Sie habe sehen wollen, was aus dem kleinen Jungen, den sie vor vielen Jahren fast schon als ihren Sohn betrachtet hatte, geworden sei, hatte sie Wilbur damals in Sligo gesagt, und Wilbur hatte sich damit zufriedengegeben. Die Alternative zu Alice und Amerika hätte Kinderheim bedeutet, vielleicht Miss Ferguson, bis er achtzehn gewesen wäre. Eine Wahl hatte man ihm sowieso nicht gelassen, wollte ihn loswerden, bevor er wieder irgendwo Feuer legte.
Manchmal hatte Wilbur sich gefragt, was wohl die Leute in der Nachbarschaft von Alice und ihrem neuen Untermieter dachten, sich dann aber im Spiegel gesehen und die Antwort gewusst. Er war einen Meter neunundfünfzig groß und sein kindliches Gesicht ohne Anzeichen eines baldigen Bartwuchses, und wenn er neben Alice stand, hielt man ihn vermutlich für ihren Sohn oder Neffen. Neben ihr wirkte er wie ein Zwerg und nicht wie ein Achtzehnjähriger, in dessen Körper Hormontumulte tobten und der eine Erektion bekam, wenn er unter der Bluse einer Passantin Brustwarzen zu sehen glaubte. Nie versucht zu sein, Alice mit den Augen zu betrachten, mit denen er andere Frauen betrachtete, empfand Wilbur als Entlastung. Zu seinem Glück war Alice riesig und dünn, hatte kaum einen Busen und trug das Haar so kurz, dass Wilbur sich, wenn sie auf dem Sofa neben ihm saß oder im Nachthemd zur Toilette ging, einreden konnte, sie sei ein Mann.
Im Juli kamen Harold und Louise mit dem kleinen George zu Besuch aus London. Harold und Louise begrüßten Wilbur mit überschwenglicher Freude und schenkten ihm, von seiner Wasserphobie nichts ahnend, ein Surfbrett, das sie auf dem Weg vom Flughafen gekauft hatten. Harold mochte Wilbur auf Anhieb, und schon am ersten Abend, den sie in einem indischen Restaurant um die Ecke verbrachten, schlug er vor, Wilbur zum Patenonkel von George zu machen. Louise fand die Idee großartig und meinte, darauf müssten alle mit Champagner anstoßen. Den strengen Blick, den Harold seiner Frau zuwarf, und das darauffolgende betretene Schweigen erklärte sich Wilbur damit, dass Harold ihn trotz Volljährigkeit für zu jung hielt, um Alkohol zu trinken. Er dachte daran, auf scherzhafte Art zu erzählen, wie er vor ein paar Tagen während eines abendlichen Streifzugs durch das Quartier eine halbe Flasche Bier getrunken und sich danach elend gefühlt hatte, ließ es dann aber bleiben.
Harold beendete die unangenehme Stille mit dem Vorschlag, am nächsten Tag nach Long Island zu fahren. Er wolle beim Haus haltmachen, die Mieter, eine Familie aus Detroit, begrüßen und sich davon überzeugen, dass sie mit allem zurechtkam. Er meinte, das sei eine gute Gelegenheit, um an den Strand zu gehen, zu schwimmen und Wilbur bei seinen ersten Versuchen auf dem Surfbrett zuzuschauen. Alice und Louise waren von der Idee begeistert, und auch Wilbur tat, als könne er sich nichts Aufregenderes vorstellen.
Tags darauf, Louise und Alice packten Getränke in eine Kühlbox, schnitt Wilbur sich so heftig in die Hand, dass Alice und Harold mit ihm zum Arzt fahren mussten, der die Wunde mit acht Stichen nähte. Obwohl Wilbur es angesichts der Schwere der Verletzung und der Menge an Blut, die er verloren hatte, für unmöglich hielt, dass ihm jemand Absicht unterstellen könnte, erkundigte er sich, kaum vom Operationstisch aufgestanden, nach einem wasserfesten Überzug für die Hand, die ihm das Baden im Meer erlauben würde. Als der Arzt eindringlich von jeglichem Kontakt mit Wasser abriet, zeigte Wilbur sich enttäuschter als Harold, der ihn damit tröstete, man würde das Surfbrett bei seinem nächsten Besuch ausprobieren.
Am Nachmittag gingen sie alle in den Central Park und veranstalteten ein Picknick unter einem Baum, der dreihundert Meter Luftlinie zum nächsten Gewässer entfernt stand.
