Als Wilbur fünf Jahre alt wurde, zog Orla endgültig in sein Zimmer. Jede Nacht faltete sie die Wolldecke einmal zusammen und legte sich neben Wilburs Bett auf den Teppich. Weil sie am Morgen sowieso als erste wach war und in der Küche das Frühstück vorbereitete, merkte Eamon nichts von ihrer allnächtlichen Abwesenheit. Orla bezweifelte, dass er sie in seinen von Träumen beherrschten Nächten überhaupt noch wahrgenommen hatte, und nach einer Weile wusste sie mit Sicherheit, dass er sie nicht vermisste.
Nicht einmal Wilbur war bewusst, dass seine Großmutter seit zwei Jahren neben ihm schlief. Dass sie immer gleich an seinem Bett stand und ihm über den Kopf strich, wenn er wegen eines bösen Traums aufwachte, nahm er als selbstverständlich hin. Orla war seine Beschützerin, sein Engel, sie war das weiße Pferd, auf dessen Rücken er saß und keine Angst hatte. Sie war der vor Liebe glühende Kern seiner Welt, und er wollte niemanden sonst in dieser Welt haben. Allen voran nicht seinen Großvater, der einen Schatten warf auf die Sandkastenstädte wie der Riese aus dem Märchen, das Orla ihm vorgelesen hatte. Wenn der Mann nur weg wäre, dachte Wilbur vor dem Einschlafen, wenn er nur aus dem Haus gehen und nicht mehr zurückkommen würde.
Aus dem Haufen war ein Hügel, aus dem Hügel ein Berg geworden. Sein Erbauer war gleichzeitig geschrumpft, ging gebückt die Stufen hinauf und trug Steine wie Opfergaben. Sogar auf der Spitze wirkte er klein, eine Termite auf ihrem Bau. Mit schrundigen Händen und die Finger fast steif von der Gicht, ruhte er sich manchmal auf den Resten der Kirche aus, trank Wasser aus dem Krug, in dem sommers tote Insekten schaukelten, und aß den Kanten Brot, der in ein Tuch gewickelt war. Er sah die runde Steinpyramide nicht als sein Werk, sich selber jedoch als Werkzeug. Er kaute Brot mit den paar Zähnen, die ihm geblieben waren, und vermied es, auf das Meer hinauszusehen.
Stand die Sonne über ihm und blieb er zu lange sitzen, erwärmte sich sein Kopf, und etwas darin schien sich mit Lichtpartikeln anzureichern. Bilder leuchteten schwach und verschwommen auf, zitterten wie die Säure in einer Batterie, die keine Kraft mehr hat, einen ganzen Mechanismus in Bewegung zu setzen. Zu matt war das Glimmen, um ihm die Gesichter zu zeigen, die er einmal gekannt hatte. Staub auf dem Flügel einer Motte waren sie, aufgeladen mit Mondlicht, rasch verblassend.
Wolken strichen über Eamon hinweg, Regen und Wind. Die Tage vergingen, die Jahre, alle wirklichen und erdachten Leben. Er hockte auf kaltem Stein und atmete, ein verbrauchter Körper, unnütz zur Aufbewahrung von Erinnerung. Nie jung gewesen, nie ein Kind. Nie der Mann, der am irischen Nationalfeiertag beschließt, seinem erfundenen Leben ein Ende zu setzen, indem er die Wahrheit erzählt. Nie der junge Kerl, der vor versammelter Menge eine Beichte ablegen, sich bei seinen toten Eltern entschuldigen will. Der in der Rede, die er im Grattan Park in Galway halten soll, einen Lügner aus sich machen will, einen Betrüger und Dieb, vielleicht einen Mörder. Der alles vergisst, als er sie sieht. Seine Vorsätze über den Haufen wirft, seine Zuhörer begeistert mit Anekdoten von Bären und Banditen und dabei nur sie ansieht. Für sie alle Lügen wiederholt, alle Geschichten bestätigt und alle Legenden glänzen lässt wie das Gold, das er ihr schenken will.
Dieser Mann war er nicht. Vielleicht kannte er ihn, früher einmal, hatte seine Geschichte in einer Zeitung gelesen, denselben Artikel zweimal am selben Tag. Zweimal die Geschichte, deren Held ein junger Ire war, der in Amerika zu einem neuen Leben kam. Nein, das war er nicht. Wer sollte ihm das Lesen beigebracht haben? Sein Vater? Nicht einmal an den Geruch von Schafen erinnerte er sich. Er saß auf den letzten in die Erde sinkenden Steinen, die den Umriss eines Schiffs in die Wiese zeichneten, und kaute Brot, das jeden Tag in der Küche lag. Wer es dort für ihn hinlegte, wusste er nicht. Manchmal sah er eine Frau, die ihm aus dem Weg ging. Es kam vor, dass ihr Anblick eine Helligkeit in ihm entfachte, ein Funkeln nur, zu kurz, um eine wirkliche Empfindung auszulösen, aber lange genug, um eine Ahnung zu wecken, die jedoch bald abklang.
