Kaum ist Stan gegangen, poltert Rodrigo ins Zimmer und will mich in die verglaste Raucherzelle am Ende des Flurs schleppen, weil er nikotinsüchtig ist und die Hausordnung das Rauchen in den Zimmern untersagt. Er redet zu laut und meistens in Spanisch, zeigt mir die Tätowierungen auf seinen Unterarmen und hustet in ein Taschentuch, das zerknüllt in seiner behaarten Faust liegt. Er hat Mundgeruch und trägt einen roten Trainingsanzug, und ich hasse ihn. Das einzige Erfreuliche an ihm ist, dass er nach ein paar Minuten verschwindet, hastig und grußlos und eine Zigarette aus der Packung schüttelnd.
Den dritten ungebetenen Besucher heute, Roger, könnte ich vielleicht sogar mögen, wenn er mir draußen über den Weg laufen würde. Er ist um die vierzig, sieht aus wie Michael Caine und verliert kein Wort. Er stellt mir einen Stapel zwischen Pappdeckel gebundener Zeitungsausschnitte vors Bett, wartet, bis ich mir den obersten Band auf die Knie lege und aufschlage, und verlässt mit dem restlichen Stapel das Zimmer.
Elroy und Wayne, die beiden alten Schwarzen, fragen nur, ob ich Schach spielen würde, und als ich verneine, bin ich für sie gestorben. Soll mir recht sein. Die Namen der drei, vier anderen Gestalten, die sich im Verlauf des Nachmittags ins Zimmer verirren, kenne ich nicht, und ich habe nicht das Bedürfnis, sie herauszufinden.
Als es draußen dunkel wird, fließt warmes Licht durch die Flure. Wie auf ein Zeichen bewegen sich die Männer in eine Richtung. Abendessen, sagt Melvin. Ich habe keinen Hunger und bleibe liegen. Eine wundervolle, beängstigende Weile bin ich völlig allein.
Melvin. Melvin Rosenkranz, der seit zehn Monaten hier ist, wie er mir heute Morgen beim Frühstück erzählt hat. Melvin, der im Schlaf Hebräisch spricht und am Tag breiten Südstaatenakzent, der ein schwarzes Käppi trägt, das die Hälfte seiner Glatze bedeckt, der ständig eine Dose Malzbier in der Hand hält und seine Pantoffeln abends in einen Stoffbeutel packt und unters Kopfkissen legt, damit sie am Morgen warm sind. Ich würde ein Einzelzimmer vorziehen, aber die gibt es hier nicht, und außerdem mag ich Melvin irgendwie, denn er quatscht mich nicht voll, verlangt nicht, dass ich anfange zu rauchen, zeigt mir nicht die Bücher, die er gerade liest, und weckt mich nicht auf, um zu fragen, ob ich schlafe. Melvin ist in Ordnung, weil er mich in Ruhe lässt. Weil er trotzdem da ist und sagt, ich soll es aufschreiben, wenn ich irgendetwas brauche oder wissen will. Und weil er nicht schnarcht und sein Bett nicht knarrt, obwohl er so dick ist.
Die erste Nacht mit Melvin Rosenkranz im selben Raum war ziemlich merkwürdig, trotz der Faltwand zwischen unseren Betten. Ich fühlte mich gehemmt und ging auf Zehenspitzen zum Klo, um ihn nicht zu wecken. Als ich dalag und seinen Atem hörte und die ins Dunkel gemurmelten Sätze, die ich erst für ein Gebet hielt, musste ich an meinen Großvater denken, den ich manchmal gehört hatte, nachts, als Kind.
Am Nachmittag fragt mich Melvin, woher ich komme. Er nimmt einen Bildband vom Regal, in dem eine Weltkarte abgebildet ist, und ich zögere absichtlich ein wenig und zeige dann mit dem Finger auf Irland, auf die oberste Spitze der Insel, hinter der nur noch Blau ist. Ein Paddy, sagt Melvin und kichert. Orla hat mir erzählt, ich sei in Amerika zur Welt gekommen, in Philadelphia, Pennsylvania. Aber das braucht Melvin nicht zu wissen. Auch nicht, dass ich mich trotzdem als Ire fühle, nicht als Amerikaner.
Ich zeige ihm den Zettel, auf den ich meine Frage geschrieben habe: was ist das hier? Vermeer hatte mir nur gesagt, ich sei zur Beobachtung hier, man würde sich um mich kümmern, bis es mir besser ginge. Selbstverständlich wolle man mich nicht gegen meinen Willen festhalten, sagte er. Zuletzt fragte er, ob ich alles verstanden hätte, und freute sich, als ich nickte. Aber ich weiß noch immer nicht, in was für einem Laden ich eigentlich bin. Ich will Melvins Variante hören.
