Nach Holloway ging Jim zu Fuß, zwanzig Minuten lang, um an der verabredeten Straßenecke angesprochen zu werden, sie traten in einen Hauseingang, drei Männer warteten dort, höflich, in billigen, dünnen Anoraks, mit harten, gierigen Augen, und auf der Straße liefen zu stark geschminkte Frauen vorbei. Keine Engländer, dachte Jim. Schlagzeilen verkündeten, daß eine junge Frau erschlagen worden war, vermutlich mit einem Backstein, ohne daß irgend jemand etwas bemerkt hatte, obwohl es am hellichten Tag in einem Park geschehen war. Er ging in ein Pub, nicht weit von Archway, stand am Tresen, summte, das kleine, häßliche Summen, trank einen Schluck. Die Kellnerin musterte ihn aus den Augenwinkeln, aus dem hinteren Teil des Pubs hörte man das Klingeln eines Spielautomaten. Aber Jim hob den Kopf nicht, er summte, mit achtundzwanzig Jahren konnte er noch immer nicht pfeifen. Ein richtiger Junge pfeift, hatte sein Vater verächtlich gesagt. Die Kellnerin stützte sich auf den Tresen und lächelte ihn an. — Denkst du an deine kleine Freundin? Jim sah sie kurz an, antwortete nicht. Hinten klingelte wieder der Spielautomat. Der Mann, der ihm das Geld ausgehändigt hatte, war vermutlich schon vierzig Jahre alt, ein massiger Kerl mit schlechter Haut und unstetem Blick. Jim drehte das Glas hin und her. Mit dreizehn Jahren hatte er sich vorgenommen, von zu Hause wegzulaufen, das war jetzt dreizehn Jahre her. Er hatte an London geglaubt, das war es gewesen, was ihm die Kraft gegeben hatte, mit sechzehn schließlich wegzulaufen. Aber es war ein Schock gewesen, anzukommen und vor dem Bahnhof zu stehen, nach all dem, was er sich ausgemalt hatte, ein Leben, das frei und wild war. Mit Mae wäre er aufs Land gezogen. Er mußte Albert loswerden und Mae finden und genug Geld haben. Aus der Küche kam Essensgeruch, eine Treppe, die mit einer Kordel abgesperrt war, führte in den ersten Stock. Noch immer das enervierende Klingeln des Spielautomaten; Jim drehte sich um, lief in den hinteren Raum, stieß den Jungen, der vor dem Automaten stand und ihn erschreckt anstarrte, so heftig, daß er hinschlug. — Hörst du jetzt endlich auf, du kleine Ratte? Die Kellnerin rief, — Gigi, hau ab, näherte sich, lächelte Jim an. Ohne ein Wort rappelte sich der Junge hoch und verschwand. Jim spürte, wie die Frau ihn abwartend anschaute. Nicht sein Typ, sah er, als er sich umdrehte, eine braunhaarige, füllige Person mit einem stark geschminkten Gesicht, das immerhin vertrauenerweckend aussah. Und das war also Holloway, wie ein schlechter Geruch, dachte er, aber sie hatte geduscht, ihr Haar roch frisch gewaschen, viel dickeres Haar, als Mae es hatte, er faßte es an, was sie geschehen ließ, dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter, freundlich, auf eine so selbstverständliche Art, lächelte ihn an. Es war angenehm wie ein handfester Gegenstand, ein greifbares Wohlbefinden, ihre Hand tastete nach seiner, hielt seine Hand einen Moment fest und ließ sie los, um sich dichter an ihn zu schmiegen, ihn in einen kleinen Seitenraum zu drängen, sachte, zwischen Putzeimer und einen Staubsauger, eine kleine Kammer mit dicker staubiger Luft, kein Platz, sich hinzulegen, aber sie war geschickt und zärtlich, so daß er alles vergaß und dann verwundert ihre Lippen spürte, einen sanften, freundlichen Kuß. —Träumer, sagte sie. Die Straße war hell, und nach zweihundert Metern nahm er den Lärm wieder wahr, das Mißtrauen in den Augen, die ihn musterten, eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Seite wich ihm aus, die Luft roch sommerlich, es hatte geregnet, an den Ästen eines Bäumchens glitzerten Tropfen, und ein Kind rannte auf ihn zu, wich im letzten Moment aus, den Luftzug spürte Jim, beinahe die Wärme des kompakten Körpers. Er stolperte, da lag mitten im Weg eine Plastiktüte, die etwas verdeckte, er schob das Plastik mit dem Fuß zur Seite, sah ein Stückchen Fell, eine Ratte, und in all dem lärmenden, hupenden, trostlosen Verkehr blieb er hilflos stehen, während kühler Wind aufkam, Regen seinen Anorak durchnäßte.
Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal krank gewesen war, richtig krank, nicht weil er betrunken war oder wegen irgendwelcher Tabletten, sondern mit Fieber, fiebrig schwitzend wie ein Kind. Jede Berührung schmerzte, als wäre die Haut durchsichtig, durchlässig, könnte die Nerven nicht länger schützen, und gleichzeitig war sie wie ein Panzer, in den er eingesperrt war. Er raffte sich auf, kochte Tee, im Küchenschrank ein einziges Durcheinander, Sachen von Damian, die er ein Jahr nicht angerührt hatte, ein Glas verschimmelter Marmelade, Konserven, schmutziges Geschirr, er rauchte, hustete, das Fieber stieg, und schließlich lag er auf dem Sofa, konnte, als Dave rief und klingelte, nicht aufstehen, hörte hilflos, wie Dave seinen Namen rief, wie Dave die Stufen wieder hinaufstieg und ging. Schlief ein, wachte auf, zu schwach, aufzustehen und zu essen, etwas Reis zu kochen, der auch im Schrank gestanden hatte, aber er konnte nicht aufstehen, er konnte nicht, und was er sah, war in Fetzen gerissen, das Wohnzimmer, die Küche in der Field Street, auf dem Herd richtige Töpfe, und wie Mae ihn auslachte, von den Toten faselte und ihn auslachte, der schwitzte und Schmerzen hatte.
Über der Heizung bewegten sich schwarze Schatten, die junge Frau lief vor dem Fenster vorbei und suchte nach ihm, und wenn er sich konzentrierte, konnte er sie zwingen, sich umzudrehen und ihr Gesicht zu zeigen. Als er zu sich kam, war heller Mittag. Das Handy klingelte, brach ab, klingelte erneut, bis er endlich danach griff, ohne auf dem Display die Nummer zu kontrollieren. Es war Hishams Stimme. — Ich fragte mich, wo du geblieben bist. Die Stimme war ohne Spott. — Nichts mehr von dir gehört, seit Holloway, bist du zu Hause? — Geht dich einen Dreck an, sagte Jim, richtete sich auf. — Kein Problem, aber du klingst, als wärst du krank, bist du krank? fragte Hisham sanft. — Du verdammter Aufschneider, sagte Jim und legte auf.
Am Abend ging er hinaus, weil er Hunger hatte. Er lief hinunter bis zu Pang’s Garden . Der Alte hockte an einem grünen Tischchen und löffelte, mit dem Ellbogen fast den Bildschirm des laufenden Fernsehers berührend, seine Suppe, schlürfte, schluckte, während in der Küche zwei junge Frauen Töpfe schrubbten. Hinter dem Tresen standen drei Männer, hantierten, schwätzten, sie beachteten Jim nicht. Zwei Schwarze kamen herein, sahen zu ihm hin und tuschelten. Er lachte auf, bestellte noch eine Frühlingsrolle. Sie schmeckte bitter.
Als er schließlich hinaustrat, sah er auf der anderen Straßenseite die junge Frau davongehen, sie schaute zu ihm hin, aber es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu erkennen. Er summte etwas, fast den Anfang eines Lieds, sie schaute immer noch in seine Richtung, doch dann ging sie weiter, und Jim konnte nicht pfeifen.
