Unsere Jungs? Warum siegen, was bedeutet dir das? Helene versuchte nicht weiter auf das Schreien des Säuglings zu achten und folgte Wilhelms Blick hinunter zum Wasser.
Das verstehst du nicht, Kind. Wir sind die Besten. Das schöne Geschlecht hat keinen Sinn für Wettkämpfe, aber wenn der Gummi erstmal Gold geholt hat, dann wirst du schon sehen, was los ist.
Was ist dann los?
Alice, Schätzchen? Wilhelm ließ das Fernglas sinken, er sah Helene streng an. Er sagte es drohend, er drohte Helene gerne aus Spaß, wenn sie ihm zu viele Fragen stellte. Helene konnte nicht lächeln. Schon, wenn sie an die bevorstehende Nacht dachte, ihre erste gemeinsame Nacht als Mann und Frau, gelang ihr der einfachste Blick nicht mehr. Womöglich empfand er ihr Nachfragen als Zweifel an dem, was er sagte, auch als Zweifel an seiner Freude. Gewiss sollte seine Frau nicht an ihm zweifeln, sie sollte ihn achten und hin und wieder freudig für ihn schweigen können. Ein wenig Jubel wäre auch nicht schlecht, so ein ganz klein wenig, so leiser, munterer, weiblicher Jubel, das hätte Wilhelm gewiss sehr gefallen. Helene schien es, als sähe er zufrieden aus, wenn sie anerkennend nickte und schlicht hinnahm, was er sagte. Und konnte sie nicht tatsächlich einfach mal etwas hinnehmen? Am Vorabend hatte er sich ein wenig beklagt, vielleicht war er nur gereizt gewesen, weil es die Nacht vor der Hochzeit war. Er hatte mit Blick in die Zeitung gesagt, ihn beschleiche manchmal der Verdacht, seine Alice wäre eine freudlose Natur. Als Helene keine Antwort eingefallen war und sie schweigend weiter den Herd abgewischt hatte, hatte er hinzugefügt: Nicht nur Freudlosigkeit glaube er jetzt hin und wieder an ihr zu bemerken, sondern auch eine Spröde.
Jetzt sah Wilhelm durch sein Fernglas. Insgeheim schämte sich Helene. Wollte sie ihm etwa am Tag seiner Hochzeit den Blick auf das Schöne verübeln? Sie schwieg und fragte sich ernsthaft, was er meinte und was wohl los wäre, wenn die deutschen Ruderer in einigen Wochen bei den Olympischen Spielen siegen würden. Sie fragte sich auch, warum Martha auf ihre Briefe nicht mehr antwortete, und beschloss, Leontine zu schreiben. Leontine war zuverlässig, erst zu Fastnacht hatte sie Helene geschrieben, wie froh sie sei, ihr mitteilen zu können, dass sie vermutlich eine Entlassung der Mutter vom Sonnenstein bewirken könne. Zum Glück habe das greise Mariechen im Hause ausgeharrt und würde sich über die Rückkehr ihrer Dame gehörig freuen. Leontine hatte mit Leo unterzeichnet und Helene war erleichtert, immer wieder las sie den Brief und den Namen Leo und war glücklich.
Der Bäderdampfer unten an der Landungsbrücke legte ab, Möwen umkreisten das Schiff, wohl in der Hoffnung, die Ausflügler könnten Essbares über Bord werfen. Aus dem Schornstein dampfte es schwarz. Helene spürte einen Tropfen auf ihrer Hand. Wilhelm öffnete die Bierflasche. Ob sie ihre Limonade nicht trinken wolle? Helene schüttelte den Kopf. Helene wusste, dass sie sich ihm heute Nacht hingeben sollte, ganz, so, wie er sie noch nicht besessen hatte. Das machte ihn froh. Sie dachte langsam, in großen Sprüngen. Sie dachte, sie würde ihr gutes altes Unterhemd nicht tragen können an diesem Abend. Wären sie in Berlin geblieben, hätte es ein Hochzeitsfest geben können, geben sollen, aber wen hätten sie einladen dürfen? Martha und Leontine und Fanny wären keine geeignete Gesellschaft, es wäre bald bekannt geworden, dass mit ihren Papieren etwas nicht in Ordnung war, womöglich hätte Martha bei den Worten des Standesbeamten gekichert. Auch Erich hätte auftauchen und die Feierlichkeit stören können. Besser, man zog weit weg und umging ein solches Fest.
Helene nahm die Papiertüte aus dem Korb und griff hinein. Wenn sie Rosinen aß, war sie glücklich.
Sie würden noch eine kleine Hafenrundfahrt mit Hanni oder Hans machen, je nachdem, welches der beiden betagten Passagierschiffe, auf denen wahre Häuser thronten, sie heute aufnehmen konnte. Die gestreiften Schornsteine von Maris kannte jedes Kind in Stettin, Helene hatte sich schon länger gewünscht, einmal mit einem der beiden zu fahren.
