Costin hat nichts gesagt, sondern nur den Arm um ihre Schulter gelegt. Er weiß nicht, was er da jetzt am besten sagt. Sie sind an dieser Stelle mit der Bank und dem schönen Ausblick auf die Stadt mit dem Mönchsberg im Hintergrund stehengeblieben. Wie immer, wenn sie an dieser Stelle stehen, muß Costin an diesen alten Film denken, den Ana so gern hatte und den er, noch wie er klein war, ja, man muß sagen: gezwungen war anzusehen, dieses furchtbare Musical, eigentlich nach rein geschmacklichen Kriterien ein Horrorfilm, über diese österreichische Familie, die im Dritten Reich in die USA auswandert, The Sound of Music , genau, so hieß der, da stand diese schwarzhaarige US-Schauspielerin, die eine österreichische Mami spielte — war es Audrey Hepburn? — , mit ihrer Riesenfamilie — wie viele Kinder hatte die denn, bitte? 20? —, da standen die also im Film auch mal an einer Stelle an der Salzach, vielleicht war das ja auch hier gedreht worden, er müßte sich mal schlau machen, diese Aussicht, die man dann da im Film gesehen hatte, die hatte tatsächlich ziemlich viel Ähnlichkeit mit der, die Wendy und er jetzt gerade vor sich haben, vielleicht auch deshalb, weil gerade das Licht irgendwo so hell ist und dadurch alle Farben stärker wirken, so frisch, wie das eben so ist nach einem Unwetter oder eben manchmal im Film, in so alten Technicolor-Teilen, aber vielleicht ist er auch nur gerade so glücklich, hier mit Wendy, und er bildet sich das alles bloß ein.
58
Da ist ein großer hellblauer Fleck und ein etwas kleinerer bunter, links und rechts von seinem Bett. Von seinem Bett? Moment. . warum liegt er denn in diesem Bett hier? Er ist zusammengeklappt. Richtig. In der Hotellobby ist er gerannt und hingefallen, nein, Moment, das war wann anders, er konnte sich nicht mehr bewegen, und Romy hat ihn ins Krankenhaus gefahren. Er ist im Krankenhaus. Ja. Ein Arzt hatte doch hier vor ein paar Wochen, zwei, drei, höchstens drei, gestanden, an seinem Bett, war das nicht dasselbe Zimmer gewesen? irgendwas von Verdacht auf Thrombose hatte der gesagt, von einer akuten Situation. Der Termin für eine Operation war der Donnerstag gewesen, ja, sie hatten ihn operiert, und er hatte diese Angst gehabt, daß sie ihm sein Bein abnehmen, daß er sein rechtes Bein verliert, obwohl die Schmerzen kaum mehr auszuhalten waren, davor hatte er Angst gehabt, daß er nach der Narkose aufwacht, und sein Bein ist nicht mehr da, sie hatten sein Bein drangelassen. Ja. Er wird jetzt gleich noch mal nachsehen. Ob es da ist. Es hatte zu Hause im Apartment Megastreß gegeben. Mit Romy. Richtig. Als die Rede davon war, daß entweder sie ihn pflegt oder daß jetzt eine Pflegerin kommt. Romy war total hysterisch geworden. Sie hatte zwar vor der Operation gesagt, sie kümmere sich zu Hause um ihn, aber nach der Operation war es losgegangen, das kann ich nicht, das ist zuviel, wer bin ich denn. Genau. Er müßte noch mal dringend mit Julian reden. Nein. Mit Jo. Wo ist Jo? Er möchte sich bewegen. Er kann sich nicht bewegen. Warum kann er sich nicht bewegen? Es ist ja eigentlich alles geklärt. Daß das Label nicht an einen Major verkauft wird. Daß Jo und Jennifer es weiterführen. Das ist doch alles besprochen worden. Bevor er hierherkam. Haben sie das alles besprochen? Er glaubt sich da an eine letzte Sitzung bei ihm zu Hause zu erinnern, im Wohnzimmer, sie hatten Pfefferminztee mit Rum getrunken. Ja. Als es ihm schon so schlechtgegangen war, hatten sie sich zusammengesetzt und einen Plan gemacht, was wenn und so weiter. Jo und Jennifer könnten verkaufen. Sie haben die Vollmacht. Sie könnten. Er kneift die Augen zusammen. Er versucht, den hellblauen und den bunten Fleck, links und rechts von seinem Bett, zu fixieren.
