Helene konnte ihn nicht ansehen.
Sie überlegte, was sie ihm antworten sollte, sie wusste, wie es ging, das Strahlen, das Lächeln, es war ganz einfach, man musste nur die Mundwinkel hochziehen und die Augen dabei aufreißen, vielleicht war es mit dieser Mimik gar möglich, einen Augenblick Freude zu empfinden?
Da staunst du, was?
So etwas wie mich dürfte es gar nicht geben, platzte sie heraus.
Was willst du damit sagen? Wilhelm verstand nicht, was sie meinte.
Ich will damit sagen, dass ich keine Papiere besitze, keinen Ahnenpass, nichts, Helene lachte jetzt, und wenn ich einen besäße, stünde unter Bekenntnis der Mutter das Wort mosaisch.
Wilhelm blickte Helene scharf an. Warum sagst du so etwas, Alice? Deine Mutter lebt irgendwo in der Lausitz. Hat deine Schwester nicht gesagt, sie wäre ein schwieriger Fall? Es klang, als wäre sie krank. Hängst du an ihr, bedeuten dir deren Feiertage etwas? Ungläubig schüttelte Wilhelm den Kopf, Mutwille und Zuversicht traten in sein Gesicht: Folg mir, werd meine Frau und lass uns ein Leben beginnen.
Helene schwieg. Ein Wilhelm kannte keine Gefahr und keine Hürde. Helene blickte ihn nicht an, sie empfand eine seltsame Steife im Nacken; würde sie den Kopf schütteln, konnte er sie feige nennen, mutlos. Sie würde zurückbleiben. Nur wo?
Willst du mir sagen, du misstraust mir, weil ich Deutscher bin, weil ich von einer deutschen Mutter und einem deutschen Vater und die wiederum von deutschen Müttern und Vätern geboren worden sind?
Ich misstraue dir nicht. Helene schüttelte den Kopf. Wie konnte Wilhelm ihr Zögern nur als Misstrauen verstehen? Sie wollte ihn ja nicht ärgern. Sie zweifelte ein wenig, was blieb ihr anderes übrig. Auch ihre Mutter war Deutsche, nur verstand Wilhelm jetzt offensichtlich Deutschsein als etwas anderes, als etwas, das sich nach moderner Meinung in rassischen Merkmalen ausdrücken und im richtigen Blut beweisen lassen musste.
Dein Name ist Alice, hörst du? Wenn ich das sage, dann ist das so. Wenn du keinen Ahnenpass hast, werde ich dir einen besorgen, glaub mir, einen einwandfreien, einen, der keinen Zweifel an deiner gesunden Herkunft lässt.
Du bist verrückt. Helene war erschrocken. War es möglich, dass Wilhelm auf die neuen Gesetze anspielte, denen zufolge sie im Krankenhaus jede Missbildung protokollieren und anzeigen mussten, weil um jeden Preis erbkranker Nachwuchs verhindert werden sollte? Und galten nicht bestimmte geistige und seelische Erkrankungen, wie solche, in deren Verdacht sich ihre Mutter in den Augen mancher Nachbarn befand, ebenfalls als erblich und unbedingt zu vermeiden? Strotzende Gesundheit war oberstes Gebot, und wer nicht gesunden und strotzen konnte, sollte möglichst schnell sterben, ehe das deutsche Volk Gefahr lief, angesteckt oder durch kranken Nachwuchs verunreinigt, beschmutzt zu werden.
Glaubst du mir nicht? Ich werde alles für dich tun, Alice, alles.
Was meinst du mit gesunder Herkunft? Helene wusste, dass sie von Wilhelm keine schlüssige Antwort erhalten würde.
Eine saubere Herkunft, meine Frau wird eine saubere Herkunft haben, das ist alles, was ich meine. Wilhelm strahlte. Schau nicht so grimmig, mein Schatz, wer hat wohl ein saubereres und reineres Herz als diese bezaubernde blonde Frau mir gegenüber?
Helene staunte über seine Ansicht. Womöglich rührte sie von ihrer körperlichen Verweigerung her?
Die Menschen brechen auf und verlassen Deutschland. Fannys Freundin Lucinde begleitet ihren Mann nach England, sagte Helene.
Wer an seinen Wäldern und seiner Mutter Erde nicht hängt, der soll nur seiner Heimat den Rücken kehren. Sollen sie gehen, von mir aus. Sollen sie alle abhauen. Wir haben hier etwas zu tun, Alice. Wir werden die deutsche Nation retten, unser Vaterland und unsere Muttersprache. Wilhelm krempelte seine Ärmel auf. Wir haben das Darben nicht verdient. Mit diesen Händen hier, siehst du? Kein Deutscher darf jetzt seine Hände in den Schoß legen. Verzagen und Klagen, das ist unsere Sache nicht. Du wirst meine Frau, und ich gebe dir meinen Namen.
