Wallner hat Ana, seit er sie kennt, darum beneidet, daß sie nur die Augen zu schließen braucht und sie, egal wo, egal in welcher Position, von einem Moment zum anderen fähig ist einzuschlafen. Er muß, um einschlafen zu können, im Bett noch etwas tun, lesen oder fernsehen zum Beispiel.
Er spürt jetzt, daß seine Lider schwerer werden, und achtet noch darauf, was gerade im Film passiert, damit er morgen weiß, zu welcher Stelle er vorspulen muß, dann sind ihm die Augen zugefallen, während er noch die Stimmen und Geräusche vom Film, der weiterläuft, bis zum Ende, jede Nacht, im Ohr hat.
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8. Dezember
Nürnberg. Hugendubel .
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19. Januar
Messe Frankfurt.
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Wallner wählt um 17:24 Uhr von seinem Büro aus die Durchwahl der Buchhaltung, um Ana Bescheid zu sagen, daß er so in 20 Minuten fertig sein werde und daß sie dann zusammen nach Hause fahren können, beim zweiten Klingeln ist ihm eingefallen, daß Ana ja gar nicht in der Firma ist, weil sie heute morgen mit Costin mit der Bahn nach Regensburg und von dort mit ihrer Mutter in deren gebrauchten Audi-Kombi zum einwöchigen Verwandtenbesuch nach Bukarest aufgebrochen ist.
Eine Viertelstunde später hat Wallner Wiget abgeholt. Wie ein paar Tage zuvor besprochen, nachdem Anas und Costins Reise feststand, ißt Wallner heute abend und morgen nicht zu Hause in Siechen, sondern bei den Wigets in Chammünster und schläft auch bei ihnen. Weil Wiget noch etwas aus der Apotheke am Marktplatz braucht, ist Wallner schon einmal vorausgefahren, die Pappelallee entlang, gibt am Tor der Wiget-Villa die Zahlenkombination ein, die Torflügel öffnen sich, Wallner parkt den Volvo in der Garage.
Astrid und er begrüßen sich im Windfang, sie trägt so einen kurzärmeligen lila Angora-Pulli wie Ana auch einen besitzt, Ana hat ihn viel zu selten an. Astrid sind die blonden Lokken in die Stirn gefallen, das sieht sexy aus.
Astrid fragt: „Wie war dein Tag, Schatz?“, gleich danach lacht sie kurz auf.
Wallner stellt seine Reisetasche im Windfang ab, während er die Kellertreppe heruntersteigt, um am Kleiderständer im Flur sein Sakko aufzuhängen. Als er sich gegenüber von Astrid auf das Sofa im Wohnzimmer setzt, erzählt er ihr von dem Telefongespräch mit Brandenburg heute, bei dem er positive Signale erhalten habe. Astrid erzählt ihm, daß sie einen harten Tag gehabt habe, auf der Station sei heute der Teufel los gewesen. Wallner erkundigt sich, ob es Thea, Astrids Sorgenkind auf der Station, heute besser gegangen sei oder ob sie noch immer so schlecht auf die Chemo reagiere.
Maximilian — Maximilian nach Ulrich Wigets Vater Maximilian Wiget — und Patrick — Patrick wie Patrick Sujet, der Sänger — sind ins Wohnzimmer gekommen. Beide tragen Turnschuhe, kurze Hosen und T-Shirts, Patrick dribbelt mit einem Basketball auf der Stelle.
Wallner sagt: „Hey“ und versucht, die beiden in die Seite zu zwicken.
Maximilian sagt, daß sie eine Runde auf dem Platz gegenüber spielen werden, und fragt, ob Wallner mitwolle.
Wallner ist in den Keller gegangen und hat sich Wigets Turnschuhe, die in der Garderobe stehen, angezogen. Auf dem Sportplatz haben zuerst Wallner und Patrick ein Team gegen Maximilian gebildet. Immer wenn Patrick Wallner den Ball über seinen Bruder hinweg zuwirft, ruft er: „Stefan.“ Wallner macht zwei Schritte auf den Korb zu, Maximilian springt abwehrend in die Höhe, Wallner fälscht den Ball ab und ruft: „Patrick.“ Während dann Maximilian und Patrick gegen Wallner spielen und er immer seltener angegriffen oder abgewehrt hat, haben Maximilian und Patrick, vor Wallner hin und her dribbelnd, immer wieder herausfordernd gesagt: „Na komm“ oder „Komm schon“ oder „Nicht so schlapp, Opa.“
Zurück im Keller des Wiget-Hauses duscht Wallner und geht mit umgebundenem Handtuch in das Gästezimmer neben dem Badezimmer. Er öffnet den Wandschrank, in dem sich neben ausrangierten Röcken, Blusen von Astrid und Anzügen von Wiget auch Kleidungsstücke von ihm befinden. Als Wallner ins Eßzimmer im Erdgeschoß tritt, sitzen Wiget und Astrid bereits am Tisch. Maximilian und Patrick haben sich noch kurz dazugesellt, sie haben sich umgezogen und riechen nach Jasmin. Maximilian und Patrick werden in die Disco in Vilzling fahren, die früher, wie Wallner weiß, Jungle hieß, jetzt aber wahrscheinlich einen anderen Namen trägt, der Besitzer ist jedenfalls nicht mehr derselbe. Maximilian und Patrick sagen, daß sie in einen der Theme-Clubs im neuen Entertainment-Areal Richtung Furth im Wald fahren, von dessen Neueröffnung Wallner aus der Zeitung erfahren hat, Costin, der ihm am ehesten mehr darüber sagen könnte, ist dort noch nie gewesen, das wüßte Wallner. Der Theme-Club habe das antike Rom als Motiv, das Innere sei wie ein Tempel eingerichtet, mit Säulen, die Bedienungen servieren in Togen, die Cocktails, so Maximilian, seien nach römischen Gottheiten benannt. Die Disco in Vilzling gebe es seit ungefähr zwei Jahren nicht mehr.
