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Der Cursor blinkt noch immer hinter der Frage, die sie gerade diktiert hat, „Wie hat euch ‚Kubla Khan‘ gefallen?“
Sie wartet auf die erste Antwort; in der kleinen Box oben rechts wird angezeigt, daß alle Teilnehmer ihres virtuellen Einführungskurses in die englische Literaturwissenschaft anwesend, das heißt online sind.
Sie weiß schon. Peter mit dem User-Namen Pirat12 , den sie sich als etwa 1,80 groß, leicht dicklich, mit Brille, Zigarette im Mund, Marke: Nerd, vorstellt, wird wieder als erster einen ehrlichen, aber nicht unbedingt qualifizierten Kommentar schreiben, geil, scheiße, et cetera.
Das ist gut! Das bricht das Eis. Sie hat nach einem halben Jahr virtuellem Einführungskurs ein gewisses pädagogisches Fingerspitzengefühl entwickelt. Was man tun muß, damit. Wie man fragen sollte, daß. Ziemlich viel hat sie auch von ihrer Kollegin: Xin, die merkwürdigerweise genauso alt ist wie sie, aber schon kurz vor dem Abschluß ihrer Dissertation über die Figur des Dritten in Shakespeares Königsdramen steht. Wie hat Xin das gemacht? Die detaillierte Gedichtanalyse mit Durchdeklinierung, Auflistung sämtlicher Stilmittel sowie Kurzinterpretation — die sie schon bereitgestellt hat und dann, wenn dieses einleitende Fragespiel vorbei ist, peu à peu in die Chat-Box kopieren wird —, die hat sie von Xin.
„Hat mir gut gefallen“, erscheint da auf Wendys Bildschirm, begleitet von einem elektronischen Glissando aufwärts. Keats3 alias Ali irgendwas schreibt das. War ja klar. Entweder tatsächlich ein Romantik-Fan, der Rüschenhemden trägt und die Coleridge-, Keats-, Byron-Gesamtausgabe besitzt. Oder nur ein Schaumschläger.
Wendy würde in diesem Moment Keats3 alias Ali irgendwas gerne sehen. Wendy findet es gut, daß ihre virtuelle Klasse sie in diesem Moment nicht sehen kann. Wendy hat sich vor einer halben Stunde, nach einer Nachtsession mit Gerti , aus ihrem Bett ins Atelier gequält. Ihr Haar ist zerzaust. Sie trägt den Flanell-Pyjama mit Affengrinsegesichtaufdruck, den sie neulich in einem Anflug von Nostalgie in einem Laden in Kreuzberg gekauft hat, weil sie früher, als der Vati noch lebte, genau so einen superbequemen Flanell-Pyjama mit Affengrinsegesichtaufdruck besessen, heiß geliebt, aber dann irgendwann verloren hat. . Sie hat an dem Tag, an dem sie ihn nicht mehr finden konnte, sehr geweint, das weiß sie noch. .
Sie ist gerade in einer komischen Stimmung, was entweder von Gerti und der Nachtsession herrührt oder von ihrer Periode. Wahrscheinlich hat sie wieder Pickel auf der Stirn. Sie hat noch nicht geschaut.
Marco Moreno schreibt: „Mir ist nicht klar, worum es in diesem Gedicht geht. Ist das ein Opium-Rausch? Ein Schöpfungsmythos?“ Gesicht mit Fragezeichen.
Wendy könnte Dummheiten machen. . Sie könnte kurz ihr Flanell-Pyjama-Oberteil mit Affengrinsegesichtaufdruck hochziehen, ihre Brüste schütteln, und keiner würde es merken. . Sie zieht kurz ihr Flanell-Pyjama-Oberteil mit Affengrinsegesichtaufdruck hoch und schüttelt ihre Brüste.
Rapunzel8 schreibt: „Die Schlußverse sind fantastisch.“
Wendy läßt den ersten Baustein von Xins Gedichtanalyse, die sie wahrscheinlich auch nur von irgendeiner CD-Rom oder von ihrem Vorgänger abgeschrieben hat, auf dem Bildschirm erscheinen.
