Nachdem sich alle drei umarmt hatten, hörten Harold und seine Frau auf zu weinen, aber Alice konnte nicht. Als sie nach fünf Minuten noch immer schluchzte, wusste Harold, dass etwas nicht stimmte, und weitere fünf Minuten später rief er einen Arzt, der bei Alice einen Nervenzusammenbruch feststellte und ihr eine Beruhigungsspritze gab.
Alice schlief, und in ihrem Traum fuhr sie auf einem Rad durch eine sonnenhelle Landschaft. In einem Korb am Lenker saß ein Kind, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte. Als sie aufwachte, saßen Harold und Louise an ihrem Bett und betrachteten sie voller Sorge. Das Baby schlief in ihrer Mitte in einem Reisekorb. Alice lächelte. Harold nahm ihre Hand und sagte, alles würde gut. Alice nickte, weil sie wusste, was zu tun war, damit wirklich alles gut würde.
Alice hörte auf zu summen, und Wilbur ging in den Garten und legte sich auf einen Liegestuhl. Er hörte die Wellen, die sich am Strand brachen, und von weit her einen Rasenmäher. Es war März, die Tage wurden länger und wärmer. Der bedeckte Himmel hing tief, Möwen flogen darin keine, dafür konnte man im leichten Wind das Meer riechen.
Vor vier Tagen war Wilbur achtzehn geworden. Alice hatte eine Torte und alkoholfreien Champagner besorgt und ein Geschenk, einen Discman und ein paar CDs mit Musik, von der sie glaubte, dass Wilbur sie mögen würde. Harold und Louise hatten aus London angerufen, und Wilbur musste mit ihnen sprechen und sich beglückwünschen lassen, obwohl er beide nur von Fotos kannte. Neben dem Geburtstag gab es noch die Tatsache zu feiern, dass Wilburs Antrag auf einen amerikanischen Pass bewilligt worden war. Alice hatte sich um alles gekümmert, und als es Probleme beim Finden der Geburtsurkunde gab, schaltete Harold einen befreundeten Anwalt ein, der die Dinge rasch regelte.
Wilbur war jetzt volljährig und konnte tun und lassen, was er wollte, wusste mit seiner plötzlichen Freiheit allerdings nicht viel anzufangen. Er hätte nach Irland gehen und sein Erbe antreten können, fand jedoch, das habe keine Eile. Er war noch nicht bereit, den Verkauf von Orlas Haus in die Wege zu leiten, ebenso wenig den von Colms Farm, die er auch geerbt hatte. Auf einem Konto bei der Bank Of Ireland lag ein kleines Vermögen, das hatte ihm der Anwalt gesagt, der zu Orlas Beerdigung gekommen war. Aber von diesem Geld wollte Wilbur nichts. Er hatte den Brief des Matrosen gelesen, dessen Abschrift Conor ihm gegeben hatte. In diesem Brief stand, woher das Gold, das Eamon McDermotts Reichtum begründet hatte, gekommen war, und für Wilbur stand fest, dass er davon keinen Cent haben wollte.
Er fühlte sich wohl in dem Haus, die ruhigen, zeitlosen Tage und der Umstand, dass niemand etwas von ihm verlangte, taten ihm gut. Alice war mit ihm nach Montauk gefahren, und sie hatten Sheltered Island besucht und waren in einem Restaurant gewesen, wo in riesigen Aquarien Meeresfische schwammen. Er war neu eingekleidet worden, hatte drei Paar Schuhe bekommen und eine Sonnenbrille. Harold und Louise hatten ihm einhundert Dollar zum Geburtstag geschenkt, von denen er Briefpapier, Umschläge und einen Füllfederhalter gekauft hatte. Den Rest wechselte er in irische Pfund und schickte sie, zusammen mit einem Brief, an Conor, der noch immer in Four Towers saß. An Matthew und Sune schrieb er ebenfalls. Matthew, inzwischen siebenundsiebzig Jahre alt, lebte wieder in Norwich, unterrichtete aber nicht mehr. Vor fünf Jahren war er für ein paar Tage zurück in die Heimat geflogen, weil seine Frau gestorben war und in Manchester, wo sie mit ihrem dritten Mann gelebt hatte, beerdigt wurde. An der Trauerfeier lernte Matthew Cynthias Schwägerin Norma Kennedy kennen und verliebte sich in die neun Jahre jüngere Frau, die als Fotografin arbeitete.
