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Sie liegt auf dem Rücken im Bett. Durch das geöffnete Fenster dringt von draußen der Straßenlärm, eine Autoalarmanlage, Kinder, die spielen. Sie hat den rechten Arm über ihren Kopf gelegt. Sie atmet gleichmäßig.
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„Das sollte also das letzte Mal sein. Walter konnte seine Trauer kaum verbergen. Kaum, daß er einen Satz herausbrachte. Er schämte sich dafür, daß seine Stimme zitterte. So wie Elsbeth da vor ihm stand, so wollte er sie sich einprägen und für immer im Gedächtnis behalten. Für immer — denn falls er nicht einmal doch nach Amerika kommen sollte, was er für nicht recht wahrscheinlich hielt, würde er Elsbeth, seine Elsbeth, mit der er so oft im Heu gelegen hatte, mit der er die Kühe gehütet hatte und der er im Sommer oben am Waldbach seine Liebe gestanden hatte, nie wiedersehen. Warum hatten es sich ihre Eltern auch in den Kopf gesetzt, es den vielen anderen im Dorf gleichzutun und auszuwandern? Und warum war seine Familie nicht wohlhabend genug, so daß er um Elsbeths Hand hätte anhalten können?“
Wendy hört zu diktieren auf. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Wie schon die letzten Tage und Nächte sieht sie auch jetzt Esthers Gesicht vor sich.
Esther, die weint, als Wendy ihr sagt, sie glaube, es habe keinen Sinn mehr mit ihnen.
„‚Meine Elsbeth!‘ und immer wieder ‚Meine Elsbeth!‘, seufzte er, als er sich herunterbeugte und sie ihre zarten Arme um ihn schlang. Es war ihm, als müßte er vergehen. ‚Walter! Mein Walter!‘, hörte er sie schwach.“
Wendy löscht „schwach“ und diktiert: „hauchen. Noch einmal berührten sich ihre glühenden Lippen. Und während sie so standen, spürte er, wie ihr Herz an seiner Brust schlug, schnell und heftig, als wäre es sein eigenes.“
Wendy hört zu diktieren auf.
Im Lauf der letzten zehn Jahre haben sich ziemlich viele solcher Mitten von potentiellen Romanen in ihrem Retro-Apple angesammelt. Meistens zwei, nie mehr als zehn Seiten. Wendy findet sich gerade ganz schön inkonsequent. Sie denkt: Irgendwie setze ich mich immer spontan hin und schreib los und verlier dann das Interesse daran, und bevor ich etwas fertigmache, fange ich lieber was Neues an, ich hasse das, ich hasse das, ich hasse das.
Während ihrer Jane-Austen-Phase vor acht Jahren hat sie immer wie Jane Austen, während ihrer Gertrude-Stein-Phase vor drei Jahren hat sie immer so wie Gertrude Stein geschrieben. Zur Zeit geht ihr die Handlung und der Stil so eines Retro-Heimat-Machwerks namens Das Taschentuch, mit dem sie winkte nicht aus dem Sinn, das sie für die Zugfahrt am Bahnhof in Salzburg kaufte, weil sie irgendwas nicht so Anspruchsvolles brauchte, etwas, das sie ablenkte, von dem, was geschehen war.
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Am 16. März um 18:37 Uhr trägt Wendy zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder Lidschatten und Wimperntusche auf, schlüpft in ein glitzerndes Top, einen roten Faltenrock, knielange, ebenfalls rote Schnürstiefel, die sie eigentlich mit 19, nach ihrer wilden Zeit, abgelegt hatte und die jetzt gerade wieder in sind, checkt noch mal ihr Outfit im Badezimmerspiegel, während sie kurz, damit sich der rosa Lippenstift verteilt, die Lippen aneinanderreibt und sich selber „Wie heißt du denn? Du siehst toll aus!“ ins Gesicht sagt. Wendy tanzt den ganze Abend mit Tove. Wendy verknallt sich in Tove und fühlt sich wie ein junges Mädchen. Tove ist Fotografin und macht bei sich zu Hause Aktaufnahmen von Wendy. Wendy und Tove fahren nach Helsinki. Es schneit. Wendy und Tove streiten sich den ganzen Tag. Wendy trennt sich von Tove. Wendy trifft Luciano. Luciano ist Wendys große Liebe. Sie freut sich den ganze Tag darauf, Luciano zu sehen. Für Luciano nimmt sie sechs Pfund ab und geht regelmäßig ins Fitneßstudio. Luciano ruft Wendy nicht mehr zurück. Wendy weint. Wendy vertreibt sich ihre Zeit mit Tiger. Tiger, deren richtigen Namen Wendy nie erfährt, ist der Ersatz für Luciano. Wendy und Tiger kiffen zusammen. Wendy beträufelt Tiger beim Sex mit heißem Wachs. Tiger peitscht Wendy. Wendy: „Ah.“ Wendy und Tiger fahren nach Rom. Es ist sehr warm. Wendy und Tiger streiten sich den ganzen Tag. Wendy ruft Tiger nicht mehr zurück. Wendy trifft Hans-Dieter. Hans-Dieter hat einen Job beim Frühstücksfernsehen, sieht gut aus und ist herrlich sarkastisch. Hans-Dieter ist der Mann, von dem Frauen träumen. Wendy wünscht, sie hätte Hans-Dieter erst in vier Jahren getroffen, wenn sie selbst schon ein wenig weiter ist. Hans-Dieter stellt Wendy seinen Eltern vor. Wendy stellt Hans-Dieter ihrer Mutter vor. Hans-Dieter macht Wendy auf einer Parkbank in Grunewald einen Heiratsantrag. Wendy wehrt ab. Hans-Dieter ist tief getroffen. Wendy und Hans-Dieter trennen sich in gegenseitigem Einvernehmen. Am 16. April, um 11:17Uhr, setzt sich Wendy in ihrem Lieblingsschlabberpulli und ihrer bequemen, aber, wie Wendy weiß, nicht sehr kleidsamen Jeans an den Schreibtisch und schaltet den grünen Retro-Apple ein, um vor der Abgabe nächste Woche die Gerti beigefügte Bibliografie zu überprüfen.