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Während er vor der Haustür auf Romy wartet, die noch den Briefkasten am Gartenzaun ausleert, hat er Stretching-Übungen gemacht. Er bekommt nach dem gemeinsamen morgendlichen Joggen, hier, zwischen Tutzing und Starnberg am See entlang, ab und zu einen Krampf im Oberschenkel. Sein Orthopäde hat ihm da ganz gute Übungen gezeigt. Wenn wie jetzt der Wind vom See zu ihrem Bungalow herüberweht, kann man sich schnell erkälten, so verschwitzt, wie er jetzt da steht.
„Kommst du dann, Schatz?“ ruft er Romy zu.
Bevor sie die Haustür aufsperrt, hat Romy ihm einen Kuß auf die Wange gegeben. Ihr Gesicht ist ganz kalt gewesen. Im Flur ist ihnen Lily um die Beine gestrichen. Er hebt sie am Nacken in die Höhe, hält sie wie ein Baby und sagt: „Na, meine Schöne, hast du mich vermißt, hast du Papa vermißt?“
Romy kleben die Haare in der Stirn. Sie öffnet ihre Trainingsjacke, auf ihrem orangen T-Shirt steht Wir zählen! — warum steht da Wir zählen! ? —, ihre Brüste zeichnen sich darunter ab.
Dieses Bild. Wie Romy so da steht. Irgendwie freut er sich, jetzt endlich ein ganz normales Leben führen zu können, doch noch verheiratet zu sein, wer hätte das gedacht? vorbei der ganze Streß mit dem Label et cetera.
Romy lächelt ihm zu. Er liebt Romy. Romy liebt ihn.
60
Es ist die Wohnung, in der er zusammen mit Mama in Bukarest gewohnt hat. Er zeigt Wendy die Küche. Wendy hat sich bei ihm eingehängt. Wie damals, bei ihrem letzten gemeinsamen Spaziergang, kurz bevor sie nach Oxford gegangen ist. Nichts hat sich verändert. Der nigerianische Flickenteppich ist noch da, der Tisch mit den abgeschlagenen Beinen, die Tageszeitungen darauf.
Er sagt: „Also, hier habe ich so ungefähr ein halbes Jahr zusammen mit meiner Mutter gewohnt.“
Wendy hört aufmerksam zu. Sie hat Interesse. Er geht zusammen mit Wendy in Regensburg von der Tiefgarage zum Haus von Frau Mayer.
Er sagt: „Frau Mayer ist, wie ich ein Teenager war, meine Gesangslehrerin gewesen.“
Wendy fragt: „Du hast Gesangsunterricht gehabt als Teenager?“
Er sagt: „Ja.“
Wendy sagt: „Toll.“
Sie stehen am Kai in Cairns. Das Meer ist ruhig. Es ist angenehm warm.
Wendy sagt: „Danke für die Reise und die Tage in Sydney. Das war total schön.“
Er klingelt an der Haustür. Wylie öffnet. Er stellt Wylie Wendy vor. „Das ist meine Tochter. Wendy. Sie studiert in Oxford.“
Seema und Uschi warten schon im Wohnzimmer. Sie werden sich zusammen die Mars-Landung ansehen. Wendy hat gesagt, daß sie gerne mitkommen würde. Er klingelt an der Haustür des Hauses, in dem sie in Cham zuletzt gewohnt haben. Eine ältere Frau öffnet.
