Wendy sieht an die weiße Zimmerdecke, schließt die Augen und gerät ins Tagträumen. In Gedanken geht sie durch die Wohnung. Jeder Gegenstand erzählt Wendy etwas. Da sind diese Aborigines-Bilder im Flur, so bunte Punkte, auf dem Boden liegt ein Quilt, den hat der Papa wahrscheinlich aus Australien. Das sind jetzt ihre Bilder, ist jetzt ihr Quilt. Wendy gehört die Wohnung. Wendy gehört das Label. OK — —: Ihr sind im Prinzip die Hände gebunden. Jo und Jennifer haben volle Entscheidungsfreiheit. Trotzdem. Wendy fragt sich, wie der Papa sich so als Besitzer des Labels gefühlt hat: Fühlt man sich mächtig, wenn man so ein Label hat? Oder hat man Angst, liegt in ruhigen Momenten hier auf dem Bett, mit geschlossenen Augen, und geht die Termine durch, die man die Woche noch wahrnehmen muß?
Das Wohnzimmer! Das Wohnzimmer ist geradezu ideal für kleine gepflegte Feiern. Papa hat hier oft kleine gepflegte Feiern mit Künstlern vom Label veranstaltet. Die KOPs waren hier, Tau war hier, und man hat auf den Erfolg des neuen Albums angestoßen. Der Papa ist oft mit dem Handy hier durch die Wohnung gegangen, Wohnzimmer, Flur, Schlafzimmer, Flur, Wohnzimmer, hat wichtige Gespräche geführt. Romy hielt sich die ganze Zeit über im Hintergrund. Lauerte. Hier ein Scheinchen für das neue Outfit, hier eine Überweisung für das neue Demo. Zunge raus — schnapp! Geld weg. Romy, die Schlange. Obwohl das Bettzeug frisch gewaschen ist, haben vorhin noch ein, zwei lange schwarze Haare darin gelegen, Romy-Haare; wahrscheinlich überall in der Wohnung, auf dem Teppich, auf dem Boden: ihre Schuppen, klein und spitz und glitzernd, wenn die Sonne hier in der Früh reinscheint.
Im Morgenlicht vorhin auch besonders auffallend: die hellen Umrisse an der Wand, die Abdrücke auf den Teppichen, dort, wo einmal Sachen von Romy standen, Bilder, Möbel und so weiter, die sie bei ihrem Auszug mitgenommen hatte. Das Atelier zum Beispiel ist bis auf den Schreibtisch, einen Stuhl und die Ottomane in der Ecke vollkommen leergeräumt. OK. Ein Foto steht da noch, auf dem Tisch, in einem silbernen Bilderrahmen, dieses Foto von Papa, wie er vielleicht 20 war, im Anzug, neben einer Frau, die, dem Aussehen nach, seine Mutter sein könnte. Die Nase, der Mund, das Haar. Wendy sollte nach Bildern suchen, um zu wissen, wie Costins Mutter, also Wendys Oma, ausgesehen hat. Im Hintergrund ist auf dem Foto ein Tisch mit Essen zu erkennen, ein Buffet, um das Leute stehen. Das Foto wird auf der Abizeugnisverleihung vom Papa aufgenommen worden sein. Papas Vater wird das Foto gemacht haben. Das Foto muß nach all den Jahren wichtig gewesen sein für den Papa. Vielleicht, weil er da besonders glücklich war. Vielleicht hat er’s angeschaut, wenn er gar nicht mehr wußte, wie seine Mutter ausgesehen hat, wenn er sie vermißt hat. .
Das Foto als unumstößlicher Beweis für die Realität.
Steht das nicht so bei Barthes? Genau. In den Aufsätzen, die Wendy in ihren Seminaren in Oxford gelesen hat. Ein Foto erinnert an einen Moment, der da war und jetzt weg ist, aber er war da, real, ebenso wie die Menschen vor der Linse. Das sagt Benjamin, das sagt Barthes, das sagt Sontag.
Wendy fühlt sich auf dem Bett einen Moment befriedigt, weil sie die gelernte Theorie auf das wirkliche Leben anwenden kann. Gleich darauf hat sie so fazitmäßig das Gefühl, daß es immer eine Schicht geben wird — sie nennt das, natürlich total dilettantisch: „das Reale“ —, zu der sie wahrscheinlich nie vordringen wird, das, was im Kopf vom Papa so vorging, was er dachte, was er sah, wenn er die Augen zumachte.
Wenn sie sich morgen hier in der Wohnung alles angeschaut hat oder vielleicht noch später, wenn sie im Sommer aus Oxford zurückkommt, räumt sie hier mal alles um. Sie hat schon eine ziemlich genaue Vorstellung, wie das Wohnzimmer und das Atelier aussehen sollen.
Das kommt dorthin und das dahin.
Wendy öffnet die Augen und schaut an die weiße Zimmerdecke.