Nach einer Woche flogen Harold, Louise und George zurück nach London. Alice beneidete sie um ihre Flucht vor der drückenden Hitze New Yorks ins kühle England. Sie arbeitete jetzt jeden Tag im Reformkostladen, auch samstags. Clive hatte ein Rückenleiden und musste ins Krankenhaus, ein künstliches Hüftgelenk schien unumgänglich. Trevor geriet in Panik, weniger wegen der fehlenden Arbeitskraft, als vielmehr weil er eine Ahnung davon bekam, wie alt er und sein Geschäftspartner waren.
Wenn Wilbur nicht beim Einräumen der Regale half, das Lager aufräumte, die Schaufensterscheibe reinigte oder einen Stapel von Clives handgeschriebenen und fotokopierten Handzetteln verteilte, saß er in einem klimatisierten Kino. Nachdem er an drei Nachmittagen hintereinander die Die-Hard -Trilogie gesehen hatte, ging er in die Bibliothek und las alles, was es an Lektüre über Bruce Willis und seine Filme gab. Zwei Wochen später setzte er sich mit einem Berg Notizen vor dem offenen Fenster an den Küchentisch und schrieb den ersten Satz einer Biografie mit dem Titel The Life And Death Of Bruce Willis .
Gegen Abend, wenn die Hitze erträglicher wurde, durchstreifte er zu Fuß die Straßen, oft zwanzig Blocks und mehr. Manchmal setzte er sich in einen Bus, stieg irgendwo aus und erkundete fremde Quartiere. Wenn ein alter Mann auf einem Klappstuhl vor einem Haus oder einer Mauer im Schatten eines Baumes saß, zeigte Wilbur ihm das Foto seines Vaters und fragte, ob er den Abgebildeten schon einmal gesehen habe. Die Männer nahmen Wilbur in Augenschein, verwarfen den Gedanken, er sei von der Polizei, und betrachteten das Bild mal flüchtig, mal eine kleine Ewigkeit. Einige fragten, wer das sei, andere wollten wissen, ob es sich um einen gesuchten Verbrecher handle, aber keiner kannte Lennard Sandberg.
In einem der beiden Briefe, die Lennard nach Schweden geschickt hatte, erwähnte er einen Freund in Brooklyn, nannte aber weder Namen noch Adresse. Bei jedem Streifzug hielt Wilbur nach der roten Tür mit der weißen 73 Ausschau, obwohl ihm klar war, dass sie irgendwo in New York sein konnte und vielleicht längst übermalt, ausgewechselt oder samt dem dazugehörenden Gebäude verschwunden war.
Als er von einer seiner vergeblichen Suchaktionen zurückkam, lag ein Brief von Conor im Briefkasten. Wilbur setzte sich im kühlen, dämmrigen Treppenhaus auf die untersten Stufen und riss den Umschlag auf. Conor schrieb, es gehe ihm gut, obwohl unter dem neuen Direktor ein rauherer Wind in Four Towers wehe. Er bedankte sich für das Geld, das man ihm jedoch nicht ausgehändigt habe, sondern für ihn verwahre, bis er entlassen werde. Er gebe sich Mühe, nicht aufzufallen, und hoffe, bald rauszukommen und Wilbur in New York besuchen zu können.
In der Wohnung ging Wilbur unter die Dusche, während Alice kochte. Nach dem Essen spülte er das Geschirr, und Alice sammelte die schmutzigen Kleider zusammen, um sie in die Waschküche zu bringen. Dabei fiel das zerknitterte, abgegriffene Foto von Lennard Sandberg aus der Tasche von Wilburs Hose. Alice hob es auf und betrachtete es lange.
«Ist das dein Vater?«fragte sie schließlich.
Wilbur zuckte zusammen und drehte sich um. Alice sah noch immer das Bild an. Wilbur hatte mit ihr nie über seine Suche gesprochen. Er wusste, dass sie ihm angeboten hätte zu helfen, aber er wollte nicht, dass sie ihre Zeit damit verschwendete, nach jemandem zu forschen, der vermutlich längst tot war. Er zog es vor, die unvermeidliche Enttäuschung mit niemandem teilen zu müssen.
«Ja«, sagte er.
Alice setzte sich an den Tisch.»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte sie leise.
Wilbur wartete, aber Alice sagte nichts mehr, sah nur das Foto an. Er setzte sich hin, wie benommen. Durch die offenen Fenster drangen Verkehrslärm, die Rufe von Nachbarn, das Musikgewirr zahlloser Fernsehapparate und Radios. Mit der Sonne war das grelle Licht verschwunden, aber die verzehrende, von keinem Windhauch bedrohte Hitze blieb. Alice setzte sich Wilbur gegenüber an den Tisch, dann erzählte sie ihm von ihren Zusammenbrüchen und den Aufenthalten in den Kliniken. Und sie erzählte ihm von dem Mann, der ab und zu bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker aufgetaucht war.
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