«
«Wollen Sie das Bild nicht mitnehmen?«fragte Ina. Er wehrte heftig und ernsthaft ab. Nein, keinesfalls, er habe gegenwärtig — er seufzte — keine Verwendung dafür.
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