Oft saß Wilbur auf seiner Bank, hielt in der Hosentasche den Indianer auf dem Pferd fest und dachte an Orla und daran, dass er alles dafür geben würde, bei ihr zu sein. Ertappte ihn Miss Ferguson bei seinen Tagträumereien, musste er aufstehen und unter den Blicken der übrigen Kinder wiederholen, was die Lehrerin eben gesagt hatte. Weil er das nicht konnte, musste er für den Rest des Unterrichts neben ihrem Pult stehen, ohne sich zu rühren, und regelmäßig ließ sie ihn eine Stunde nachsitzen und Sätze in ein liniertes Heft schreiben.
«Ich soll der Lehrerin zuhören.«»Ich soll dem Unterricht folgen. «Jede Seite hatte dreiundzwanzig Zeilen, und für jede Zeile ließ Wilbur sich genau so viel Zeit, dass die Strafaufgabe die Stunde füllte. Das erste Mal hatte er den Fehler begangen, nach einer halben Stunde fertig zu sein und aus dem Fenster zu sehen, worauf Miss Ferguson ihn eine weitere Seite schreiben ließ und eigens für ihren unaufmerksamen Wunderknaben anspruchsvollere Sätze ersann.»Wenn Gott gewollt hätte, dass ich den Tag mit unnützen Gedanken verschwende, hätte er mich zum sorglosen Äffchen im Urwald gemacht.«»Ich bin ein leeres Gefäß, und meine Unaufmerksamkeit ist der Riss, durch den das Wissen rinnt.«»Die Schule ist ein Ort des Fleißes und Lernens, nicht des Müßiggangs und Träumens.«
Immerhin war Wilbur nicht der einzige, der nachsitzen musste. Auch andere Kinder schenkten dem Unterricht nicht die Beachtung, die Miss Ferguson forderte. Zudem verhängte sie Strafen für alles, was in irgendeiner Weise gegen ihre selbsterlassenen und ständig erweiterten Regeln verstieß. Ihr langer Katalog der Vergehen reichte von kleinen Sünden wie schmutzige Fingernägel, Nasebohren oder Bleistiftkauen über schwerer wiegende Verstöße wie Abschreiben, Ritzen von Initialen und Zeichen in die Pultdeckel oder Mitbringen von Spielzeug und Comic-Heften bis zu Kapitalverbrechen, zu denen unentschuldigtes Zuspätkommen, dreckige Schuhe im Klassenraum und Prügeleien zählten und die, je nach Schwere, mit einmaligen Ermahnungen, Strafaufgaben und Nachsitzen geahndet wurden.
Weil Wilbur immer mit sauberen Schuhen und Fingernägeln zur Schule ging, alleine in der vordersten Bank saß und somit niemanden zum unerlaubten Reden hatte, den Indianer auf dem Pferd nie aus der Hosentasche nahm und auch sonst nichts tat, was Miss Ferguson hätte missfallen können, blieb es bei den zwei bis drei Stunden Nachsitzen pro Woche wegen Tagträumens.»Es ist nicht lehrreicher, vorüberflatternde Vögel zu beobachten, als den Ausführungen der Lehrerin zu folgen. «DOCH! hätte Wilbur am liebsten hinter jede Zeile geschrieben. Zu Hause lag Die Schatzinsel auf seinem Kopfkissen, und im Regal warteten Reise zum Mittelpunkt der Erde und In achtzig Tagen um die Welt auf ihn, und sie lasen seit Monaten in einem Buch, dessen Sätze so einfältig und langweilig waren wie die Illustrationen dazu.»John kauft einen Apfel im Laden.«»Mister Smith trägt einen neuen braunen Hut. «Natürlich waren die Vögel vor dem Fenster interessanter! Jedes ihrer Flugmanöver war aufregender als alle dummen Sätze des Buches zusammen. Jeder Flügelschlag, jedes Glitzern der schwarzen Federn im Licht war tausendmal spannender als die Art, wie Miss Ferguson ihr Wissen weitergab.»Mit meiner Weigerung, dem Unterricht zu folgen, beschäme ich nicht nur mich und die Schule, sondern auch meinen Schöpfer. «Selbst nach der hundertsten Niederschrift gelang es Wilbur nicht, die tiefere Bedeutung des Satzes zu begreifen.
Conor Lynch machte sich gar nicht erst die Mühe, den Sinn der Wörter zu ergründen, die er ungelenk und mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen zu Papier brachte. Es war eine Bestrafung, und er nahm sie hin wie schlechtes Wetter oder Zahnschmerzen. Im Gegensatz zu Wilbur bereitete es ihm große Mühe, die Seite innerhalb einer Stunde zu füllen, und das, obwohl er es noch immer mit den einfachen Sätzen zu tun hatte. Je mehr sich der Minutenzeiger der Zwölf näherte, umso schneller versuchte er zu schreiben und umso unleserlicher wurde seine Schrift, die ihm bereits unter größter Anstrengung nur ein Ungenügend einbrachte. Dann begann er zu ächzen und mit den Füßen zu scharren, und Wilbur konnte seinen Schweiß riechen.
