Bei Regen und Sturm, wenn niemand ihn hören konnte, stand Colm auf einem Hügel und schrie hinaus, wie sehr er Orla liebte und vermisste. Er sank in die nasse Erde und weinte und verspottete sich für seine Schüchternheit, rief ohne zu stammeln in den Wind, wie schön Orla sei, pries lauthals die Zartheit ihrer Hände, schwärmte heulend von ihren Lippen und dem Glanz ihrer Augen. Wie leicht und fehlerfrei die Sätze aus ihm herauskamen, jetzt, da Orla sie nicht mehr hören konnte. Und wie schwer sie nun auf ihm lagen, jahrelang zurechtgeschobene Worte, angehäufte Komplimente, das ganze Gewicht nie erfolgter Annäherung.
Etwa drei Wochen nach dem Unfall fuhr ein Polizeifahrzeug auf Colms Hof. Der Beamte aus Portsalon hob einen Karton mit einem Fernseher vom Rücksitz und erklärte, das Gerät habe sich im Kofferraum von Orlas Wagen befunden. Im Glauben, eine gute Nachricht zu überbringen, betonte der Polizist, es handle sich um ein teures Modell aus Japan, von der Qualität des Farbbildes habe man sich auf dem Posten überzeugt. Colm bedankte sich, trug die Kiste ins Haus und stellte sie im Wohnzimmer auf einen der beiden Sessel, die kaum benutzt wurden. Er hielt nicht viel vom um sich greifenden Fortschritt, ihm genügte, dass sein Traktor fuhr und im Haus Licht brannte. Im Kino war er nie gewesen, und was er alle paar Monate bei einem Pubbesuch im Fernsehen sah, bestätigte ihm nur, dass die Menschheit verrückt geworden war. Er dachte daran, das Gerät in Orlas Haus hinüberzutragen, das jetzt Wilbur gehörte, ließ es dann aber bleiben.
Zweimal in der Woche überwand er sich und ging in das leere Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn ihn die Trostlosigkeit der verlassenen Räume nicht schon vorher vertrieb, saß er eine Weile am Küchentisch, drehte eine von Orlas Haarspangen in den Händen und lauschte der Musik, die leise aus dem Radio drang. An manchen Tagen wurden aus den Minuten Stunden, und wenn er schließlich aus seinem versunkenen Zustand auftauchte, lief er verstört ins Freie, werkelte planlos auf einem Feld, fütterte die Tiere und kochte dann das Abendessen, vor dem er und Wilbur später sitzen würden, abwesend und ratlos und unendlich erschöpft vor Sehnsucht.
Wilbur wollte nicht wissen, was mit Conor geschah. Auf der Heimfahrt von der Beerdigung hatte Colm ihm erzählt, man habe den Jungen nach Donegal gebracht. Sean Lynch lag im Koma auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Dublin. Die Kugel hatte seinen Schädel durchschlagen und steckte in seinem Hirn fest. Sie zu entfernen war unmöglich, also ließ man sie drin. Sean wurde im künstlichen Koma gehalten, Maschinen überwachten seinen Schlaf. Anfangs saßen Aislin und Fiona jeden Tag an seinem Bett, nach einer Weile besuchte Aislin ihren Mann noch zweimal wöchentlich und allein. Sie hielt seine Hand und berichtete ihm von zu Hause, dass die Männer das Sägewerk weiter führten und das alte Abzugsgebläse repariert hatten. Sie erzählte ihm von Kieran, der in der Behindertenwerkstatt Schränke baute, große Möbel aus Massivholz, statt zierliche Bilderrahmen. Sie brachte Fotos mit und Zeichnungen von Fiona, später kam sie mit leeren Händen. Conor erwähnte sie nicht, auch wenn sie sah, dass ihr Mann auf keines ihrer Worte reagierte. Der Junge war von Donegal nach Sligo gebracht worden, wo Experten in seiner Psyche kramten. Fürs Gefängnis war er zu jung, und man wollte ihn auf geistige und seelische Defekte hin untersuchen, bevor er der Obhut einer staatlichen Institution übergeben würde.
Aislin fuhr dreimal in der Woche nach Sligo, um ihren Sohn für jeweils eine Stunde zu sehen. Am Anfang hatte sie noch geweint und musste vom Personal aus dem Besuchsraum geführt werden, weil sie ohne ihr Kind nicht gehen wollte. Jetzt riss sie sich zusammen und redete mit ihm, brachte ihm Bücher und Tüten mit Lakritzebonbons und verbarg ihr Erschrecken darüber, dass er keine Reue zeigte. Conor tröstete seine Mutter, versprach ihr, alles würde gut ausgehen. Aislin glaubte ihm und fühlte sich schuldig, weil sie sich eine gute Zukunft nur mit ihren Kindern vorstellen konnte, ohne Sean.