Auf gehts. Helene packte Messer und Apfelgriebsch ein, stellte die leere Bierflasche zurück in den Korb und legte die kleine Decke obenauf. Sie machten sich auf den Weg hinunter zum Bollwerk. Wilhelm fasste sie bei der Hand und Helene ließ sich von ihm ziehen. In seinem Rücken schloss sie die Augen, er sollte sie wie eine Blinde führen. Was konnte schon geschehen? Sie spürte eine große Müdigkeit, eine überwältigende Schwä che, sie hätte auf der Stelle schlafen wollen, aber der Hochzeitstag war noch nicht zur Hälfte um. Wilhelm kaufte zwei Karten für die Hanni von der Gotzlow-Linie. Das Schiff schwankte, Helene hielt sich von Zeit zu Zeit die Hand vor den Mund, damit niemand ihr Gähnen sah.
Auf der Rundfahrt und bei zunehmendem Wind und Schaukeln des Bootes gab es kein Gespräch zwischen Wilhelm und ihr, ihre Verbindung war nicht einfach abgeflaut, sie war verschwunden, durchtrennt. Zwei Fremde saßen nebeneinander und schauten jeder in seine Richtung.
Erst als sich Wilhelm beim Kellner ein Würstchen mit Senf bestellte, richtete er wieder das Wort an sie: Hast du Hunger? Helene nickte. Sie saßen zwar unter Deck, die Schauer schlugen außen an die Scheiben und Wasserperlenfäden zogen herab, der Himmel erschien gebrochen, aber Helene war von dem Schaukeln übel geworden und sie hatte kalte Füße. Alles war so dre ckig auf diesem Schiff, die Griffe der Geländer klebten, selbst der Teller, auf dem Wilhelm sein Würstchen bekommen hatte, schien in Helenes Augen einen Schmutzrand vom Senfklecks des Vorgängers aufzuweisen. Mit Mühe hielt Helene sich zurück, Wilhelm darauf aufmerksam zu machen. Was nützte es? Ihm schmeckte die Wurst. Helene entschuldigte sich, sie wollte sich die Hände waschen. Das Schaukeln machte einen ganz krank, wenn man es nicht schon längst war. Helene hangelte sich von Geländer zu Geländer. Wie hatte sie nur ihre Handschuhe vergessen können? Ein Ausflug ohne Handschuhe war ein Abenteuer ganz besonderer Art. Womöglich hätte Wilhelm sich über sie lustig gemacht, warum sie im Mai Handschuhe trage, Handschuhe zur Hochzeit, wo sie schon auf das traditionelle Brautkleid verzichtet und ein in seinen Augen gewiss einfaches weißes Kostüm bevorzugt hatte, eigensinnig wie sie war. Doch die Tür zu der kleinen Kabine, hinter der Helene neben der Fallklappe einen Wasserbehälter zum Waschen der Hände erhofft hatte, trug das Schild defekt, so dass Helene unverrichteter Dinge zurückkehren musste. Auf dem Schiff wurden schon Vorkehrungen für das Anlegen getroffen, Taue wurden ausgeworfen, Männer riefen anderen Männern zu, der Dampfer wurde von zwei kräftigen Schiffsjungen an den Pier gezogen. Helene spürte ein Kratzen im Hals.
Meine Frau, fahren wir zum Essen und dann heim? Wilhelm ergriff beim Aussteigen ihre Hand. Seine Worte klangen wie die Einleitung zu einem Theaterstück, dazu verbeugte er sich vor ihr. Sie wusste warum. Er hatte sich vom Standesamt am Morgen über einen kleinen Ausflug in seinem neuen Automobil, mit dem er sie nach Braunsfelde gefahren hatte und ihr eine Baugrube in der Elsäßer Straße zeigte, die bald das Fundament ihres Hauses bergen sollte, bis zum Picknick am Mittag und nun die ganze Hafenrundfahrt hinweg ordentlich in Geduld geübt. Helene setzte sich in das Automobil, band das neue Kopftuch um, obgleich es ein überdachtes Automobil war, und hielt sich am Türgriff fest. Wilhelm zündete den Motor.
Du musst nicht immer den Türgriff festhalten.
Ich möchte aber.
Die Tür könnte sich öffnen, Schätzchen. Lass sie los.
Helene gehorchte, sie vermutete, dass weiterer Widerspruch ihn unnötig reizen würde.
Wilhelm hatte im Gasthof am Fuß des Schlosses einen Tisch bestellt, doch schon nach den ersten Bissen vom Eisbein sagte er, das reiche. Wenn sie nichts mehr wolle, wolle er die Rechnung verlangen. Er verlangte die Rechnung und fuhr seine Braut nach Hause.
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