Der Schuppen wurde zum Hochhausturm, eine leere Kiste zum bodenlosen Fahrstuhlschacht, aus dem Flammenpilze wuchsen. Draußen kreisten Hubschrauber, deren Lichtbündel in den Raum drangen und die Splitter der geborstenen Fensterscheiben aufblitzen ließen. Explosionen sandten Druckwellen aus und warfen Wilbur zu Boden, beißender Rauch machte ihn blind. Eine Wunde am Oberarm verband er mit einem Stück Tuch, das er aus Paulines Putzschrank genommen hatte. Er ging barfuß, wie sein Held, und das Blut war Ketchup. Er hatte die Handlung im Kopf, und wenn er keuchend in einer Ecke saß und in sein Funkgerät sprach, eine Schachtel für extralange Streichhölzer, mit Sand gefüllt und Klebeband umwickelt, ließ er seine Stimme tief und abgebrüht klingen. Aus einer zerknitterten Packung schüttelte er auf Zigarettenlänge gebrochene Äste, steckte sich einen zwischen die Lippen und zündete ihn mit einem leeren Wegwerffeuerzeug an. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen, die ein normaler Mensch nicht ausgehalten hätte, klaubte Glasscherben aus seinen Fußsohlen und benutzte Worte wie Scheiße und Hurensöhne. Dann prüfte er das Magazin seiner Waffe und robbte los, um noch mehr Feinde zu töten.
Bevor Wilbur nach Hause ging, wusch er sich die Füße in einem Tümpel neben dem Schuppen. Mit einem Handtuch trocknete er sich ab, zog Strümpfe und Schuhe an, legte das Handtuch über eine Kiste im Schuppen und schlüpfte durch die Lücke im Zaun. Er schlich sich in die Garage, zog die schmutzigen Kleider aus und stopfte sie in einen Karton, der oben auf einem Schrank lag und aus dem er eine saubere Hose und ein frisches Hemd holte. Weil er vor dem Abendessen immer baden musste, bekam Pauline seine dreckigen Fingernägel und Haare nie zu Gesicht, und nur einmal fragte sie ihn, eher verärgert als besorgt, wie er zu einer kleinen Schramme an der Backe gekommen sei.
Um seine Pflegeeltern nicht misstrauisch werden zu lassen, erzählte er ihnen von Vogelbeobachtungen im Wald, von der Pracht eines Ameisenhügels und der Artenvielfalt in einem Tümpel. Und obwohl Pauline meinte, es sei ihr lieber, wenn Wilbur sein Wissen aus Büchern erwerben würde, statt Feldforschung zu betreiben, fanden sie und ihr Mann sein naturwissenschaftliches Interesse lobenswert. Henry erzählte dann immer, wie er als Junge Gesteinsproben gesammelt und archiviert hatte. Er beschloss, das sei auch etwas für Wilbur, und Wilbur versprach, sich nach dem Studium der Ameisen und Frösche der Geologie zu widmen.
Nach dem Essen musste Wilbur das Geschirr abtrocknen und durfte dann auf sein Zimmer. Dort nahm er das Heft aus dem Versteck hinter dem Schrank und fuhr damit fort, die Handlung des Films aufzuschreiben. Obwohl er nicht gut darin war, zeichnete er das brennende Hochhaus zwischen den Text, einen Hubschrauber, Bruce Willis’ Waffe, einen Feuerball, eine Handgranate. Die Buntstifte, mit denen er malte, waren alles, was von dem Spielzeug, das Wilbur am ersten Tag aus dem Fenster geworfen hatte, übriggeblieben war. Den Rest hatte er unter Paulines strengem Blick vom Rasen aufsammeln und in den Kofferraum des Wagens laden müssen. Dann waren beide nach Letterkenny gefahren und hatten die Sachen im dortigen Oxfam-Laden abgegeben. Pauline war während der Hinfahrt eingeschnappt gewesen, hatte Wilbur Undankbarkeit vorgeworfen und ihm das Elend der armen Kinder veranschaulicht, die bald mit den Plastikautos und Baukästen spielen würden.
Auf dem Nachhauseweg hatte sie ihm eine Predigt über den Wert von Dingen gehalten und gemeint, gerade Wilbur solle für alles, was ihm geboten werde, dankbar sein. Wilbur, der seinen zweiten Tag des Schweigens durchhielt, starrte nach vorne und stellte sich vor, wie er ins Lenkrad griff und der Wagen von der Straße abkam, wie der silberne Toyota sich mehrmals überschlug und auf dem eingedrückten Dach liegen blieb. Er sah sich blutend aus dem Wrack klettern und sich auf den Boden werfen, während das Auto explodierte. Er sah, wie er über die Wiese hinkte und einen Wagen anhielt, den Fahrer mit der Waffe zum Aussteigen zwang, sich ans Steuer setzte und davonraste, wie er Polizeisperren durchbrach, seinen Verfolgern die Reifen zerschoss, das Fluchtfahrzeug mit leerem Tank in einem Wald stehenließ und auf einen Güterzug aufsprang, der ihn wegbrachte, weit weg von hier, irgendwohin, wo niemand ihn kannte.