Colm wälzte sich jede Nacht stundenlang in seinem Bett. Nickte er aber endlich ein, konnte ihn bis zum Morgengrauen nichts wecken. Deshalb geisterte Wilbur, wenn er keinen Schlaf fand, ungestört durch das Haus, öffnete Türen und Schränke und hörte in der Küche Radio. Nur einmal war er nachts zum Haus gegangen, hatte durch die rote Tür den Innenhof betreten und dann im Mondlicht fröstelnd das Kräuterbeet betrachtet, das früher sein Sandkasten gewesen und jetzt völlig überwuchert war. Er hatte durch ein Fenster in die Küche gestarrt, auf den Tisch, wo noch immer zwei Tassen und ein Krug standen, und auf die Stereoanlage, deren rotes Auge zurückstarrte. Weder Colm noch ihm war es je eingefallen, im verlassenen Haus den Strom abzuschalten. Nicht einmal den Kühlschrank hatten sie ausgeräumt, und Wilbur stellte sich vor, wie die Lebensmittel darin verrotteten und zu einer grauen Masse aus Schimmelpilzen wurden. Er malte sich aus, wie Ratten ins Haus kamen, an den Leitungen nagten und Kurzschlüsse verursachten und wie das Haus dann endgültig still wäre. Vielleicht deckte irgendwann ein Sturm das Dach ab und ließ die Wände einstürzen. Pflanzen würden alles überwuchern. Das Haus würde sich auflösen und schließlich in der Erde versinken wie die Kirche seines Großvaters. Der Gedanke ließ Wilbur erschauern, und er rannte zurück zu Colms Hof.
Den Fernseher fand Wilbur, ein paar Tage nachdem ihn der Polizist abgeliefert hatte. Er ging selten ins Wohnzimmer, weil darin nichts war außer alten Möbeln und dem Geruch nach kalter Asche, die im offenen, lange nicht mehr benutzten Kamin lag. Die Bücher, die in einem Regal standen, interessierten ihn nicht, weil er aufgehört hatte zu lesen. Er fand, die Entdeckung fremder Welten sei sinnlos, wenn einem schon die eigene zu viel war. Als er das Tuch von der Kiste nahm, entfuhr ihm ein Laut des Erstaunens, und er machte die Tür zu, obwohl er wusste, dass Colm schlief wie ein Toter. Er nahm den Apparat aus dem Karton, kniete sich vor ihn hin und sah ihn eine Weile an, berührte ihn und erschrak ein wenig, als sich sein Gesicht im Bildschirm spiegelte. Dann las er die Bedienungsanleitung, schloss das Gerät an und stellte die Zimmerantenne darauf.
Bevor er das Deckenlicht löschte und die Einschalttaste drückte, horchte er auf Geräusche von oben. Alles war still, kein Wind wehte. Nicht einmal das Holz der Dielen knackte, als Wilbur sich hinsetzte und langsam den Finger ausstreckte, um dem Gerät Leben einzuhauchen wie Gott dem ersten Menschen. Ein Knistern ging durch das erwachende Gehäuse, die schwarze, gewölbte Scheibe öffnete sich zu einem flirrenden Bild, durch das Wellen flossen. Unter einem dumpfen Brummen lag zuerst Musik, dann sprachen Menschen, die als zitternde, von farbigen Flocken umwehte Gestalten in der Dunkelheit des Wohnzimmers leuchteten. Eine Weile saß Wilbur da und betrachtete gebannt das Stück Welt, das sich vor ihm auftat. Er schob die Antenne hin und her, bis das Bild klar wurde und das Brummen verschwand. Drei Kanäle gab das Gerät her, auf einem wurde Gälisch gesprochen. Wilbur versank in den Bildern und Tönen, vergaß die Zeit und auch, dass er eigentlich im Bett liegen und Gott um seinen baldigen Tod bitten sollte.
Sein Leben schien wie ausgeblendet, überstrahlt von der elektrischen Kiste, die gleißend vor ihm schwebte. Es war, als würde er aufhören zu existieren neben diesen Menschen, die durch ein großartiges, unerklärliches Wunder den Raum in Besitz nahmen. Alles außerhalb dieses Kastens, dieses Zimmers, war unwichtig geworden, löste sich auf im Gestöber der bunten Lichtpartikel, die Wilburs Haut bedeckten und seine Pupillen flackern ließen. Er sprang zwischen den Sendern hin und her und ließ die Hand sinken, als der Bildschirm einen Mann zeigte, den er vor drei Jahren in den Schaukästen eines Dubliner Kinos gesehen hatte. Wilbur setzte sich hin und sah sich den ersten Film seines Lebens im Fernsehen an, den ersten, bei dem Orla nicht neben ihm saß.
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