Helene schüttelte den Kopf.
Du zögerst? Du willst dich doch nicht aufgeben, Alice, sag mir das nicht. Er sah sie streng und ungläubig an.
Wilhelm, ich verdiene deine Liebe nicht, ich habe ihr nichts zu erwidern.
Das kommt noch, Alice, da bin ich sicher. Wilhelm sagte es ganz frei und klar, als läge es nur an einer Abmachung, einer Entscheidung, die sie einigen würde, nichts an ihrer Aussage schien ihn zu kränken oder auch nur gering zu verunsichern. Sein Wille würde siegen, der Wille, Wille schlechthin. Ob sie gar keinen habe? Natürlich braucht ein Weib eine gewisse Zeit nach so einem Verlust, sagte er. Ihr wolltet heiraten, du und dieser Junge. Aber das ist jetzt Jahre her, du musst die Zeit der Trauer einmal beschließen, Alice.
Helene hörte Wilhelms Worte, die ihr sogleich dumm und dreist erschienen, mit denen er über sie hinwegredete. Seine Erhabenheit und der Befehl, der in seinen Worten lag, empörte sie. Es gab Worte, die musste man sich aufheben. Etwas an seinem Heldenmut erschien Helene verdächtig, etwas schien ihr daran von Grund auf falsch. Im nächsten Augenblick erschrak Helene über sich selbst. War sie missgünstig? Wilhelm war frohgemut, sie würde von ihm lernen können. Helene bereute ihren Ärger wie ihre Ablehnung. War es nicht nur ihre Trauer um Carl, eine weibische Trauer, wie Wilhelm sie freundlich nannte, die Helene seinen Glanz und seine Lebenslust so schwer ertragen ließ?
Woran denkst du, Alice? Die Zukunft liegt zu unseren Füßen, wir wollen nicht nur an uns denken, denken wir an das Gemeinwohl, Alice, an das Volk, an unser Deutschland.
Sie wollte nicht kleinmütig sein, bestimmt nicht bitter. Das Leben hatte sie nicht gekränkt, es gab keinen Gott, der sie büßen lassen wollte. Wilhelm meinte es gut mir ihr, er meinte es gut mit sich, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Wie konnte sie nur so hochmütig sein? Schließlich stimmte, was er sagte, sie musste das Leben wieder aufnehmen, da half die Pflege und Sorge um die Kranken vielleicht wenig. Allein, ihr fehlte eine Vorstellung vom Leben, von dem, was es sein sollte und konnte. Sie würde sich für diesen Zweck einem Menschen zuwenden müssen. Und warum nicht einem, der es gut mit ihr meinte, der froh über ihr Ja wäre und sie retten wollte? Immerhin wusste Wilhelm offenbar, was er wollte, er zielte vor und war dem Glauben nicht nur nah, er glaubte. Das Wort Deutschland klang aus seinem Mund wie eine Losung. Wir. Wer waren wir? Wir waren wer. Nur wer? Bestimmt konnte sie das Küssen wieder lernen, vor allem einen Geruch wahrnehmen und mögen, ihre Zähne und ihre Lippen öffnen und die Bewegungen seiner Zunge in ihrem Mund spüren, vielleicht kam es darauf an.
Wilhelm umwarb Helene unermüdlich. Es wirkte, als würde jede Ablehnung ihrerseits ihm neue Kraft verleihen. Er fühlte sich zu großen Taten, am liebsten zum Retten geboren, und als Erstes lag ihm daran, dieses in seinen Augen schüchterne und anmutige Wesen für ein gemeinsames Leben zu gewinnen.
Ich habe zwei Karten für die Krolloper, die verdanken wir meinen guten Beziehungen. Du möchtest sie doch sehen, die ersten Fernsehbilder?
Helene ließ sich nicht überreden. Sie hatte in der Woche fast ausschließlich Nachtdienste, daran führte kein Weg vorbei.
Als Martha die Nachricht überbrachte, dass das Mariechen einen gewissen Vorfall nicht hatte verhindern können, und die Polizei auf dem Kornmarkt in Bautzen eine erst weinende und dann tobende Frau aufgelesen und mitgenommen hatte, wurde Helene unruhig. Leontine telefonierte nach Bautzen, erst mit dem Mariechen, dann mit dem Krankenhaus und schließlich mit der Gesundheitsbehörde. Sie erfuhr, dass Selma Würsich zum Schloss Sonnenstein nach Pirna gebracht worden war, wo man herausfinden wollte, welches Leiden sie quälte, und mittels neuer Untersuchungen klären wollte, ob dieses Leiden erblich war.
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