Costin sagt, er müsse jetzt los. Er küßt Ana, dann Wallner, links, rechts, auf die Wangen. Anas Eltern haben Ana und Costin — nicht Wallner — zur Begrüßung und Verabschiedung immer auf die Wangen geküßt. Ungefähr seit Anas Vater vor vier Jahren gestorben ist, hat Costin begonnen, nicht nur Ana, Wallner und seine Großmutter vor allem beim Verabschieden auf die Wangen zu küssen, sondern auch seine Freunde beziehungsweise Freundinnen in der Schule, Wallner hat es bei Costins letztem Geburtstagsfest gesehen, das er zu Hause feierte.
Costin fragt Ana: „Cum ţi-a fost ziua?“
Ana antwortet ihm auf rumänisch.
Ana ist zwar in München geboren, spricht aber in ihrer Familie, das heißt mit Elena, ihrer Mutter in Regensburg, deren Freunden in der rumänischen Gemeinde und mit ihren Verwandten, die sie seit 1990 in Bukarest ab und zu besucht, rumänisch, mit allen anderen, das heißt auch Wallner, deutsch. Während Wallner in den ersten Jahren seiner Beziehung mit Ana einige Phrasen auf rumänisch gelernt hat, „Wie geht es dir“, „Ich liebe dich“, „Ich vermisse dich“, hat Ana Costin, als er noch ein Baby war, zuerst Rumänisch und dann erst Deutsch beigebracht. Später ist er nur ungern allein mit seinen Großeltern, die nur schlecht Deutsch konnten, zusammengewesen, weil sie sich mit ihm ausschließlich auf rumänisch unterhielten. Inzwischen meldet sich Costin, dessen Oberpfälzer Dialekt nicht so stark ist wie der seiner Freunde am Gymnasium, wenn ihm seine Mutter den Telefonhörer reicht und sagt, es sei seine Großmutter, von selbst mit „Bună?“
Als die Haustür zufällt, öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und zieht sie aus. Er setzt sich in den Shorts aufs Sofa und hört Ana aus der Küche, das Knistern der Plastiktüten mit dem chinesischen Essen.
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Er schaut zu Wiget und wartet darauf, daß er sich zu ihm dreht. Wiget rückt das Mikrofon des Headsets vor seinem Mund zurecht, räuspert sich mehrmals und schaut auf den Bildschirm, auf dem jetzt die letzten Sekunden des kurzen Demos der Firma laufen.
Wallner würde gern, bevor auf dem Bildschirm wieder der Konferenztisch in Berlin mit den Vertretern des Landwirtschaftsministeriums von Brandenburg erscheint und sein eigenes und Wigets Bild von der Kamera auf dem Stativ vor dem Bildschirm am Ende des Konferenztisches nach Berlin übertragen wird, einen Blick der Bestätigung austauschen. Seit Beginn der Präsentation hatte Wallner den Konferenzraum um sich herum vergessen.
Er achtete darauf, durch die Gestik des Teils seines Oberkörpers (Schultern, Arme mit Händen), der von der Kamera gefilmt wird, sowie durch seine Mimik einen glaubwürdigen und selbstbewußten Eindruck auf die Vertreter in Berlin zu machen. Den Text, mit dem er die eingestreuten Power-Point-Statistiken zur Bilanz, Entwicklung und Kapazität der Firma erläuterte, hat er inklusive Intonation auswendig gelernt.
Im Konferenzzimmer riecht es vom Holzpflegemittel stark nach Zitrone.
Wallner nimmt an, daß die Vertreter das Demo zurückgelehnt in ihren Stühlen mit verschränkten Armen verfolgen, erste Wertungen und Eindrücke werden sie durch Blicke austauschen, die Mikrofone haben sie nicht ausgeschaltet: Ab und zu ist über der Tonspur des Films ein Husten, ein Flüstern und Räuspern in Wallners Kopfhörern zu hören.
Jetzt kommt gleich der Fragenteil. Der Fragenteil ist entscheidend.
Wallner und Wiget besprachen die letzten Tage, welche Fragen wahrscheinlich gestellt werden würden. Sie machten zwei Probepräsentationen. Einmal übernahm Wallner die Rolle der Vertreter und stellte Wiget Fragen, einmal umgekehrt.
Auf dem Bildschirm sind die Vertreter zurückgelehnt am Konferenztisch mit verschränkten Armen in ihren Sesseln erschienen. Herr Busmann, links am Tisch, der Vorsitzende des Bauernverbands, hat das Mikrofon seines Headsets zur Seite gedreht, sich zu Herrn Soundso, Wallner hat gerade seinen Namen nicht präsent, neben ihm gebeugt und mit ihm etwas besprochen.
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Das Telefon klingelt, einmal, zweimal. Wallner schaut auf das Display, eine Nummer, die er nicht kennt. Warum hat Frau Beck die einfach so durchgestellt?
„Wallner“, meldet er sich.
Aus dem Hörer ist Rauschen gekommen, dann, weit entfernt, „Allô?“
Eine Männerstimme.
„Hallo?“ sagt Wallner.
