«Da sind die Meinungen geteilt«, sagte er schließlich, nachdem er sich ein neues Bonbon in den Mund gesteckt hatte. Den Satz lieh er sich vom jungen McSweeney, der in einer weißen Schürze hinter der Fleischtheke stand und seinen Vater damit ärgerte, dass er die Kundschaft in aussichtslose Diskussionen verstrickte. Fragte ihn eine arglose Hausfrau, was er von den Unwettern im Südwesten halte und ob möglicherweise das Ozonloch schuld sei, leitete er die Antwort mit seinem» Da sind die Meinungen geteilt «ein und ließ dann seine grotesken und zeitaufwendigen Ansichten zur Lage der Menschheit folgen, die meistens in der Behauptung gipfelten, die Regierung schütte» Zeug «ins Trinkwasser, das die Leute zu willenlosen Robotern mache. Wilbur hängte seinem» Da sind die Meinungen geteilt «nichts an, er wartete lieber, welche Vermutungen den Fragenden umtrieben.
«Der Pfarrer sagt, wenn man katholisch ist, kommt man in den Himmel«, sagte Conor.»Ins Jenseits, als Engel.«
«Aber nur die Guten, die ohne Sünde«, sagte Wilbur.
«Und die andern?«
«Die nicht. Die landen in der Hölle.«
Die beiden Jungen ließen das Wort auf sich wirken. Hölle. Es bescherte ihnen ein leichtes Schaudern, als wehte kalte Luft durch einen Türspalt. Beide zogen die Beine an, schlangen die Arme darum und legten das Kinn auf die Knie. Ein Traktor tuckerte eine Straße entlang und zog eine Fahne aus blauen Abgasen hinter sich her.
Wilbur ließ seine Beine plötzlich los und starrte Conor entsetzt an.»Denkst du, ich lande in der Hölle?«
Conor drehte den Kopf und legte die Stirn in Falten.»Wie kommste denn darauf ?«
«Weil ich dich… geschlagen habe!«Wilbur vermied den Ausdruck verprügelt, es war ihm unangenehm genug, den Vorfall überhaupt zu erwähnen. Seit Conor vor drei Wochen an die rote Tür geklopft hatte, war zwischen ihnen kein Wort über den Tag auf dem Schulhof gefallen.
«Blödsinn«, sagte Conor.»Ich leb ja noch. Für die Hölle musste schon einen umbringen.«
Wilbur dachte nach. Der Traktor war zum Fleck geworden, zum winzigen rauchenden Schiff, das durch grüne Wellen fuhr. Hatte er selber aufgehört, auf Conor einzuschlagen, oder hatte ihn ein Lehrer weggezerrt und hochgehoben, bevor…?
«Hey, Will!«Conor stieß Wilbur in die Seite und lachte, zeigte seine schwarze Zunge und den Zahn, dem ein Stück fehlte.»Du kommst nicht in die Hölle, das kannste mir glauben.«
Wilbur sah Conor an. Der nickte, machte den Mund zu und blickte wieder nach vorne. Der Traktor war verschwunden, sein blauer Schweif hatte sich aufgelöst. Hinter den Hügeln, auf denen keine Schafe mehr standen, stiegen Wolken auf. Bald würde es kühler werden, dachte Wilbur, und Orla würde aus dem Haus kommen und nach ihnen rufen. Eine Fliege setzte sich auf seine Hand und rieb sich die Hinterbeine. Licht fing sich in ihren Flügeln, die technische Wunderwerke waren, das hatte er gelesen. Conor legte den Kopf zurück, spuckte das Bonbon in die Luft und fing es mit dem Mund wieder auf. Die Fliege sah Wilbur mit ihren dunkelblau schimmernden Facettenaugen an und schwirrte davon, eine betrunkene Spur in die Luft zeichnend.
«Ich hoff, mein Alter kommt in die Hölle«, sagte Conor, in die Landschaft blickend, die ihm so vertraut war, dass sie sich manchmal auflöste vor seinen Augen, flach wurde und leer und unendlich weit.
Wilbur hatte den Trick mit dem Spucken auch versucht, aber sein Bonbon landete entweder in seinem Gesicht, den Haaren oder im Gras. Er schob den Ärmel des Pullovers zurück und sah auf die Uhr, obwohl ihn die Zeit nicht interessierte. So hatte er etwas, das Conor nicht hatte, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte. Er überlegte, ob er wollte, dass sein Vater, den er nie gesehen hatte und der tot war, auch in der Hölle schmorte, aber da rief Orla nach ihnen, und ihm war, als könne er die heiße Schokolade riechen und die Musik hören, die in der Küche auf sie warteten.
In der Karottensuppe ist weder Basilikum noch Dill, sondern Majoran. Meine Großmutter hat aus dem Sandkasten einen Kräutergarten gemacht, nachdem wir aufgehört hatten, mit den Indianerfiguren zu spielen. Keine Ahnung, warum ich nicht mehr spielen wollte. Vermutlich hatte ich es plötzlich eilig, erwachsen zu werden. Ich gäbe einiges darum, die Zeit zurückzudrehen und wieder mit Orla Städte in den Sand zu bauen, während uns die Sonne auf die Köpfe scheint. In meinem Koffer im Hotel liegen der Indianer und das weiße Pferd. Ich muss bald raus hier und ihn holen. Nur Orla und ich dürfen die Figuren berühren.
