Weil sie noch keinen Ton von sich gegeben hatte, fragte Wilbur sich nach einer Weile, ob sie vielleicht eingeschlafen oder in der Hitze ohnmächtig geworden sei. Aber dann entströmte der Frau ein Seufzer, der den Stoff des Schleiers vor ihrem Mund bewegte, und sie hob den Kopf und sah Wilbur an. In ihren Augen hinter dem Vorhang aus schwarzem Stoff glaubte er Kummer zu erkennen. Er wollte fragen, was los sei, brachte aber keinen Ton hervor. Seine Lungen waren gefüllt mit abgestandener Luft. Die Frau griff in ihren Schoß und reichte Wilbur sein Geld.
«Geh«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, freundlich, eine Spur Traurigkeit lag in ihr.»Geh«, wiederholte sie ein wenig fordernder, als Wilbur sich nicht rührte. Sie machte eine Handbewegung, als wische sie Krümel von einer Buchseite, und ließ sich in ihren Sessel sinken, zurück in die Dunkelheit.
Wilbur betrachtete seine Handfläche, in der die Geldstücke lagen, erhob sich schließlich und ging hinaus. Geblendet vom Licht, stolperte er auf den Stufen, und die Münzen fielen klimpernd zu Boden und rollten davon, unter geparkte Autos und den Wohnwagen. Wilbur ließ sie liegen. Er rieb sich die Augen, sah gelbe Sterne. Er war so durstig wie nie zuvor in seinem Leben. Aislin stand in einiger Entfernung und winkte Colm zu, der sich durch die Leute schlängelte. In einem Baum saßen Krähen. Ein Luftballon stieg empor, Kinder riefen. Wilbur sah ihm nach, er war blau und bald verschwunden, wie aufgelöst in der Farbe des Himmels.
Als der Traktor auf dem Gelände des Sägewerks hielt, wieherte das Pferd und scharrte unruhig auf dem Bodenblech. Die Maschinen standen still, und Sean und die Männer kamen, um zu sehen, was Colm da brachte. Aislin und Wilbur hatten auf dem Markt einen Sattel und Zaumzeug und unterwegs zwei Säcke Hafer gekauft, jetzt hielten sie neben dem Anhänger, aus dem Colm das Pferd führte.
«Was wird das, wenn’s fertig ist?«wollte Sean wissen. Er sah das Pferd nicht an, nur seine Frau.
«Das ist Kierans Pferd«, sagte Aislin und tätschelte das Fell des Tieres.
Fiona kam mit ihrer Puppe aus dem Haus. Conor, der auf sie aufgepasst hatte, folgte ihr. Wilbur und Conor nickten einander zu.
«Dass es keine Kuh ist, sehe ich auch«, sagte Sean. Einer der Männer, Owen Hegarty, ein einfacher Mann ohne Träume, lachte und hustete. Sean scheuchte die Arbeiter mit einem Blick zurück in die Halle.»Was sollen wir damit?«
«Habe ich doch gesagt, es ist für Kieran«, sagte Aislin.
«Für Kieran? Bist du übergeschnappt? Was soll Kieran mit dem Gaul?«
«Reiten«, sagte Aislin. Sie legte dem Pferd das Zaumzeug an. Colm half ihr dabei.
«Reiten?«Sean lachte auf.»Er kann nicht mal geradeaus gehen! Wie soll er da reiten?«
«Dein Sohn kann sehr wohl reiten«, sagte Aislin ruhig.»Wenn du einmal mitgekommen wärst und ihn gesehen hättest, wüsstest du es.«
«Kann ich auch auf ihm reiten, Ma?«fragte Fiona, hielt aber einen sicheren Abstand zu dem Pferd, das sich beruhigt hatte und auf dem Hafer kaute, den Colm ihm in der Handfläche vor das Maul hielt.
«Natürlich, Schatz«, sagte Aislin.
«Conor, geh mit deiner Schwester ins Haus!«Sean zeigte mit gestrecktem Arm auf das Haus. Conor rührte sich nicht vom Fleck und schloss seine Hand fester um die von Fiona.
«Wie heißt es?«fragte Fiona. Sie ignorierte ihren Vater mit der Respektlosigkeit einer Dreijährigen, die von einem drohenden Streit nichts ahnt.
«Joy«, sagte Aislin.
Fiona, noch immer an der Hand ihres Bruders, ging zu dem Pferd hin und berührte es mit den Fingerspitzen.»Joy«, sagte sie leise, und das Pferd nickte. Als der Motor der Bandsäge ansprang, schnaubte das Tier erschrocken und tänzelte nervös auf der Stelle. Aislin tätschelte seinen Hals und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr.