„Allô?“ die Männerstimme.
„Wer spricht bitte?“ fragt Wallner.
„Wer spricht bitte?“ fragt die Männerstimme.
Wallner legt erschrocken auf. Zu spät erkennt er, daß er gerade einen Fehler begangen und sich selbst um die Möglichkeit gebracht hat, herauszufinden, wer ihn da ärgern oder aber sogar, falls das noch einmal vorkommt, terrorisieren will. Die Nummer auf dem Display ist erloschen.
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Die Soldaten, die aus dem Kessel in Stalingrad geflohen sind, sitzen auf der überdachten Ladefläche eines LKWs. Draußen tobt ein Schneesturm.
Der Schauspieler mit den abstehenden Ohren (erregt): „Entweder wir machen das jetzt so, oder ich steige aus und gehe von hier nach Deutschland — zu Fuß!“
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10. Oktober
Großer Arber. Mit Uli. Schon Schnee. Schön.
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Wallner geht durch das dunkle Schlafzimmer. Er muß aufstoßen und kann die Hühnchenstücke mit der scharfen chinesischen Sauce riechen, die er zum Abendessen gegessen hatte. Obwohl er das Bett, die Kante, jetzt nicht sehen kann, weiß er, wo sie sich befinden muß und weicht ihr auf dem Weg zum Fenster aus. Wallner läßt den Rolladen herunter.
Am Wochenende steht Ana hier manchmal, winkt ihn zu sich und deutet, flüsternd, als ob die Tiere sie hören könnten, auf Hasen oder Rehe auf den Feldern am Fuß des Galgenbergs, der, eher Hügel als Berg, mit seinen sanft ansteigenden Wiesen eigentlich ganz friedlich aussieht. Abends ist es im Haus fast vollkommen still. Nur von der Ostmarkstraße, der einzigen Verbindung zu den Autobahnen, kommt hin und wieder ein dumpfes Brummen. Nach einer Krise am Anfang, während der sie Wallner vorgeworfen hatte, ihre Karriere ruiniert zu haben — was mache sie, eine fast zu Ende studierte Veterinärmedizinerin und fertig ausgebildete Kindergärtnerin bitte als Buchhalterin in einer Firma für Landmaschinen? — , während der sie öfter mit Costin im Gepäck für Tage einfach abgehauen war, zu ihren Eltern nach München, während der sie geklagt hatte, hier außer Astrid Wiget keine Freundinnen zu haben, und dabei in einer Mischung aus Gebell und Muhen den Oberpfälzer Dialekt nachgemacht hatte, hat Ana sich eingelebt. Früher begann Ana zu weinen, wenn sie, aus dem Urlaub kommend, von der Autobahn die Ausfahrt Richtung Cham nahmen. Jetzt hört sie Wallner zu, wenn er von den Sachen erzählt, die er am nächsten Tag in der Firma erledigen muß, stellt sachbezogene Fragen, grüßt beim Aussteigen die Nachbarn, die vielleicht gerade die Einfahrt kehren, und trägt die Koffer ins Haus. Ana hat jetzt zwar kein positives, aber ein neutrales Verhältnis zu Cham.
Er hat vor dem Spiegel im Badezimmer Wasser in seine hohle Hand laufen lassen und seine Achseln, seinen Brustkörper und sein Glied besprengt. Während er dann Zähne putzt, ist Ana ins Badezimmer getreten. Sie ist nackt und trägt ein Stirnband, damit ihr die Haare beim Waschen nicht ins Gesicht fallen. Vor etwa fünf Monaten war Ana ebenfalls nackt ins Badezimmer gekommen, und Wallner hatte nach einer Weile gesagt, daß sie ihrer Mutter Elena, früher bildhübsch, jetzt dick, immer ähnlicher werde. Bis vor etwa einem Monat hatte Ana deshalb, wenn sie abends ins Badezimmer kam, bereits ihr Nachthemd an. Anas nackter Körper heißt, daß sie entweder vergessen hat, was Wallner ihr damals gesagt hat, oder daß sie Wallner verziehen hat.
Wallner hat sich auf das Bett gelegt, den Fernseher eingeschaltet und die Wildacker-DVD, den Film über den Dreißigjährigen Krieg, zu der Stelle vorlaufen lassen, bei der er noch sicher weiß, daß er sie vor zwei Tagen gesehen hatte und noch nicht eingeschlafen war. Während Wildacker in einer Bauernstube geboren wird, die Plünderung des elterlichen Bauernhofs und die Vergewaltigung seiner Mutter miterlebt, Heere aufeinander zustürzen und tote Soldaten verstreut auf nebligen Wiesen liegen, ist Ana aus dem Bad ins Schlafzimmer gekommen und hat das Licht ausgeschaltet. Sie hat „Nacht, Schatz“ gemurmelt und sich dann auf die Seite gedreht. Schon nach wenigen Minuten, als Wildacker zusammen mit anderen Soldaten in Wallensteins Lager Nachtwache hält, hat Wallner Anas gleichmäßigen Atem gehört und aus der Richtung ihres Gesichts die Minzzahnpasta gerochen.
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