07
„Das ist Österreich.“
Klaus ist von ihrem Bett aufgestanden, steht mit dem Teller in der Hand vor ihr, grinsend. Als sie mit dem Messer in die noch dampfenden Salzburger Nockerln einsticht, um ihm ein Stück abzuschneiden, fallen sie in sich zusammen.
Es sind ihre zweiten Salzburger Nockerln. Die ersten hatte sie letzten Sommer mit Therese zu Hause gemacht. Therese hatte dabei noch immer das Kochbuch ihrer Mutter benutzt, das in Frakturschrift gedruckt ist und den obskuren Namen Wiener Gasküche trägt (zu allem Überfluß hieß der Autor auch noch O. Heß). Nur dieses Rezept, das Therese Wendy auf einem Zettel aufgeschrieben hat und dessen Anweisungen Wendy den ganzen Nachmittag über, unten, in der Gemeinschaftsküche, peinlich genau befolgt hat, führt auch zu eben jenen Salzburger Nockerln, die Wendy seit ihrer Kindheit gewohnt ist und die sich im Geschmack von den Salzburger Nockerln, die man im Restaurant serviert bekommt, deutlich unterscheiden, ohne daß Wendy genau sagen könnte, wie.
Wendy balanciert mit Messer und Gabel ein Stück Salzburger Nockerln auf den Teller von Klaus und sagt: „Salzburg.“ Dieser Wortwechsel ist codiert.
Klaus von der FU Berlin schreibt seine Thesis über den Einfluß der österreichischen auf die britische Gegenwartsliteratur. Auf der Party am Samstag, auf der Jeremias, einer ihrer Kommilitonen, Wendy Klaus vorgestellt hatte, hatte Klaus nach einer Weile begonnen, von den Vorzügen Österreichs zu labern, die Seen, oh, die Süßspeisen, ah. Wendy hatte mit eingestimmt, weil sie plötzlich Heimweh bekommen hatte.
Als Klaus dann aber damit anfing, wie sehr Deutschland doch eigentlich Österreich bewundere — Deutschland fühle sich minderwertig, deshalb Ösi-Witze, schon seit Jahrzehnten, es gebe da sogar eine Magisterarbeit, Der Ösi-Witz , von einem Typen in Heidelberg, in Deutschland werde damit die Trennung von Österreich verarbeitet, so Klaus’ Theorie, die Trennung von der kleinen Schwester sozusagen — Freud, genau —, mit der es sich vereinigen wolle, Deutschland mit Österreich, Wendy verstehe (Klaus: Blick in Wendys Augen) —, da hatte Wendy Klaus dummerweise schon zu einer kleinen Runde bei sich zu Hause eingeladen, obwohl inzwischen, trotz zweier Pints britischen Bieres, Wendys in vier Jahren Studium angeeignete und wahrscheinlich auch noch im Schlaf abrufbare Textanalysefähigkeiten sie zu dem Schluß haben kommen lassen, daß Deutschland für Klaus, Österreich für sie, Wendy, die Seen für ihre körperlichen Reize und die Süßspeisen für den Sex mit ihr standen, Klaus würde sie gern „vernaschen“.
Mit „Salzburg“ widerspricht Wendy Klaus, ohne unhöflich zu sein, und gibt ihm zu verstehen, daß er die anzüglichen Anspielungen seinlassen soll.
Dieter aus Freiburg, der im Schneidersitz neben Klaus auf Wendys Bett sitzt, schaltet sich ein. Er fragt, ob er noch ein Stück haben könne, und lächelt dabei, zum ersten Mal an diesem Abend. Dieter steht auf Wendy. Genau so hat er ihr das mal nach dem Seminar gesagt.
„Wendy?“
„Ja?“
„Ich steh auf dich.“
Rote Birne. Bodenblick. Und weg war er.
Wendy war geschockt gewesen. Weil Dieter sonst im Seminar immer einen ganz normalen Eindruck gemacht hatte, nie um einen klugen Beitrag verlegen, auch sonst durchaus charmant und witzig. Alles Staffage also. Wenn es ans richtige Leben kam, dann wußten solche Typen halt nicht Bescheid.
Wendy denkt jetzt, während sie ein weiteres Stück aus den Salzburger Nockerln schneidet, Klaus ist ein Süßer. Wendy hätte gerne nach dem Seminar mit ihm Kaffee getrunken oder so, er hätte sie ruhig noch mal was fragen können, „Wollen wir mal ins Kino gehen“, oder „Wendy, was machen eigentlich deine Eltern?“ Aber seit seiner Aktion war er ihr aus dem Weg gegangen und hatte auch keinen besonders erfreuten Eindruck gemacht, als Wendy ihn zu sich einlud. Insofern deutet Wendy jetzt seine Nachfrage und sein Lächeln dahingehend, daß es ihm hier gefällt und er doch weiterhin an ihr interessiert ist.
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