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Wendy denkt: Das ist ganz schön unheimlich jetzt. Dr. Stefan auf dem Stuhl neben ihr kann Gedanken lesen. Er hat heute schon lauter Sachen gesagt, die Wendy kurz zuvor gedacht hatte.
Gerade hatte sie gedacht: Du trägst aber einen schönen roten Pulli, Jennifer. Genauso. Mit Anrede: Jennifer. Und direkt im Anschluß hat Dr. Stefan „Sie tragen aber einen schönen roten Pulli, Frau Douglas-Fähnrich“ gesagt.
Der Gedanke, daß Dr. Stefan Wendys Gedanken lesen kann, ist auch deshalb so unheimlich, weil sich Wendy von Anfang an — schon als ihre Professorin Ulla Hassel, für Wendy Ulla, Dr. Stefan empfahl und ihn mit leuchtendem Blick als distinguished gentleman beschrieb, dann, als Wendy ihn zum ersten Mal in seiner Kanzlei mit seinem sorgfältig linksgescheitelten Haar, groß, nach Kölnisch Wasser duftend, im Nadelstreifenanzug sah, wie er sich hinter seinem Schreibtisch zum Gruß erhob und sie seine sonore Bariton-Stimme hörte — zu Dr. Stefan, der eigentlich seinem Aussehen und Benehmen nach besser ins späte 19. Jahrhundert passen würde, hingezogen fühlt —, dies aber in keinster Weise in erotischer Hinsicht: Dr. Stefan verkörpert für Wendy vielmehr den Prototyp einer väterlichen Figur. Wendy hat Zutrauen zu Dr. Stefan.
Nach der Disputatio, die sie mit summa cum laude bestanden hatte, hatte sie jemanden gesucht, der ihr mit BIBO helfen könnte, weil sie einerseits den Verdacht hatte, daß sie von Jennifer und Jo bei der Abrechnung übers Ohr gehauen wird. Andererseits will sie wissen, ob es trotz Costins Testament möglich ist, den Laden zu verkaufen. Sie könnte dann ihr Leben leben, das heißt so leben, wie sie sich das vorstellt; müßte nicht den ganzen Zirkus mit Assistenten-Stelle in Sieweißnichtwomandahalthinkommt mitmachen, sondern könnte frei forschen, ab und zu ein wissenschaftliches Buch veröffentlichen, im Sommer auf dem Balkon in ihrer Wohnung hier, in Berlin, sitzen und die Beine aufs Geländer legen, eine ihrer Romanmitten vervollständigen und Therese den Urlaub in Thailand bezahlen, den sie sich schon so lange wünscht.
Jennifer und Jo drucksen gar nicht herum und schauen auch gar nicht verlegen an Wendy und Dr. Stefan vorbei, so wie Wendy sich das noch gestern vor dem Einschlafen vorgestellt hatte. Jo hat eben Dr. Stefan ins Gesicht gesehen und „Ja“ gesagt.
„Wir haben das ja schon in unserem letzten Jahresbericht geschrieben.“ (Hat Wendy gar nicht gelesen. Oops.) „Wir haben BIBO zwar im Sinne Costin Wallners weitergeführt, also weiter neue Alben mit den alten Artists gemacht und überlegt, hätte das Costin gefallen et cetera. Dabei haben wir aber, wenn ich das so sagen darf, aufs falsche Pferd gesetzt. Auch war der Trend in den vergangenen zehn Jahren: Weg von den Majors, hin zu den Indies. Das bedeutete: Der Markt für die Indies hat zunächst expandiert. Dem verdanken wir ja auch unsere Existenz. Dann ist es aber zur Übersättigung gekommen. Der Markt ist eingebrochen. Viele Indies haben fusioniert. Eine Fusion hätte uns vielleicht Auftrieb gegeben. In Costins Testament steht aber eine Klausel, die jede Fusionierung untersagt.“
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