Daran denke ich, zwei Stunden nachdem meine Hand auf Aimees Brust lag, zwei Jahre nach meinem kläglichen Scheitern. Die erste nackte Brust in meinem Leben, die ich berührt habe und die einer Frau gehört, die ich mochte, die ich gemocht hätte, wenn sie mich nicht in dieses Gartenhaus gezogen hätte. Jetzt hasse ich sie dafür, dass sie diesen Moment mit Spinnweben und Vogeldreck ausgeschmückt hat, mit Staub und blinden Scheiben. Dafür, dass sie mich überrumpelt hat, dass ich zum Trottel wurde, zum erstarrten Vollidioten, gelähmt vor Verlangen und Entsetzen. Sie ist nicht besser als die Doggenfrau, die mich mit einer versifften Tagesdecke und erschöpftem Ächzen vertrieben hatte.
Wenn Sex so flüchtig und in solchen Kulissen stattfindet, werde ich auch die nächsten zwanzig Jahre der unerfahrene Wichser bleiben, der ich bin. Dann verzichte ich auf die körperlichen Freuden und therapeutischen Effekte, die der Beischlaf mit sich bringt und die man mir in Fernsehsendungen und Illustrierten unablässig verspricht. Dann scheiße ich auf Wärme und Berührungen, Herzgleichschlag und Seelenverschmelzung, auf Liebe, Geborgenheit, Glück und Ewigkeit und den ganzen Müll.
Ich liege auf meinem Bett, das Kissen über dem Gesicht. Melvin ist taktvoll genug, mich in Ruhe zu lassen. Wenn er eine Dose Malzbier öffnet, klingt das Zischen wie das Niesen eines kleinen Tieres. Malzbier hat keinen Alkohol, der ist hier drin so verboten wie trübe Gedanken und Rasierklingen. Für einen Drink würde ich alles geben, mein Leben, meinen Koffer, meine Erinnerung.
Nach Orlas Tod lebte Wilbur bei Colm. Wenige Tage nach der Beerdigung war Eamon von zwei Sanitätern aus dem Haus geholt worden. Er hatte sich nicht mehr um sich kümmern können, geschweige denn um seinen Enkel. Nachdem Orla nicht mehr für ihn kochte, hatte er einfach aufgehört zu essen und blieb tagelang im Bett, die Hände und Knie steif von der Gicht. Man brachte ihn in ein staatliches Pflegeheim in Milford, wo er endgültig aus der Welt dämmerte.
Colm kümmerte sich um Wilbur, so gut es ging. Als die Sommerferien vorbei waren, weckte er ihn viel zu früh. Wie an jedem der vergangenen Morgen hatte er Porridge gekocht und Tee, und Wilbur aß ein paar Löffel des zähen Breis, um Colm nicht zu enttäuschen. Dann fuhr Colm den Jungen mit dem Traktor zur Bushaltestelle. Wilbur wollte nicht zur Schule, wollte in seinem neuen Zuhause bleiben, im Stall bei den Kühen sitzen oder in seinem Zimmer und die Tage vergehen lassen. Aber er wusste, dass das nicht möglich war, und bestieg den Bus wie ein Astronaut die Rakete, die ihn Milliarden Lichtjahre von der Heimat forttrug.
Auf dem Schulhof starrten ihn alle an. Er war der Junge, dessen Großmutter auf so schreckliche Weise umgekommen war, und er war der Freund von Conor Lynch, dem Verrückten, der auf seinen Vater geschossen hatte. Erin Muldoon löste sich aus der Herde der Tuschelnden und fragte ihn, wie es ihm gehe. Aber Wilbur schwieg und war froh, als die Glocke läutete. Miss Ferguson gab sich Mühe, ihn wie die anderen Kinder zu behandeln, aber während des gesamten Unterrichts rief sie ihn nie zur Tafel, ließ ihn keine Fragen beantworten und vermied es sogar, ihn anzusehen.
Wilbur war das recht. Seit Orla tot war, sprach er kaum noch, höchstens ein paar Worte mit Colm. Es gab nichts mehr zu reden, fand er. Er war elf Jahre alt, und das Leben schien ihm nicht mehr der Mühe wert zu sein. Nachts lag er im Bett und wünschte sich, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Er beschloss, nun doch an Gott zu glauben, und fing an zu beten. Leise flehte er darum, zu Orla gelassen zu werden. Und zu seiner Mutter. Er stellte sich vor, wie er die beiden Frauen im Himmel wiedersah, wie sie zusammen Radio hörten und sangen und kuriose Meldungen aus der Zeitung suchten. Er forderte Gott auf, ihn im Schlaf sterben zu lassen, an einem Herzversagen, einem Schlag, der ihn nachts aus dem Leben holte.
