Das Autoradio lief noch, als Conor McGonigle mit seinem fünfundzwanzig Jahre alten Lieferwagen an der Unfallstelle hielt. Als junger Bursche war er im Krieg gewesen, hatte mit Deutschland gegen die Engländer gekämpft, war verwundet worden und erst mit dreißig aus amerikanischer Gefangenschaft freigekommen. Keinen einzigen Engländer hatte er getötet, dafür italienische Partisanen, gegen die er nichts hatte. Als er zum ersten Mal tote Frauen gesehen hatte, war er desertiert. Jetzt stand er vor dem himmelblauen Auto und zwang sich, nicht wegzurennen wie damals. Es kostete ihn seine ganze Überwindung, Orlas blutigen Arm zu berühren, um ihren Puls zu fühlen, der unter seinen Fingern schwächer wurde und schließlich erlosch. Orlas Oberkörper lag auf der Kühlerhaube des Nissan, ihre Beine verschwanden im Wagen. In blutigen Strähnen floss ihr Haar vom Kopf, kringelte sich an den Spitzen auf dem warmen Blech. Glassplitter glitzerten im Scheinwerferlicht von McGonigles Lieferwagen. Das Pferd lebte, sein Bauch hob und senkte sich, es schnaubte beim Atmen. Immer wieder warf es den Kopf herum und sah mit aufgerissenen Augen den alten Mann an. Es lag in einer Lache aus schwarzem Blut, das nicht trocknete, weil ständig neues aus einer unsichtbaren Wunde kam.
McGonigle wollte die Musik ausmachen, aber die Türen an Orlas Wagen ließen sich nicht öffnen, und durch die geborstene Windschutzscheibe zu fassen, brachte er nicht fertig. Er setzte sich in seinen klapprigen Ford und drückte mit beiden Händen auf die Hupe. Jetzt verschwand alles Licht, und der Regen spülte das Blut davon. Der Wind hörte auf zu wehen. Das Autoradio wurde leiser, das Prasseln der Regentropfen auf dem Blech zum sanften Lärm. McGonigle schloss die Augen und betete. Irgendwann würde jemand kommen, um zu helfen, obwohl es nichts zu helfen gab.
Dreimal die Woche ist Gruppensitzung. Dann versammeln sich Vermeer und ein zweiter Arzt, zwei Pfleger und neun Männer im Runden Raum. Der Runde Raum ist eckig, aber wir sitzen mit unseren Stühlen in einem Kreis auf einem bunten runden Teppich. Ich muss mitmachen, obwohl ich nicht rede. Vermeer meint, ich würde irgendwann etwas sagen, wenn ich nur lange genug den anderen zuhöre. Sein Kollege, der Pendergast heißt, redet kaum und macht sich dauernd Notizen. Er ist jünger als Vermeer, vielleicht fünfunddreißig, hat aber eine Glatze, auf der sich ein paar helle Haare gehalten haben. Dafür wächst ihm ein Bart, was aussieht, als trage er den Kopf verkehrt herum auf dem Hals. Er ist klein und füllig und seine Stimme so tief, dass man meinen könnte, er verstelle sie, um erwachsener zu wirken. Er trägt Cordanzüge, hell- und dunkelbraune, dazu Ledersandalen. Melvin sagt, Pendergast schwimme jeden Tag fünfzig Längen. Das Schwimmbecken hier hat olympische Maße, und ein Bademeister passt auf, dass sich keiner von uns darin ertränkt.
Ich kann Pendergast nicht leiden. Nicht nur, weil er freiwillig schwimmt. Es sind seine Gesten. Jede seiner Bewegungen scheint einstudiert. Wie er den Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts nimmt. Wie er die Seiten des Schreibblocks umschlägt und den Arm ausstreckt, bevor er etwas aufschreibt. Wie er sich über den Bart streicht und dann über die Krawatte. Die Art, wie er sich zu Vermeer lehnt, um ihm wichtige Beobachtungen ins Ohr zu flüstern. Oder wie er die Beine übereinanderschlägt und dann die Hosenbeine zurechtzupft. Eine steife Choreografie aus Wiederholungen, eine Endlosschleife penibler Bewegungsmuster. Pendergasts Körpersprache ist eine digitale Bandansage, eine maschinelle Mitteilung, deren Sinn nach unzähligem Abspielen ins Absurde kippt.
Eigentlich will keiner der Männer hier sein, aber die Sitzungen sind Pflicht. Das Reden in der Gruppe soll die Männer öffnen, das Thema Suizid frei diskutiert werden, hat Melvin mir erklärt. Vermeer hält es für eine wirkungsvolle Therapie, wenn die Männer ihre Ängste in Worte fassen. Wer fünfmal erscheint, darf einmal aussetzen. Wer dreimal nicht aufkreuzt, wird in die Halboffene Abteilung verlegt. Weil sich keiner den Aufenthalt hier verscherzen will, sitzt jeder pünktlich auf seinem Stuhl.