Er setzt die Brille auf und liest, was auf dem Zettel steht. Dann kichert er wieder und lässt die Brille an der Kordel um den Hals baumeln.
«Nennen wir es Sanatorium für Strauchelnde«, sagt er.»Oder Auffanglager für Untaugliche, Refugium für Lebensmüde, Biotop für Ausgeklinkte, such dir was aus. Du musst es dir als Stadt vorstellen, Will, eine Stadt, untergebracht in einem riesigen Gebäudekomplex. Ich weiß nicht, was du bis jetzt gesehen hast, aber es ist nur ein kleiner Teil davon. Es gibt zum Beispiel eine Krankenstation hier. Da warst du, nicht wahr?«Er deutet auf das Heftpflaster an meinem Handgelenk.
Ich nicke. Wayne und Elroy bleiben an der Tür stehen. Tagsüber, zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends, müssen die Zimmertüren offenstehen, so will es die Vorschrift. Elroy hat sein Handtuch über die Schulter gelegt, als wolle er ein Bad nehmen. Ich scheuche sie mit einer Handbewegung fort.
«Die Stadt hat ihr eigenes Energiezentrum, Solar- und Erdwärmeanlagen. Da drüben«, Melvin zeigt zur Wand hinter seinem Bett,»stehen Windturbinen auf einem Feld. In Gewächshäusern wird Gemüse angepflanzt, biologisch. Wer lange genug hier ist und Lust hat, kann da arbeiten. Oder in der Schreinerei. Ist aber alles freiwillig. «Melvin trinkt einen Schluck Malzbier.»Hier wird keiner zu irgendwas gezwungen. Nicht mal dazu, wieder ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden. Falls er das jemals war. «Sein Kichern klingt, als ob in einer geschlossenen Scheune erfolglos versucht wird, den Motor eines Oldtimers zu starten.
Roger kommt rein und legt einen neuen Band mit Zeitungsausschnitten auf den Boden vor meinem Bett. Ich gebe ihm den von gestern zurück, er presst ihn an die Brust.
«Na, Roger, wie geht es dir heute?«fragt Melvin und nutzt die Unterbrechung, um sich ein neues Malzbier zu holen. Die Dosen stehen in seinem Schrank, mindestens zwanzig Stück auf Vorrat. Er hat mir gesagt, er wolle sie nicht im Gemeinschaftskühlschrank am Ende des Flurs aufbewahren, obwohl es dort für jeden Bewohner ein abschließbares Fach gibt. Er habe keine Lust, jede Viertelstunde den Gang runterzulatschen, um eine Dose zu holen, außerdem reagiere sein Magen empfindlich auf Kaltes.
«Es muss noch vieles getan werden«, sagt Roger beim Gehen.»Vieles getan werden. «Seine Stimme ist monoton und kaum hörbar, eine Durchsage aus defekten Lautsprechern. Immerhin ist er nicht stumm, wie ich gedacht hatte.
Melvin reißt die Dose auf und setzt sich wieder in den Sessel neben meinem Bett.»Wie du ja weißt, nennt sich unser beschauliches Viertel Offene Abteilung. Hier kommt jeder hin, der das Gröbste hinter sich hat. «Er sieht mich an, wie um zu prüfen, ob das auf mich zutrifft.»Natürlich gibt es Ausnahmen. «Er grinst und zwinkert mir zu, nimmt einen Schluck und unterdrückt ein Rülpsen, klopft sich mit der Faust an die Brust.»Wer in die Stadt kommt, wird zuerst auf der Beobachtungsstation behalten. Oder, wie in deinem Fall, auf der Krankenstation. Aber das Ziel ist, die Männer so schnell wie möglich auf die Halboffene oder Offene zu verlegen. Wer raus will, zurück nach Hause, zu seiner Familie oder wohin auch immer, kann das natürlich auch. Jederzeit. Hier wird keiner gegen seinen Willen festgehalten. «Er nimmt einen langen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.»Auch da gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel wenn jemand akut gefährdet ist, unberechenbar.«
Ich frage mich, ob Vermeer denkt, ich sei so ein Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ein unheilbar Lebensmüder, der bei seinem Suizid Unschuldige mit in den Tod reißt, beim Sprung vom Hochhausdach einen Verkehrsunfall verursacht, auf den Schienen liegend einen Zug zum Entgleisen bringt, mit dem Kopf im Backofen eine Gasexplosion in einem Wohnhaus auslöst, seinen Schädel durchlöchert und mit derselben Kugel auch die Nachbarin hinter dem Küchenfenster tötet.
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