Nach dem Essen gehen Wallner und Wiget ins Wohnzimmer, Wallner öffnet die untersten Türen des linken Schranks neben dem Fernseher, um die DVD mit der polnischen Tragikomödie, dem Oscar-Gewinner für den besten fremdsprachigen Film letztes Jahr, herauszusuchen. Als er seine Finger an den Rücken der Hüllen entlanggleiten läßt, fällt sein Blick auf den Spielfilm über den Einsatz der Bundeswehr in Angola vor einigen Jahren, den er Anfang des Jahres im Kino zu sehen versäumt hatte. Während der ersten Minuten des Films, in dem anhand von Dokumentarmaterial die Geschichte des Bürgerkriegs in Angola und der Beschluß der EU-Staaten, eine europäische Eingreifgruppe aus mehreren tausend Soldaten nach Luanda zu entsenden — Zentrum der Kämpfe und Titel des Films —, erzählt wird, schaut Wallner zu Wiget, weil er noch kurz über Brandenburg sprechen möchte.
Wiget hat die Augen nur halb geöffnet und hält sich mit einer Hand ein Kissen vor den Bauch. Wallner weiß, daß Wiget müde ist und daß es zu keinem befriedigenden Gespräch über Brandenburg kommen würde. Astrid hat sich schon ihren Pyjama angezogen. Wallner kann sehen, wie sich unter dem Oberteil ihre Nippel abzeichnen. Weiß Astrid das? Weiß sie, daß Wallner das bemerkt? Möchte sie das? Was bedeutet das? Sie kommt ins Wohnzimmer und setzt sich zwischen Wiget und Wallner.
Im Film hat die eigentliche Handlung, die fiktiven Einzelschicksale einer sechsköpfigen deutschen Special-force-Truppe, begonnen. Jeder Soldat geht anders mit der Nachricht um, nach Luanda entsandt zu werden. Der eine hält eine Abschiedsfeier mit seiner Familie und seinen Freunden, die andere sitzt mit Tränen in den Augen im Arm ihres Freundes auf der Couch et cetera. Astrid sagt, daß sie sich das nicht ansehen könne. Sie steht auf und sagt, die Hände vor der Brust verschränkt, Wiget und Wallner gute Nacht.
Im Film springt die sechsköpfige Special-force-Truppe zusammen mit anderen Bundeswehrsoldaten über der Küste Luandas mit dem Fallschirm ab. In das Spielfilmmaterial sind die bekannten Amateurvideoaufnahmen hineingeschnitten, die, von der Küste aus gemacht, die unscharfen Gestalten in der Luft und im Wasser zeigen. Viele Soldaten werden von den Kugeln der Rebellen getroffen, die plötzlich, vollkommen unerwartet, zu feuern beginnen, Leichname treiben an Fallschirmen im Meer, darunter auch der eines Soldaten aus der deutschen Special-force-Truppe. Seine Kameradin hebt seinen Kopf an den Haaren aus dem Wasser, erkennt ihn und schreit auf.
Ulrich Wiget sagt: „Ich weiß, daß du an Brandenburg denkst. Du denkst, daß wir den Auftrag bekommen und daß wir uns nach neuen Zulieferern umsehen sollten. Und du denkst noch einen Schritt weiter. Du denkst, daß, wenn Brandenburg gut über die Bühne geht, wir dann Anteile an Chutkowski in Danzig kaufen können und vielleicht auf lange Sicht die ganze Firma. Ich glaube auch, daß wir Brandenburg bekommen werden. Gries ist schon längst aus dem Rennen, und unsere Bilanz ist besser als die von van Riet. Ich werde am Montag in Riga anrufen und sehen, was deren Angebot für Schaufeln wäre.“
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