Während Wilbur ruhig und flüssig Satz um Satz aufreihte, genoss er die Pein, die Conor Lynch erduldete. Jeder Seufzer erfüllte ihn mit Genugtuung, jedes kaum hörbare Wimmern entschädigte ihn für die Schläge, die er von dem Rüpel oder einem seiner Kumpane eingesteckt hatte. Heulte Conor leise auf, wenn ein Tintenklecks eine ganze Zeile ruinierte, hüpfte Wilbur das Herz vor Freude. Auch bei Conor hatte Wilbur zu Beginn des Schuljahres einen Fehler begangen, indem er ihn während des Nachsitzens schadenfroh angrinste. Später auf dem Flur und von Miss Ferguson unbemerkt, hatte Conor sich mit einer Kopfnuss gerächt, die Wilburs Schädel noch Stunden später summen ließ. Seither verkniff er sich jegliche Reaktion auf Conors Leiden und beschränkte sich darauf, seine kleinen Triumphe heimlich zu genießen.
Manchmal, wenn er seine Strafe absaß und Miss Ferguson für kurze Zeit den Raum verließ oder an ihrem Pult in ein Buch versunken war, sah Wilbur aus dem Fenster. Dabei achtete er darauf, den Kopf nur ein wenig zu drehen, kaum sichtbar, und stattdessen den Blick so weit wie möglich zur Seite zu lenken. Wenn er dann Orla entdeckte, die weit entfernt auf dem leeren Feld neben der Schule stand, durchströmte ihn das warme, wohlige Gefühl, das ihm während der endlos langen Stunden in diesem Gebäude so sehr fehlte. Orla schien zu spüren, wenn Wilbur sie ansah, und hob eine Hand, um ihm zuzuwinken. Wenn es besonders kalt war oder sie gute Laune hatte, hüpfte sie auf und ab und fuchtelte dabei mit den Armen, und ein der übrigen Welt verborgenes Lächeln legte sich für den Rest der Stunde auf Wilburs Gesicht.
Was für die anderen Kinder das Beste an der Schule war, fürchtete Wilbur am meisten. In den Pausen verkroch er sich in eine Ecke des von Steinmauern und Maschendrahtzaun eingefassten Hofes und hoffte, für einmal verschont zu bleiben. Ein Gestrandeter am Ufer eines Meeres aus Lärm, duckte er sich an die Mauer, machte sich kleiner, als er war, hob schützend die Hände vor das Gesicht, wenn die Wogen der Balgenden und Kämpfenden zu nahe an ihn heranbrandeten, und zählte die Sekunden bis zum erlösenden Schrillen der Glocke.
Als Conor, flankiert von seinen Freunden Sean Finn, Niall McCoy und Liam O’Donnell vor ihn trat, schloss Wilbur die Augen und flehte stumm darum, unsichtbar zu werden, im Boden zu verschwinden oder in einer Mauerritze.
«He, Hosenscheißer!«Conor gab sich Mühe, tief und bedrohlich zu klingen, obwohl auch er noch eine ganze Weile auf den Stimmbruch warten musste. Sein Gefolge kicherte, ballte nervös die Fäuste in den Taschen.»Warum biste so weiß?«
«Bleicher als ’n Nonnenarsch«, sagte Niall McCoy, der vorlauteste unter dem Trio, das an Conor klebte wie Putzerfische an einem Hai.
Conor trat einen Schritt nach vorne, um klarzumachen, dass es sein Vorrecht war, dem dürren Knilch eine Lektion zu erteilen. Dem Streber, der im Unterricht alles wusste und den Rest der Klasse dumm aussehen ließ, der mühelos in Büchern las und auf der Karte jedes noch so kleine Land am Ende der Welt fand. Dem Fremden, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte. Dem Abkömmling eines Selbstmörders.
«Was haste da eigentlich inner Tasche?«Conor zeigte mit der Schuhspitze auf Wilburs Hand, die in der Tasche seiner Hose steckte.
Wilbur antwortete nicht, sah Conor nicht an. Er blickte durch den Spalt in der Mauer aus Beinen, die vor ihm einen Halbkreis bildete, wartete, zählte lautlos Sekunden. Vielleicht kam eine Lehrerin vorbei und wollte wissen, was los sei. Oder einer der Lehrer sah aus dem Fenster der kleinen Teestube, deutete die Ansammlung richtig und schritt ein, bevor etwas passierte. Wilbur wünschte sich Regen. Ein Wolkenbruch würde die Kinder ins Gebäude scheuchen. Dort wäre er einigermaßen sicher, solange er auf dem Fenstersims saß, gut sichtbar für die Lehrkräfte, die Aufsichtsdienst hatten.
Читать дальше