«Da hat aber jemand mächtig Appetit gehabt. «Sie schiebt mir den letzten Löffel Suppe in den Mund und wischt mit der Serviette über meine Lippen. Sie heißt Aimee Ward, so steht es auf dem Namensschild, das an ihrem blauen Sweatshirt steckt und das mir gestern nicht aufgefallen war. Die Taschen ihrer Cargohose sind noch immer vollgestopft mit irgendwelchem Zeug, die Kabel der Ohrstöpsel hängen raus und die schlaffen Finger weißer Gummihandschuhe. Aimee bleibt am Bettrand sitzen, den leeren Teller auf den Knien, und sieht mich an.
«Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du könntest wirklich ein Bad vertragen. «Sie erhebt sich und stellt den Teller auf das Tablett. Dann öffnet sie mit einem Schlüssel eine Klappe an der Wand neben der Tür und dreht einen Schalter, vermutlich die Klimaanlage. Dazu hebt sie das Sweatshirt hoch, weil der Schlüssel an einem Bund vor ihrem Bauch hängt.
Ich muss zugeben, dass ich stinke. Wenn ich die Bettdecke anhebe, weht mir ein süßlichfauliger Geruch entgegen, streng und beinahe unmenschlich, als würden da unten exotische Tiere ihre Jungen aufziehen.
«Soll ich dir ein Bad einlassen?«fragt Aimee. Sie verschließt das Türchen, damit ich mich nicht mit Hilfe der Klimaanlage umbringen kann, zieht das Sweatshirt runter und dreht sich um. Sie nimmt das Tablett vom Stuhl, sieht mich an.»Nick einfach, der Rest wird erledigt.«
Ich sehe an die Decke. Meine Kopfhaut juckt, ich kann das ranzige Fett in meinen Haaren riechen. Die Wunde am linken Handgelenk kribbelt unter dem Verband. Ich frage mich, ob der Schnitt genäht werden musste. Habe ich mir gestern eigentlich in die Hose gepisst? Oder war das, wenn überhaupt, vorgestern, vor drei Tagen? Den Aromen nach zu urteilen, die mir entströmen, liege ich hier schon eine Ewigkeit. Ich ekle mich vor mir selber. Ich nicke.
«Einmal Vollbad, wird sofort erledigt. «Aimee lächelt und verlässt das Zimmer.
Ich liege da und bereue es, genickt zu haben. Eine Dusche wäre mir lieber gewesen. Ich hätte um Papier und Stift bitten sollen, stumm natürlich, mit Gesten, oder eine Dusche pantomimisch darstellen, die Finger flatternd über meinem Kopf, langsam rieselnde Tropfen. Ich hätte mir mit imaginärem Duschgel die Achseln einseifen, mit unsichtbarem Shampoo die Haare waschen sollen. Vor meinem verhinderten Ertrinken im Loch der verlorenen Seelen hatte ich nichts gegen Badewannen. Orla steckte mich mindestens dreimal die Woche hinein, und ich fand es überhaupt nicht beängstigend. Ich hatte ein kleines Schiff aus rotem und gelbem Plastik, einen Schlepper, der sich durch die schaumige See zwischen zwei Inseln kämpfte, meinen Knien. Orla sang Seemannslieder und wusch mir die Haare. Dampf hing in der Luft und legte sich als feine Schicht auf den Spiegel, in die Orla später unsere Namen und ein Herz zeichnete.
Warum erinnere ich mich bloß an diese Dinge und nicht daran, was vor ein paar Tagen passiert ist? Wo bin ich ins Meer gefallen? Bin ich reingesprungen? Wie bin ich dorthin gekommen? Warum träume ich von einem toten Hund? Als ich mich aufsetze, wird mir schwindlig, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen wie Hologramme von dicken Fliegen.
Die Tür geht auf, und meine beiden Kumpels kommen rein, als wären wir zu einem Abend vor dem Fernseher verabredet. Sie tragen weiße Hosen und Poloshirts, ein grünes und ein gelbes, reden aufgekratzt auf mich ein, stellen mich auf die Beine und ziehen mir einen riesigen weißen Bademantel mit Kapuze an. Einer der beiden stülpt eine Plastiktüte über meine linke Hand und umwickelt sie hinter dem Verband mit einem Riemen aus Klett. Ich schwanke ein wenig, komme mir vor wie ein Boxer, der für den Kampf vorbereitet wird und schon in der Garderobe angeschlagen ist. Der andere hebt meine Füße an und schiebt sie in die Gummischlappen, die neben meinem Bett stehen und mich an kleine bunte Boote erinnern, bereit zum Auslaufen. Ich lese die Namensschildchen auf ihrer Brust. Philipp und Robert.
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