Wiget sagt, er werde noch eine halbe Stunde machen und dann gehen und sich die Akten heute abend zu Hause vornehmen. Er bleibt vor der Tür zum Sekretariat stehen. Er habe ein gutes Gefühl.
Wallner sagt, sie sollten sich morgen noch einmal zusammensetzen, um genau zu besprechen, wer von ihnen was bei der Konferenz sagt.
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Das Auto der Familie ist von hoch oben aufgenommen, von einem Hubschrauber aus. Das Auto fährt die Windungen einer Gebirgsstraße entlang. Die Hänge der Berge sind überwiegend unbewaldet und von hellgrünem Gras bewachsen. Eine Synthesizer-Melodie setzt ein, die das Dies-Irae -Motiv variiert.
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Er schließt die Haustür hinter sich. Man müßte noch einmal überlegen, ob man nicht doch einen zusätzlichen Vertreter für Tschechien braucht. Wallner ist durch den Flur gegangen und hat plötzlich bemerkt, daß er seine Straßenschuhe angelassen hat. Ana hat ihn gebeten, immer die Straßenschuhe auszuziehen, wenn es geregnet hat. Der Boden wird sonst so dreckig, und sie ist dann jeden Tag am Putzen.
Die Eßzimmertür ist angelehnt. Dahinter hat Ana etwas auf rumänisch, dann auf deutsch gesagt. Wallner hat „Verkauf der Firma“ und „Entmündigungsverfahren“ herausgehört.
Costin lacht laut und erwidert: „Ja, aber das spannt der Tata ja nie.“
Auch Ana lacht, als Wallner ins Eßzimmer tritt. Sie blickt ihn überrascht an.
Costin sagt: „Servus, Tata. Wir haben gerade darüber geredet, wie du und Mama euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Costin sagt: „Doch. Wir haben gerade darüber geredet, wie ihr euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt lauter, als er eigentlich wollte, er schreit ja fast, denkt er, als er die ersten Wörter spricht: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Er schaut in die erschreckten Gesichter Costins und Anas.
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Da steht Witte im Blaumann vor seinem roten Golf.
Wallner ruft: „Einen schönen Abend noch“ und winkt.
Als Wallner und Wiget die insolvente Firma von Karl Lindinger kauften, übernahmen sie die meisten der damaligen Beschäftigten, zu denen auch Witte gehörte. Wallner und Wiget haben durch diesen Kauf die Jobs von 83 Beschäftigten gerettet. Seit Wallner Witte zum Chefmonteur befördert hat, ist Witte seine Kontaktperson zu den anderen Monteuren. Witte sagt Wallner, was man in der Halle so erzählt. Ab und zu, vielleicht einmal alle zwei Monate, laden die Wittes Wallner und Ana zum Essen zu sich ein. Frau Witte bäckt ihr eigenes Brot.
Da ist Frau Beck. Sie stöckelt zu ihrem silbernen Ford in der mittleren Reihe auf dem Parkplatz. Frau Beck hat kurz in Richtung Wallner und Ana gelächelt und sich eine Strähne aus der Stirn gestrichen. Wallner hat zurückgelächelt.
Fakt ist, daß Wallner ihr und ihrem Mann damals geholfen hat, eine größere Wohnung zu finden. Fakt ist auch, daß Wallner und Ana als eine Art Revanche bei Frau Becks Hochzeit eingeladen waren, von der ein Foto existiert, das Wallner, Ana und das Brautpaar zeigt und das in der letzten Reihe von Fotos auf der Kommode im Wallnerschen Wohnzimmer steht. Fakt ist weiter, daß Wallner Herrn Beck eine Stelle im Lager beschafft hat, obwohl es bessere Bewerber gegeben hätte. Fakt ist schließlich, daß Wallner der Taufpate von Justin Beck, dem Sohn der Becks, geworden ist.
Wallner und Ana steigen in ihren hellroten Volvo, Ana fährt. Da ist Breitenbacher. Er kommt aus dem Pförtnerhäuschen, klappt die Schranke hoch, als er den Volvo anfahren sieht. Wallner winkt Breitenbacher aus dem Fenster.
Breitenbacher fährt jedes Jahr mit seiner Frau Yvonne oder Petra Breitenbacher, Wallner weiß nicht mehr genau, wie sie heißt, im Sommer nach Spanien, von wo sie Wallner immer eine stark riechende Peperoni-Salami mitbringen.
Wallner fragt Ana, ob sie die 31 wolle. Ana nickt. Er ruft auf dem Handy beim Chinesen an, er bestellt einmal die 30 und einmal die 31. Am Marktplatz vor dem Restaurant ist Ana ausgestiegen und das Essen holen gegangen, Wallner wartet im Auto, er will es nicht riskieren, den Humpfmüller oder Schwaiger zu treffen, die sich, glaubt er, gerade in der Stadtratssitzung im Rathaus gegenüber befinden.