Nie würde er erfahren, wer die Frau war, die das Brot besorgte und die Äpfel, die seine Kleidung wusch und wusste, dass er Rindfleisch und Kartoffeln mochte und Kuchen. Und nie mehr würde er sich daran erinnern, dass er der Mann war zu dieser Frau. Dass es Zeiten gegeben hatte, da sie neben ihm lag. Dass ihr das Haar gehörte, das er auf dem Laken gefunden und das er um den Finger gewickelt hatte an der Stelle, an der früher ein goldener Ring gewesen war.
Nichts war ihm geblieben, wenn er unter dem weiten Himmel saß, kauend wie ein Schaf, und die Sonne ertrug und den Regen und die Kälte. Verschwunden waren die Bilder in seinem Kopf, die ihn mit den beiden Schwestern zeigten, Hand in Hand durch die Nacht treibend und etwas mit aller Kraft festhaltend, das ein Versprechen auf Glück schien, auf Trost und auf Vergebung.
Orla wollte Wilbur zu Hause unterrichten und stritt mit den Behörden fast ein Jahr lang um dieses Recht. Sie hatte es geschafft, ihn vor dem Vorschulunterricht und der ersten Klasse zu bewahren, aber obwohl der Junge fließend lesen und schreiben und einigermaßen rechnen konnte und wusste, was ein Buckelwal war und wie ein Vulkan entstand, verlor sie den Streit in letzter Instanz. Einen Tag nach der amtlichen Verfügung steckte man den acht Jahre alten Wilbur, der mühelos als Sechsjähriger durchging, in die Uniform und zweite Klasse einer Schule, die in einem schmucklosen Gebäude außerhalb einer Ortschaft namens Portsalon untergebracht war.
Es gab zwar einen Bus, der die Kinder auf den entlegenen Höfen aufsammelte, aber Orla fuhr Wilbur selber zur Schule und holte ihn dort wieder ab. Manchmal, nachdem sie im Auto gewartet hatte, bis Wilbur im Schulhaus verschwunden war, fuhr Orla an die nahe Küste und blieb dort, bis der Unterricht zu Ende war. Ohne ihren Enkel fühlte sie sich im Haus einsam und unnütz. Die ersten Tage allein hatte sie damit verbracht, das Zimmer aufzuräumen, die Küche gründlich zu putzen und für Eamon Essen vorzukochen, das sie in Plastikschüsseln abfüllte und einfror. Dann wusch sie sämtliche Vorhänge, jätete verbissen Unkraut und strich die Stühle, die das ganze Jahr draußen standen, neu. Als sie sich nach einer Woche dabei ertappt hatte, wie sie vor dem Sandkasten kniete und Muscheln nach ihrer Größe sortierte, war sie in den Wagen gestiegen und losgefahren.
Die Küste in der Nähe des Schulhauses unterschied sich nicht von der bei Fanad Head, aber die Tatsache, dass es nicht die vor ihrem Haus war, wirkte auf Orla beruhigend. Oft saß sie stundenlang im Auto, suchte einen Sender und blickte auf das Meer, das dasselbe war wie in ihrer Bucht und doch ein anderes. Seine Farbe war heller, und die Wellen erschienen ihr weicher und weniger bedrohlich. Sogar die Möwen hier kamen ihr freundlicher vor, sie flogen höher und ihre Rufe klangen lockend statt spöttisch. Wenn das Wetter es erlaubte, ging sie ein wenig spazieren und ließ sich den Wind über das Gesicht wehen. Beim Gehen überlegte sie sich, worüber sie mit Wilbur reden, was sie in den nächsten Tagen für ihn kochen und welche Geschichten aus der Zeitung sie ihm während des gemeinsamen Abendessens erzählen würde.
Im Auto lernte sie die Texte von Liedern auswendig, die im Radio gespielt wurden, strickte Pullover und füllte Zettel der öffentlichen Bibliothek von Letterkenny aus, mit denen sie Bücher für Wilbur reservierte. All das tat sie, um Zeit totzuschlagen, aber ihr wirkliches Leben fing immer erst dann wieder an, wenn sie mit Wilbur zusammen war.
Die ersten Wochen in der Schule waren für Wilbur die Hölle, und die Zeit danach wurde nicht viel besser. Er war der schmächtigste und kleinste unter den Jungen, und die Tatsache, dass ein Artikel über den Streit, den seine Großmutter geführt hatte, im Donegal Democrat erschienen war, machte ihn zur lokalen Berühmtheit. Die Lehrer, deren pädagogischen Fähigkeiten Orla McDermott infrage stellte, empfingen ihn mit kaum verhohlener Missbilligung, und für seine Mitschüler bot er die ideale Zielscheibe für Spott und Verachtung. Wilburs Klassenlehrerin, Miss Ferguson, eine Witwe in den späten Fünfzigern, behandelte ihn zwar wie ihre übrigen Schüler, aber das änderte nichts daran, dass er todunglücklich war. Er vermisste Orla, er wollte ihre Stimme hören und sie in jeder Sekunde, in der er wach war, bei sich haben. Zwar brachte er den Lehrbüchern und der Landkarte ein gewisses Interesse entgegen, aber im Klassenraum fühlte er sich eingesperrt, er hasste den Ton der Pausenglocke und fürchtete sich vor seinen Mitschülern.
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