



01
Und dann der hohe Ton, der jetzt schon eine Ewigkeit erklungen ist, der hastig gesprochene Dialog zwischen dem Arzt und der Krankenschwester, seine Frage nach Puls, Atmung, ihre immer gleiche Antwort, nach jedem Elektroschock, durch den Costin, durch den ihr Papa auf dem Bett in die Höhe geworfen wurde, den Rücken durchgestreckt, und dann plötzlich — — Ruhe.
Jemand schaltet die Apparate neben dem Bett ab.
Sie hat die ganze Zeit wie angewurzelt auf der anderen Seite des Zimmers gestanden und auf ihren Papa, sein Gesicht gestarrt, das schüttere schwarzsilberne Haar, die gar nicht blassen, sondern leicht geröteten Wangen, wäre der Schlauch nicht, er sähe so aus, als lebe er noch, würde die Hand heben, gleich was sagen, irgendwas.
Erst als der Arzt den Mundschutz herunterzieht, die Handschuhe abstreift und der Schwester in demselben Tonfall, in dem er vorhin die Fragen an sie gerichtet hatte, diktiert: „Bitte notieren Sie, Zeitpunkt des Todes. .“, da will Wendy zum Bett vor, ruft sie: „Aber der lebt doch noch! Der ist doch gar nicht tot, der ist. .“
Jo hat sie zurückgehalten. Sie hat die Krankenschwester, den Arzt angeschaut, die Blicke sind mitfühlend gewesen, die Schwester sagt: „Kommen Sie, Frau Scharnagel, jetzt setzen wir uns dorthin.“
Wendy will nicht mitfühlend angeblickt werden. Sie will ihrem Vater noch etwas sagen. Sie möchte mit ihm sprechen können. Und sie dreht sich um, sie weint, und drückt sich an Jo und wünscht sich, Jo wäre in diesem Moment Esther, und sie weint in Jos Pulli, der nach Waschmittel riecht, „Aber ich will dem Papa doch noch was, ich möchte doch noch dem Papa.“
02
Und sie geht in ihrem Hotelzimmer zum x-ten Mal auf und ab, inzwischen nimmt sie die Möbel, den Teppich, das Fenster gar nicht mehr wahr, ständig sieht sie nur dieses Bild vor Augen, wie Costin daliegt. . wie sich sein Rücken durchstreckt vom Elektroschock. . dieser Schlauch in seinem Mund. . und sie fühlt dann wieder dasselbe Gemisch aus Angst und Panik, das sie vor ein paar Stunden im Krankenhaus gefühlt hat, sie möchte jetzt nur, daß Esther endlich da ist, Esther hat gesagt, ihr Flieger komme um sieben, es ist doch schon nach sieben, Esther muß doch schon gelandet sein, Esther muß bald kommen, sie muß in spätestens einer Stunde an die Tür klopfen, Wendy denkt, vielleicht wird sie über das hier gerade mal etwas in ihr Notebook schreiben, wie sie hier in einem Hotelzimmer in Berlin-Mitte hin und her läuft, wie sie auf Esther wartet, wie ihr Papa gestorben ist, wie er ausgesehen hat, da, im Krankenhaus, aber später einmal, jetzt kann sie das nicht, jetzt hat sie keine Ruhe.
Sie legt sich ins Bett und steht wieder auf.
Sie schaltet die Plasma-Wand ein und schaltet sie wieder aus.
Sie setzt sich an den Schreibtisch, um etwas am aufgeklappten Laptop in ihr Tagebuch zu schreiben.
Und der Cursor hat hinter dem „21. Oktober“ geblinkt und geblinkt und geblinkt, und sie steht wieder auf.
Sie zieht sich die Hose runter, die Unterhose, setzt sich aufs Klo, und sie steht wieder auf, weil sie nicht pinkeln kann.
Sie schaltet die Plasma-Wand an und schaltet sie wieder aus.
03
Und Esther flüstert ihr ins Ohr: „Ist ja gut, es ist ja gut“ und hält sie und wiegt sie hin und her, und Wendy weint in ihre Schulter und spürt, wie Esthers Bluse ganz naß wird, und sie schaut Esther an und hält ihr Gesicht mit beiden Händen fest, und sie küssen sich, küssen sich auf den Mund, lange, und Wendy schließt die Augen dabei.