Wenn er am Morgen aufwachte, verwünschte er Gott, der ihn verschont hatte, und am Abend entschuldigte er sich bei ihm und bat ihn erneut um den Tod. In der Zeitung hatte er von Menschen gelesen, die sich selber umbrachten, indem sie von Brücken sprangen, sich auf ein Bahngleis legten, Schlaftabletten schluckten, sich erschossen, aufhängten, die Pulsadern aufschnitten, den Kopf in den Gasofen steckten. Das schien alles sehr kompliziert zu sein und außerdem einen Mut zu erfordern, für den seine Verzweiflung noch immer nicht groß genug war. Als damals Rosie O’Sea im Meer ertrunken war, ging das Gerücht um, sie habe Selbstmord begangen. Glaubte man den Erwachsenen, war das ein noch größeres Vergehen als das von Marie Kavanagh, die sich mit fünfzehn von einem Herumtreiber schwängern ließ. Aus dem Religionsunterricht wusste Wilbur, dass es eine Sünde war, sich das Leben zu nehmen. Pfarrer Fowley, den Wilbur für einen langweiligen Schwätzer hielt, meinte, nur Gott dürfe Menschen umbringen, das gehöre zu seinen unangenehmen Pflichten wie das Zusammenbrauen von Stürmen oder das Versenken von Schiffen. Niemand starb einfach so, ohne Gottes Zutun. Darauf beharrte Wilbur, wenn er nachts die immergleichen Sätze flüsterte, dieselben Forderungen stellte.
Am Tag nach dem Unfall hatte Colm Wilburs Bett aus dem Haus geholt und in den Raum neben seinem Schlafzimmer gestellt. Der Raum hatte zwei Fenster und einen Holzfußboden. Auf Regalen an den Wänden standen Tierfiguren aus Ton, die Colm selber formte. In den Wintermonaten, wenn es auf der Farm weniger zu tun gab, entstand jede Woche eine neue Figur. Mehr als zweihundert Stück reihten sich auf den Holzbrettern, die frühen Elefanten plump und unförmig, die neueren Giraffen grazil und mit beinahe wissenschaftlichem Ehrgeiz bemalt. Vor einem der Fenster stand ein Tisch, an dem Colm den Tieren unter einer Lupe das Fell auftrug. Kleine Pinsel ragten aus Gläsern, in einem Teller lag Sandpapier. Ein aufgeschlagenes Buch zeigte Zebras, ein Umschlagbild einen Leoparden. Links und rechts des Arbeitstisches, in türlosen Schränken, stapelten sich Bildbände und Zeitschriften.
Vor ein paar Wochen hätte Wilbur nichts lieber getan, als in den Büchern zu blättern und die Figuren einzeln vom Regal zu nehmen und zu betrachten. Jetzt nahm er sie kaum wahr. Nach der Schule setzte er sich zu Colm in die Küche, zwang sich, den Teller leer zu essen und Colms gutgemeinte Fragen zu beantworten. Die Hausaufgaben erledigte er rasch und so beiläufig wie Geschirrabtrocknen oder Zähneputzen. Sein Verstand schien unabhängig von seinen Gefühlen zu funktionieren, wie ein getrennter Kreislauf, angetrieben von einer Energie, die sich aus Abgestumpftheit und Resignation speiste. Das wurde Colm bewusst, wenn er beim Kartenspiel, das er in der Hoffnung auf einen heilenden Effekt allabendlich anordnete, regelmäßig verlor oder wenn er Wilbur aufs Geratewohl testete, indem er Fragen aus dem Lexikon abschrieb und ihn nach der Hauptstadt von Mali oder dem Namen eines römischen Kaisers fragte. Er sah, wie Orlas Tod Wilbur die Lebensfreude, jegliche Neugier, Unvernunft und Fahrlässigkeit genommen hatte, alles, was einen Jungen ausmachte. Was blieb, war eine Hülle, der schmale, federleichte Körper, der sich weiterhin bewegte, und der Kopf, in dem gerade für so viele Gedanken Platz war, wie man zur Lösung einer Rechenaufgabe oder zum Abrufen eines historischen Ereignisses brauchte.
Colm ahnte nichts von Wilburs Wunsch, zu sterben, und selbst wenn er die Gebete aus dem Nebenzimmer gehört hätte, hätte er nicht gewusst, wie er das Kind trösten sollte. Es gab keinen Trost. Nicht für den Jungen, und auch nicht für Colm, der sich plötzlich als alter Mann fühlte. Nichts von dem, was jetzt noch geschehen mochte, würde von Bedeutung sein.
Den Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, fehlte alle Wärme und jeder Funke Hoffnung, kein Tag ohne Orla würde mehr ein guter werden.
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