Dann waren sie zu Hause, und Wilbur fand die Buntstifte im Garten verstreut, zwischen Grashalmen und verborgen unter den gelben Blättern einer Buche.
Um Punkt halb acht kam Pauline in Wilburs Zimmer und ließ ihn wissen, dass es Zeit fürs Bett war. Da hatte Wilbur das Heft längst wieder versteckt, saß an seinem Schreibtisch und las in einem Buch mit dem Titel Schätze der Kiesgrube , das Henry ihm geschenkt hatte. Jedenfalls tat er so, als würde er lesen, und war jeweils froh, wenn Pauline ihn zum Zähneputzen aufforderte. Nachdem er im Bett lag, kam Pauline noch einmal zu ihm, küsste ihn auf die Stirn und löschte das Licht. Wilbur hätte es vorgezogen, nicht geküsst zu werden, aber Pauline fand wohl, sie vermittle ihm damit das Gefühl, richtig zur Familie zu gehören. Gegen acht Uhr öffnete Henry die Tür und wünschte Wilbur eine gute Nacht. Oft erzählte er ihm noch irgendeine Geschichte, meistens etwas mäßig Aufregendes aus seiner Jugend, aber dann rief Pauline von unten, und Henry beeilte sich, ihr im Wohnzimmer Gesellschaft zu leisten.
Henry und Pauline saßen jeden Abend vor dem Fernseher, es sei denn, sie hatten Verpflichtungen in der Gemeinde. Am ersten Freitag jeden Monats fand die Sitzung der St. John’s Community statt, eines Vereins, dessen Mitglieder sich die Verschönerung des Ortes zum Ziel gesetzt hatten, und an jedem zweiten Montag traf man sich im Portsalon Seniors Circle , der sich um alte alleinstehende Menschen kümmerte. Im einen Verein war Pauline Präsidentin, im anderen Henry Protokollführer. Nahm Pauline an einer Sitzung teil, blieb Henry zu Hause, und wenn er seine gemeinnützigen Aufgaben erfüllte, wachte Pauline über den Pflegesohn. Nicht einmal den Sonntag hatte Wilbur für sich, denn der gehörte der Kirche. Er wurde dazu angehalten, die Texte der gängigsten Lieder auswendig zu lernen und seine Singstimme zu trainieren. Wenn er sein abendliches Bad nahm, musste er so laut singen, dass Pauline ihn in der Küche hören konnte. Dabei gab er sich keine große Mühe, die Töne zu treffen, und als er auch nach mehreren Wochen des Übens noch immer falsch sang, meinte Pauline, er solle sich in der Kirche ein wenig zurückhalten.
Nach dem Gottesdienst kamen meistens Gäste zum Mittagessen, das Pauline schon am Samstag vorbereitet hatte. Waren alte Leute unter den Besuchern, musste Wilbur ihnen zu Kaffee und Kuchen etwas vorlesen, mit Bleistift markierte Stellen aus der Bibel oder erbauliche Kurzgeschichten eines schottischen Landpfarrers und Laienschriftstellers, in denen es um opferbereite Missionare, selbstlose Nonnen und kluge Hirtenhunde ging. Nach jeder dieser Lesungen wurden Wilburs Vortragskunst, seine klare Aussprache und helle Stimme gelobt, und Pauline ließ sich voller Eifer darüber aus, wie wichtig es sei, täglich ein gutes Buch zur Hand zu nehmen, gerade in einer von der Unkultur des Fernsehens geprägten Zeit.
Obwohl es Wilbur bei solchen Gelegenheiten drängte, etwas zu sagen, schwieg er. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft hatte er sich allabendlich die Treppe hinuntergeschlichen, um durch den Türspalt ins Wohnzimmer zu spähen und zu sehen, was seine Pflegeeltern bis spätnachts wach hielt, und er wusste, dass es nicht die Lektüre von Büchern war. Die Satellitenschüssel, an der Rückseite des Daches angebracht und von der Straße her nicht zu sehen, speiste das Fernsehgerät der Conways mit englischen Seifenopern und amerikanischen Krankenhausserien, einem wüsten Reigen aus Trennungen, Krebsleiden, Bankrotten, wundersamen Heilungen, häuslicher Gewalt, Geständnissen auf der Intensivstation, ungewollten Schwangerschaften und verschollenen Zwillingsbrüdern.
Читать дальше