«Conor, ich hab gesagt, du sollst mit deiner Schwester ins Haus gehen!«brüllte Sean. Er packte Conor an der Schulter und schob ihn vom Pferd weg. Fiona stolperte. In Conors Augen lag blanker Hass. Sein Vater starrte Conor für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt an und stieß ihn dann mit der Handfläche hart gegen die Brust.»Jetzt!«
Conor strauchelte rückwärts, ohne seine Schwester loszulassen, und ging ins Haus. Blut rauschte in seinen Ohren, sein Herz hämmerte. Fionas Weinen kam von weit her, obwohl sie an seiner Hand ging. Das Haus war leer und dunkel und kam Conor so fremd vor, dass er im Flur stehenblieb und sich verwirrt umsah, bevor er hinauf in sein Zimmer ging. In der Küche lief das Radio, vor dem Conor und Fiona eben noch gesessen hatten, Werbung plärrte. In seinem Zimmer ließ Conor die Hand seiner weinenden Schwester los, öffnete den Kleiderschrank und kniete sich hin, um die hinter Schuhen und Schachteln verborgenen Winterstiefel hervorzuholen, in denen der Revolver und die Munition lagen. Er schob die Patronen im Dunkel des Schrankes in die Kammern, klappte die Trommel zurück, schob die Waffe unter das Hemd und erhob sich. Er nahm Fiona wieder an der Hand und führte sie ins Badezimmer, strich ihr über den Kopf, ging hinaus und sperrte die Tür zu. Fionas Weinen wurde zum panischen Schreien und vermischte sich, während Conor die Treppe hinunterging, mit der einfältig fröhlichen Musik aus dem Radio.
Das Sonnenlicht ließ ihn in der offenen Tür verharren, er hörte die Stimmen seiner Eltern und die von Colm, darüber lagen der Lärm der Säge und das aufgeregte Wiehern des Pferdes. Er nahm keine Worte wahr, nur diesen Lärm, der ihn traf wie die Hitze, und er umfasste den Griff des Revolvers mit beiden Händen und ging auf seinen Vater zu. Colm sah die Waffe als erster und rief etwas, öffnete zumindest den Mund. Er hob die Arme, seine Bewegungen waren langsam, verloren sich im Licht, das Conor nichts mehr sehen ließ außer seinen Vater, die dunkle Gestalt, die das Pferd in den Anhänger zerrte und es mit einer Holzlatte auf die Flanke schlug.
Aislin sah den Revolver, begriff erst nicht und starrte Conor an. Dann entfuhr ihr ein Schrei, höher als das wütende Singen des Sägeblatts, das sich durch einen Baumstamm fraß, sie taumelte auf ihren Sohn zu, und wie in völliger Dunkelheit streckte sie die Hände nach ihm aus. Conor hielt den Griff mit beiden Händen fest und hob die Arme, zielte mit dem Lauf auf seinen Vater. Als Sean sich umdrehte, sah Conor ihm ins Gesicht und drückte ab.
Die Stille nach dem Knall war ein Vakuum, das jedes andere Geräusch schluckte, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt verschwand. Conor hörte nichts mehr, nicht den Schrei seiner Mutter, nicht Colms Ruf und nicht das Trampeln des Pferdes, das über den Hof zur Straße galoppierte, und auch nicht den langen, seufzenden Atemzug seines Vaters, als er auf die Erde fiel.
Orla war zu Hause und bei Colm gewesen und fuhr jetzt in den Ort. Colm hatte ihr gesagt, dass er mit Wilbur den Markt besuchen würde, und sie nahm an, dass die beiden vor Dempsey’s Pub in der Abendsonne saßen und Limonade tranken. Sie konnte es kaum erwarten, Wilbur zu sehen und ihm die Überraschung zu präsentieren. Während sie an der Küste entlangfuhr, sang sie laut den Refrain eines Liedes mit, das sie am Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Das Licht über den Hügeln wurde schwach, als ob es von den Wolken aufgesaugt würde wie Jod von Wattebäuschen. Böen kraulten grob das Gras auf den Feldern und fuhren in Baumkronen, die sich blähten. Das Meer war unruhig und von einer Helligkeit, als sei die Oberfläche ein Schwarm aus Fischen, die das letzte Licht auf ihren Rücken trugen. Weit vorne berührte das Tintenblau die Erde, dort regnete es schon.
Orla sah das Pferd nicht, das vor ihren Wagen rannte. Vielleicht hätte sie sich an sein weißes Fell mit den braunen Flecken erinnert, an die helle Mähne, die im Wind flatterte, an die Bewegung des Körpers, die einfror wie manchmal das Bild auf der Leinwand im Dubliner Kino, bevor endlich ein neuer Projektor angeschafft worden war. Wahrscheinlich wäre ihr der Refrain des Liedes, das sie in der Sekunde des Zusammenpralls gesungen hatte, nie mehr aus dem Kopf gegangen, eine endlos kreisende Hymne auf die Willkür des Schicksals, den Zynismus des Zufalls.
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