Sie sagt: „Ich erkenne Sie. Sie sind Costin Wallner. Der mit der Plattenfirma.“
Er sagt: „Ja. Ich bin hier mit meiner Tochter. Sie hat mich gebeten, daß ich ihr einmal zeige, wo ich so herkomme. Sie interessiert sich für mein Leben.“
Die ältere Frau sagt: „Na, Sie haben aber eine tolle Tochter. Und gut sieht sie auch aus. Na, kommen Sie mal rein.“
Sein ehemaliges Kinderzimmer im Keller hat sich eigentlich gar nicht verändert. Da steht noch das Christopher-Bett, der Schrank mit den Comic-Stapeln.
Costin sagt: „Ja. Also richtig lange gewohnt habe ich hier eigentlich nicht, aber im ersten Haus in Cham hat es ungefähr genauso ausgesehen. Ja. Das hier ist mein Zimmer gewesen.“
61
Der linke hellblaue Fleck, der jetzt langsam an Konturen gewinnt, das muß Jo sein. Er spricht wie Jo. Jo ist treu. Der Fleck muß Jo sein. Er hat gerade „Costin“ gesagt. „Es ist ja alles gut“ oder „alles OK“ oder so. Das Summen ist etwas schwächer geworden. Dafür ist das Piepen jetzt wieder zu hören. Dieses hohe C. Regelmäßig. Der bunte Fleck rechts hat ungefähr Wendys Statur. Es wird Wendy sein. Gestern ist sie doch noch gekommen. Ja. Gestern oder vorgestern hat Wendy plötzlich an seinem Bett gestanden und gesagt, sie sei jetzt da. Sie bleibe jetzt. Oder es ist Romy. Nein. Romy gibt es nicht mehr. Richtig. Romy ist doch dann bei ihm ausgezogen, weil sie nicht mehr konnte oder weil ihr das alles zuviel wurde. Ja. Wendy. In einem dunkelblauen Kleid mit roten und gelben Blumen. Jetzt kommt wieder der Schmerz. Immer zuerst das Pieksen. Lauter kleine Punkte, die pieksen. Dann das Stechen, jetzt in der Wange, links, in den Fingern auch schon, links, im Arm, den Zehen. Dann rechts. Eigentlich dürfte er doch rechts gar nichts spüren. Nach einem Schlaganfall spürt man doch nichts auf der Seite, die gelähmt ist. Aber der Schmerz ist trotzdem da. Komisch. Nennt man das Phantomschmerz? Er wird diesmal nicht stöhnen. Das nimmt er sich fest vor. Nicht stöhnen. Er stöhnt. Es ist nicht zum Aushalten. Er hat gestöhnt, und Wendy, es muß Wendy sein, hat irgend etwas gerufen, ist näher gekommen, und jemand in Weiß, die Krankenschwester, der Pfleger, irgendwer, ist an sein Bett getreten, sein linkes Bein hat er schon ganz gefühlt, bis zur Hüfte. Sein ganzes linkes Bein. Als ob es brennt, als ob er verbrennt. Die Stimme des Pflegers, es ist ein Pfleger, die Geräusche vom Geräteständer hat er gehört, gleich wird es kommen, das Morphium, es wird sicher kommen, gleich, vielleicht in fünf Sekunden, er hat das doch mal gezählt, gerade dann, wenn man denkt, man hält es nicht mehr aus, eins, zwei, drei, vier, fünf. Dann ist der Schmerz in seinen Fingern weg, verschwindet das Gefühl aus seinem Arm, verschwinden sein Arm, Bein, die Zehenspitzen. Auch die beiden Flecken am Bettende sind geschrumpft, sind jetzt ganz klein. Ihm ist übel geworden, schwindelig, er muß die Augen zumachen. Es summt jetzt wieder in seinen Ohren. Es summt. Kann das? Ist es? Dieses Summen. Das Summen von Flügeln. Den Flügeln eines Riesenmaikäfers, der Dinu heißt, Dinu Mai, und dieses Gefühl zu schweben, zu fliegen. Costin lächelt. Er kennt schon die Aussicht, die sich ihm bieten wird, wenn er jetzt zu blinzeln beginnt, vorsichtig, wegen des Gegenwindes, die Augen aufmacht und sich vorstellt, was ihm wohl der dicke Dinu gleich sagen wird. .
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