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Ana biegt in das Wohngebiet ein. Als sie von Regensburg nach Cham gezogen waren, war das Wohngebiet im Stadtteil Siechen ein Neubaugebiet, von dem nur ein Schachbrett aus geteerten Straßen um leere Quadrate existierte, hier und da Gruben, Rohbauten, erst zwei fertige Häuser, eines davon ihres. Costin hatte den Ausschlag gegeben, hier und nicht etwa neben dem Gewerbepark und der Firma, in Chammünster, zu bauen. Zwar hatte Costin noch gar nicht existiert; ein Kind war zum Zeitpunkt des Umzugs aber Teil der Planung gewesen, das Neubaugebiet würde eine familienfreundliche Umgebung sein; Wallners und Anas Tochter, Johanna (Wallners Wunsch), oder Sohn, Costin (Anas Wunsch), würde nicht nur sicher in einer Tempo-30-Zone aufwachsen und durch die anderen Kinder des Gebiets, die hier einmal wohnen würden, schnell Gesellschaft haben, sondern sie/er hätte es auch nicht weit zum Kindergarten, zur Grundschule und später zum Gymnasium, sie/er würde aufs Gymnasium gehen.
Nächstes Jahr macht Costin Abitur, das er bestehen wird. Costin wird als zu berücksichtigender Faktor wegfallen. Es wäre möglich, ein Haus neben der Firma in Chammünster zu bauen, vielleicht sogar in derselben Straße, der Pappelallee, in der die Villa der Wigets steht.
Wallner und Ana steigen aus. In den Fenstern der anderen Häuser brennt Licht, Wallner kann die Umrisse von Frauen ausmachen, die vom Abendessenkochen gerade einen kurzen Blick nach draußen werfen, ihn beobachten, von den Rentnern, immer diese Rentner überall, einen sieht Wallner jeden Sonntagnachmittag auf dem mit Topfpflanzen zugestellten Balkon schräg gegenüber, natürlich ideal, um sich ein wenig zu verstecken.
In der Diele öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und bückt sich, um sie auszuziehen. Aus dem Wohnzimmer sind Stimmen zu hören. Er knöpft sich schnell die Hose wieder zu. Irgendwer hat zu singen angefangen.
Als Wallner durch die angelehnte Wohnzimmertür tritt, hat Costin, in der Mitte des Zimmers, getanzt, dabei gesungen, auf dem Sofa haben ihm zwei Jungen zugeschaut, seine Freunde aus der Schule, der mit den ausgebeulten Hip-Hop-Hosen heißt Markus oder Marco, der andere, der Untersetzte mit dem Mecki, hat diesen Namen, bei dem Wallner zuerst dachte, er sei ursprünglich griechisch oder spanisch, bevor er von Ana erfuhr, daß Quirin eigentlich altbayerisch sei. Aus den Styroporschachteln auf dem Wohnzimmertisch riecht es nach indischem Essen, daneben stapeln sich Comic-Hefte.
Bevor er mit dem Singen und später mit dem Tanzen anfing, hatte Costin exzessiv Comics gesammelt, im Urlaub hatte seine Lektüre ausschließlich aus irgendwelchen Heften bestanden, im Haus hatten sie haufenweise herumgelegen, auf dem Fußboden, den Stühlen, dem Sofa, oft zerfledderte und vergilbte Dinger, die aussahen, als wären sie noch vor Costins Geburt erschienen. Costin und seine Freunde saßen auf der Terrasse oder, wie jetzt, im Wohnzimmer zusammen, hatten Hefte getauscht, ja ver- und gekauft. Die hatten ein regelrechtes Geschäft am Laufen.
Quirin und der andere Junge haben es nach der Begrüßung sichtlich eilig zu gehen. Als sich die beiden verabschieden, sagt Costin, er komme gleich nach, sie sollen beim Auto auf ihn warten, woraufhin sie irgend etwas erwidert haben, schnell, lachend, irgend etwas, was Wallner nicht verstanden hat. Costin hat offenbar seinen Freunden seine neueste Einstudierung vorgeführt. Es drängen sich in diesem Moment Fragen auf. Ist es möglich, daß Costin tagsüber, wenn Wallner und Ana nicht zu Hause sind, in seinem Zimmer, in dem, fällt Wallner ein, er, Wallner, schon lange nicht mehr war, den gerade hier anwesenden Schulfreunden nicht nur etwas vortanzt, sondern sich mit ihnen auch auf eine nicht mehr gänzlich harmlose Art und Weise vergnügt? Wobei statt Schulfreunden auch Schulfreundinnen denkbar wären, Ana hatte einmal etwas von einer Christina erzählt, mit der Costin gehe. Gäbe es Wege, Costins bi- oder heterosexuellen Abenteuern nachzugehen?
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