Wendy überlegt, was sie in exakt 76 Minuten machen wird, wenn sie offline geht und den Retro-Apple auf Standby schaltet. Sie wird sich anziehen. Irgendwas Schickes. Einfach so. Etwas Mörderschickes. Weil sie sich danach fühlt. Dann einkaufen. Dann mit Esther telefonieren. Esther. Die Situation hier — Esther in Salzburg, Wendy in Berlin — hat ihrer Beziehung gutgetan. Wenn sie am Telefon reden, ist das fast genauso schön wie früher, als sie in wirklich redeten. Wenn sie sich einmal im Monat sehen, ist das noch schöner und intensiver als früher, als sie sich jeden Tag sahen. Die Behauptung, daß man sich in einer Fernbeziehung auseinanderlebt, weil man nichts mehr gemeinsam unternehme, ist falsch. Wendy vereinbart mit Esther zum Beispiel regelmäßig, daß sie sich beide bis zum nächsten Telefonat einen bestimmtem Film angesehen, daß sie bestimmte Bücher gelesen haben werden. Über die können sie dann sprechen. Erfahrungen austauschen. Ja, manchmal machen sie sogar den genauen Zeitpunkt aus, wann sie beide — 600km voneinander entfernt und trotzdem zusammen — den jeweiligen Film ansehen, den jeweiligen Text lesen werden. Sitzt Wendy dann in Saal Drei des neuen Multiplex in Mitte in der neuen Verfilmung von Pride and Prejudice und sieht, wie Elizabeth Bennet Mr. Darcy von der Seite ansieht, weiß sie, Wendy, daß Esther genau in diesem Moment in Saal Acht des neuen Multiplex in Salzburg sitzt und sieht, wie Elizabeth Bennet Mr. Darcy von der Seite ansieht. Und natürlich die Option Telefonsex. Während Wendy masturbiert, hält sie die Kamera des Handys über ihre Brüste, ihren Bauch, den Finger in ihrer Vagina, ihr Gesicht und stöhnt ins Mikro des Headsets. Das Handy hat sie an ihre Plasma-Wand angeschlossen. Wendy sieht Esthers Brüste, ihren Bauch, den Finger in ihrer Vagina, ihr Gesicht, aus den Boxen hört sie Esther stöhnen, was sie am meisten anturnt. Sie schließt dann meistens die Augen, hört nur noch diesem Stöhnen zu und spürt die wachsende Wärme und Helle in ihrem Brustkorb.
Wendy hat noch nicht aus dem Fenster geschaut. Aber der Wetterbericht hat vorhin gesagt, es seien heute in Berlin 21 Grad und es sei wolkenlos. Sie wird am Nachmittag joggen. Ihre Runde. Das wird ihr guttun. Sie stellt sich vor: die Luft. . die Vögel. . das Grün. . den blauen Himmel. . nach dem Joggen fühlt sie sich immer befreit. .
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Beim Joggen im Park von Schloß Charlottenburg, an den Bäumen vorbei, an denen schon die ersten grünen Blätter zu sehen sind — und die Vögel! und die Luft! — , denkt sie, daß die Situation hier, die Arbeit an der Dissertation, die Einführungskurse, sie hier, Esther in Salzburg, daß das alles, obwohl das im Moment OK und schön ist, nur eine Übergangsphase ist, nach der dann, in ein, zwei Jahren, ihr richtiges Leben beginnt.
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Sie sitzt der Mama in der Küche gegenüber, die Mama erzählt was — Wendy achtet nicht darauf, was. Wie oft hat sie sich im Apartment in Berlin, nachts, vor dem Einschlafen, während der Arbeit an Gerti , im Oberseminar vorgestellt, wie sie hier der Mama in der Küche gegenübersitzt, das graue Haar der Mama, ihr Gesicht, der Waschmittelgeruch ihrer Bluse, die Kerbe in der Mitte des Küchenholztisches! Wie oft hat sie die Augen geschlossen und ihre Mutter im beigen Morgenmantel gesehen, wie sie, bevor sie schlafen geht, noch mal ins Wohnzimmer kommt, ihr, Wendy, einen Gutenachtkuß auf die Stirn gibt und sagt, sie solle nicht vergessen, wenn sie mit dem Lesen fertig sei, das Licht auszumachen!
Wie bei jedem Besuch in Salzburg ist Wendy ein wenig beunruhigt, weil die Mama so einen einsamen Eindruck macht; ihr fehlen die Kinder in der Schule, weiß Wendy, die Kollegen; statt dessen malt sie Bilder, Öl, Landschaften, Salzburg, Objekte in der Wohnung, nicht schlecht, soweit Wendy das beurteilen kann; die Mama malt nur für sich, und sie, die Mama, denkt daran, daß sie eigentlich mal auf der Akademie freischaffende Künstlerin werden wollte, sie hatte ja auch ein paar Ausstellungen, damals; sie denkt an das Leben, das auch hätte sein können, weiß Wendy und hat ein schlechtes Gewissen und muß sich doch immer wieder sagen, daß sie es hier keine Woche aushalten würde, so schön es auch gerade ist.
Und Esther. Wie oft hat sie sich danach gesehnt, vor Esthers Wohnungstür zu stehen. . Esthers freudestrahlendes Gesicht. . ihre Lippen. . ihre immer leicht rauhen Lippen mit Nikotingeschmack. . faule Sonntage zu zweit im Bett. . wo sie schon so oft in der Vergangenheit ganze Nachmittage mit Diskussionen verbracht haben. . wo sie sich geliebt haben. . den österreichischen Dialekt im Ohr und nicht dieses Berliner Gebell. . Hand in Hand durch Salzburg gehen, auf dem Weg zu ihrer Stammkneipe, den Kuttenkeller .
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