04
Die Windböen, Vorläufer des heraufziehenden Unwetters, haben ganz hinten, wo die Straße am Friedhof vorbeiführt, von den hohen Pappeln oder Birken die letzten Blätter geweht, gelb, braun. Der Pope oder wie auch immer der Pfarrer der griechisch-orthodoxen Kirche heißen mag, hat jetzt wieder zu sprechen begonnen, mit lauter monotoner Stimme. Das Ende seines langen Barts ist wie ein Schlips auf seiner rechten Schulter gelegen, und sie hat wieder auf den Sarg auf den Brettern über dem Loch, dem schwarzen Loch des offenen Grabs, den Schlund, geschaut und hat auf einmal weinen müssen, obwohl sie doch diese Beruhigungstropfen genommen hat, damit genau das nicht passiert.
Sie hatte an den Vati denken müssen — also Albert, nicht Costin: Costin ist der Papa —; daß sie den Vati, weil sie ja erst neun war, als er bei diesem Autounfall starb, daß sie den Vati, abgesehen von ein paar Erinnerungen, den Erzählungen von der Mama und den Fotos natürlich, den zwei, drei Urlaubsvideos, daß sie ihn gar nicht wirklich kannte, und daß sie sich in all der Zeit nach dem Autounfall, abends vor dem Einschlafen zum Beispiel, daß sie in all der Zeit mit dem Vati in Gedanken gesprochen hatte und daß sie sich vorgestellt hatte, daß der Vati ihr Tips bei Problemen geben, daß er sie von den Klassenfeiern abholen würde und dann alle ihren Vati sehen und ein bißchen neidisch sein würden, wie sie sich auf Spaziergängen bei ihm einhängen, wie er sie in den Arm nehmen würde, und sie hat gespürt, wie sehr sie sich doch in diesen letzten Monaten, als der Papa, also Costin, und sie sich so langsam angefreundet hatten, wie sehr sie sich da gefreut hatte, daß jetzt tatsächlich der Papa das für sie sein und das machen würde, was sie sich all die Jahre zuvor immer gewünscht hatte, ohne daß sie gewußt hatte, daß es ihn, Costin, gab, geschweige denn, daß er ihr richtiger Vater war, und ihr ist plötzlich wieder klargeworden, daß es jetzt zu all dem nicht mehr kommen würde, und diese Wünsche, die sie hatte, obwohl es eine Zeitlang möglich schien, nie mehr in Erfüllung gehen würden — — nie mehr.
Esther hat sich bei ihr eingehängt und ihr über den Arm gestreichelt. Wendy beruhigt sich, schluchzt noch ein paarmal auf, schaut auf den Sarg, wie er jetzt auf Kommando heruntergelassen wird.
Daß es das Gesteck aus gelben Rosen darauf nicht wegweht. .?
Sie hat kurz zur Mama neben sich geschaut.
Die Mama weint ja gar nicht —.
Steht nur da, mit weit aufgerissenen Augen hinter der Sonnenbrille, mit leicht geöffnetem Mund, den Blick auf dem Sarg, ganz unten, im Schlund des Grabs, kaum mehr zu sehen. Nur noch das Gesteck schimmert.
Wendy hat geglaubt — die ganze Zeit über, seit Beginn der Beerdigung —, gespürt zu haben, daß die Mama neben ihr weint. Der Mama wird es so ziemlich wie ihr selbst, Wendy, gehen. Sie wird gerade dabei zusehen, wie ihr zweites Leben, das sie sich so erhofft hatte, wie es buchstäblich begraben wird. Die Mama und sie haben nie wirklich darüber gesprochen, was eigentlich dazu geführt hatte, daß sie plötzlich Kontakt zu Costin aufgenommen hatte. Aber Wendy kann sich schon so ihren Reim darauf machen. Die Mama hatte endlich den Tod vom Vati überwunden, sie war jetzt noch nicht so alt, als daß man da nicht noch einmal was Neues aufbauen hätte können, 54 eben, und Wendy war fast erwachsen. Wendy weiß noch, wie nervös die Mama vor dem ersten Treffen mit dem Papa damals gewesen war — sie hatte Wendy ein wenig an ihr eigenes erstes Date erinnert — und wie die Mama danach im Bus gestrahlt hatte: Der Papa hatte ihr gefallen, das war zu sehen gewesen. Wendy hatte das damals, im Bus, überhaupt nicht in den Kram gepaßt, als ihr klargeworden war, daß es hier eigentlich mehr um die Mama als um sie selbst ging, und hatte was Böses gesagt. Aber die Mama hatte nur lächelnd aus dem Fenster geschaut und sich nicht die Laune verderben lassen. Wendy denkt an das Lied „No tears left to cry“ von den Los Angels . Die Mama. . hat keine Tränen mehr zum Weinen. Der Pope malt ein Kreuz in die Luft und spricht ein Gebet, das so ähnlich klingt wie das Vaterunser, aber nicht das Vaterunser ist.
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