Die Sitzungen laufen immer ähnlich ab. Vermeer begrüßt alle, stellt die Neuen vor und fordert uns dann auf, loszuwerden, was uns auf dem Magen liegt und unsere Seele bedrückt. Keiner will freiwillig den Mund aufmachen, und so bittet Vermeer meistens Stan, als erster zu reden. Stan will immer von seinen Düngemitteln erzählen, aber dann fordert Vermeer ihn jedes Mal freundlich auf, von sich zu berichten, von seinem Leben und seinen Problemen, warum er hier ist und ob er seine Frau vermisst. Aber Stan doziert lieber über Kompost und Kuhmist und hält sich ansonsten bedeckt.
Wenn Rodrigo loslegt, klingt es, als ob er den Hergang einer Schlägerei erzählt, jedenfalls fuchtelt er mit den Fäusten und benutzt spanische Ausdrücke, die nach wüsten Flüchen klingen. Vermeer versucht dann immer, ihn zu bremsen, und blättert in einem Wörterbuch, das auf seinen Knien liegt.
Roger erzählt mit leiser, aber fester Stimme von Umweltgiften und Chemiekonzernen, von Grundwasser und Tod. Dabei betet er chemische Substanzen und Firmennamen herunter und bewegt seine Finger, als zupfe er in seinem Schoß Unkraut.
Elroy redet nicht viel, und wenn, dann zählt er emotionslos Gründe auf, die es rechtfertigen, sich umzubringen. Dazu steht er auf wie ein Schüler im Unterricht und legt sich das weiße Handtuch, auf dem er sonst sitzt, über den Kopf. Vermeer versucht geduldig, Elroys Katalog zu widerlegen, aber Elroy zuckt nur mit den Schultern, faltet das Tuch penibel zusammen und setzt sich hin.
Sam streitet sich jedes Mal mit Vermeer, weil er nichts sagen will, be vor nicht die Ziegen aus dem Garten entfernt werden. Erst wenn Vermeer Abhilfe verspricht, wird Sam ein paar Sätze los. Er weist uns alle darauf hin, dass er Selbstmord nicht mehr als Lösung betrachtet und nur noch hier ist, weil er gebraucht wird. Sam arbeitet in der Schreinerei und hält sich für unersetzbar. Er baut gerade zwanzig Sitzbänke für den Park, danach plant er ein Gartenhaus und einen Geräteschuppen. Ich glaube, er würde den Eiffelturm aus Holz nachbauen, um seinen Aufenthalt hier zu rechtfertigen.
Wenn Wayne an der Reihe ist, brabbelt er irgendetwas von einer großen fetten Frau, die ihn in eine Kühltruhe sperrt. Er liebt es, zu demonstrieren, wie er zusammengekrümmt in der Kälte hockt und sich die Ohren reibt, damit sie nicht abfrieren. Manchmal kriecht er unter seinen Stuhl, zittert und ruft, sein Selbstmordversuch sei ein Missverständnis gewesen, ein Unfall. Er habe die Kühltruhe nur reparieren wollen, damit seine Frau endlich Ruhe gebe. Von Melvin weiß ich, dass Wayne alleine lebte, bevor er hier landete. Vor einem Jahr hat er Schlaftabletten genommen und sich in die Kühltruhe gelegt, in der schon seine tote Katze lag. Das Tier war Waynes Kind gewesen und tags zuvor gestorben. Stunden später war Wayne, halb erfroren, von einem Nachbarn entdeckt worden, der regelmäßig Fleisch von ihm stahl. Nach seinen Auftritten setzt Wayne sich wieder hin und verschränkt die Arme vor der Brust, als fröstele ihn vom Erzählen.
Ein Typ, der zwei Tage nach mir hier eingeliefert wurde, macht aus der Möglichkeit, sich Dinge von der lädierten Seele zu reden, eine kleine Show. Er ist ein paar Jahre älter als ich, aber noch keine dreißig, und wenn er redet, denke ich immer, er sei auf Speed oder Koks, obwohl das hier drin vermutlich unmöglich ist. Er stellt sich in die Mitte des Teppichs, da, wo die farbigen Kreise in einem goldgelben Punkt enden, hält eine Rede über den Krieg und dreht sich dabei so, dass er jedem von uns eine Minute lang in die Augen starren kann. Vermeer spricht ihn mit Edward an, aber er selber nennt sich Kanonenfutter Carson. Sam sagt, Carson sei desertiert und spiele den verhinderten Selbstmörder nur, um dem Militärgericht zu entgehen. Wenn das stimmt, ist der Typ ein verdammt guter Schauspieler. Ich weiche seinem Blick jedenfalls immer aus und bin froh, wenn er endlich wieder sitzt und schweigt.
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