Im ersten seiner beiden Briefe an Wilbur lag ein Schwarzweißbild, das mit Selbstauslöser aufgenommen worden war. Es zeigte Matthew und Norma auf einem umgedrehten Ruderboot sitzend vor einem See, beide sahen ernst und glücklich in die Kamera. Zu ihren Füßen lagen die Ruder und, zusammengerollt auf einer Jacke, eine Katze, die Wilbur bekannt vorkam, im Hintergrund standen Wolken über einer Bergkette. Der Brief trug den Stempel vom 11. Oktober 1996. Matthew erzählte darin von seinen Plänen, das Haus in Portsalon über einen lokalen Makler zu verkaufen und sich seine Habseligkeiten nach England schicken zu lassen. Er fragte, wie es Wilbur gehe, und bat ihn zu antworten. Pauline hatte Wilbur den Brief nie gegeben, auch den zweiten nicht, der fünf Wochen später gekommen war.
Wilbur schickte Matthew siebzehn eng beschriebene Seiten. Sune bekam neun. Eine Telefonnummer konnte er nicht angeben, weil das Haus noch immer vermietet wurde und die Leitung stillgelegt worden war. Beiden Briefen hatte er ein Foto beigelegt, das Alice aufgenommen hatte. Wilbur stand vor dem offenen Maul eines Pottwals, der lebensgroß und aus Kunststoff den Parkplatz eines Seafoodrestaurants zierte.
Ende Mai verließen Alice und Wilbur Long Island und fuhren nach Brooklyn. Das Haus würde bis in den September hinein für sehr viel Geld vermietet sein, außerdem wollte Alice Wilbur New York zeigen. Die Umstellung von sieben auf zwei Zimmer fiel beiden nicht ganz leicht, aber nach ein paar Tagen legten sie ihre Befangenheit ab und gewöhnten sich an das Zusammenleben in der kleinen Wohnung. Wilbur schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer und bekam die Hälfte des Einbauschranks für seine Sachen. Alice arbeitete zwei Wochen lang nur noch am Morgen im Reformkostladen, um nachmittags mit Wilbur Ausflüge nach Manhattan unternehmen zu können. Sie besuchten Ellis Island und Liberty Island, standen in der Krone der Freiheitsstatue und auf dem Empire State Building, streiften durch Chinatown und Little Italy und ließen sich durch den Central Park kutschieren.
Wilbur verschlug es im Schatten der Wolkenkratzer die Sprache, er stand staunend in der Halle der Grand Central Station, und während eines Heimspiels der New York Giants saß er neben Alice und schrie im Chor mit den übrigen Fans, obwohl ihm die Regeln des American Footballs ein Rätsel waren. Auf Coney Island fuhren sie Riesenrad, und Wilbur sah den Steg, von dem seine Mutter damals die Münzen ins Meer geworfen und sich ein Kind gewünscht hatte, ihn.
Trevor und Clive empfingen Wilbur mit offenen Armen, fütterten ihn mit zuckerfreien Keksen und organischem Obst und zahlten ihm zwei Dollar fünfzig die Stunde, wenn er vor dem Laden Handzettel verteilte. An den Wochenenden ging er mit Alice in die Lower East Side und half den beiden alten Männern beim Wechseln des Wassers in den Karpfenbecken und sah mit ihnen Super-8-Filme an, die Trevor in den sechziger und siebziger Jahren gedreht hatte. Trevor Cohen war früher Journalist gewesen und für diverse Zeitungen und Zeitschriften um die Welt gereist. Clive Lombard hatte als junger Mann in Korea gekämpft und danach an verschiedenen Colleges in Maine und New Hampshire Geschichte unterrichtet. Mit sechzig Jahren begegneten sie sich in einer Klinik in Queens, wo beide wegen Magengeschwüren behandelt wurden, und beschlossen, gemeinsam einen Laden für Gesundheitskost zu eröffnen.
Wenn sie nicht ins Kino oder ein Konzert im Central Park gingen, saßen Alice und Wilbur zu Hause im Wohnzimmer und lasen, spielten Scrabble oder sahen fern. Manchmal stießen beim Versuch, gleichzeitig nach der Fernbedienung oder dem Stoffbeutel mit den Buchstabensteinen zu greifen, ihre Fingerspitzen gegeneinander, und sie zuckten verlegen zurück. Solche Momente entstanden auch, wenn Alice nachts in Slip und T-Shirt das Badezimmer betrat, wo Wilbur sich gerade die Zähne putzte, oder wenn Alice ihre Unterwäsche von der Leine über der Badewanne nehmen musste, weil Wilbur verschwitzt von einem Spaziergang zurückkam und duschen wollte.
Alice hatte Wilbur nie die ganze Wahrheit darüber erzählt, warum sie ihn zu sich geholt hatte. Über Chestnut Hill, die in Erwägung gezogene Adoption und die Trennung von Lawrence hatte sie gesprochen, ihre monatelange Depression verschwieg Alice aber ebenso wie ihre Alkoholsucht, die Aufenthalte in den Kliniken und die Treffen in der Foster Avenue.
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