Letztlich war alle Aufregung ausgeblieben. Von den Straßen verschwanden die Demonstranten, der Krieg aus den Schlagzeilen. Die chemischen Waffen waren aus der Wüste verschwunden und vermutlich von vornherein inexistent gewesen. Der Krieg führte sich, ferngerückt, noch fort. Gerüchte wollten Saddam Hussein gefangen, tot, dann wieder unauffindbar wissen. Weil eine Lieferung fehlerhaft, die zweite unvollständig war, fuhr das Lieferauto von Hayes & Finch, Candle Manufacturers and Church Furnishers dreimal durch die Lady Margaret Road. Isabelle glaubte, Bienenwachs zu riechen, als die Tür sich öffnete, ein Mann braune Kartons in das Haus schräg gegenüber trug, obenauf eine dicke, überlange weiße Kerze. Dort also wohnte der Pfarrer. Die BBC-Stimmen sprachen die Namen Basra und Nassaryia geläufig aus, von pocket resistance war die Rede, dann wechselte das Vokabular.
Das Telefon klingelte, Isabelle nahm nicht ab, der Anrufbeantworter spielte ihre Ansage, dann ließ sich die lebhafte Stimme Alistairs hören. — Dein Mann hockt bei Bentham im Zimmer und angeblich bis spät, aber vielleicht gehen wir trotzdem aus? Zum ersten Mal war Isabelle nicht sicher, ob sie Lust dazu hatte, Pläne zu machen, jeder Wunsch schien in Erfüllung zu gehen, und doch fehlte etwas. Alexa war gekommen für vier Tage, hatte in Isabelles Arbeitszimmer geschlafen, sie hatten gemeinsam die Museen besucht und Tee getrunken, am besten hatten Isabelle die Watteau-Bilder in der Wallace-Collection gefallen, die Feste und Musikanten, auf eine schwer faßbare Weise heiter, und wie die Figuren dasaßen in Erwartung, warteten, ohne zu wissen, worauf. Am letzten Morgen begleitete sie Alexa nach Golder’s Green zum Flughafenbus, fuhr nach Hause, zog das Bett ab und stellte die Waschmaschine an. Die Tage paßten wie Handschuhe. Jakob fragte nicht mehr, ob sie sich langweile, ob sie einsam sei. Sie zeigte ihm ihre Entwürfe für das Kinderbuch, allerdings war die Geschichte nicht geglückt oder jedenfalls nicht die richtige Geschichte, erklärte sie, für das Mädchen und die Szenen, die sie zeichnete; sie mochte es, wenn er hinter ihrem Stuhl stand, aufmerksam, und ihre Zeichnungen lobte. Er bat sie, sich auszuziehen, die Vorhänge waren nicht zugezogen, er stellte sich vor sie, in seinem Anzug, und dann führte er sie an der Hand ins Schlafzimmer hinauf, sie schlief gerne mit ihm, ohne darüber aufgeregt zu sein. Wenn sie zu Hause aßen, was nicht oft geschah, erzählte er aus dem Büro, was sie schon von Alistair wußte, ein ebenso guter Beobachter war Jakob aber nicht. Einmal stritten sie, weil Jakob den großen Teller von Tante Fini zerbrach, einen weißen Teller mit einem Rand aus Rosen, ein großer, flacher Teller, der sich vielleicht wieder kleben ließ, kaputt war er trotzdem, und Isabelle fand, daß es ein Malheur war. Jakob wunderte sich über das Wort, er dachte, es sei nicht ernst gemeint, ein Malheur, doch war Isabelle wirklich aufgebracht über seine Achtlosigkeit. Eines Morgens, als sie im Cafe´ gesessen hatte, war sie von dem Mann angesprochen worden, den sie schon ein paarmal in der Lady Margaret Road gesehen hatte, Jim, ein gutaussehender Mann, jünger als sie, mit einem schmalen Gesicht und einem hübschen, etwas harten Mund. Er hatte sich, ohne zu fragen, zu ihr gesetzt und gefragt, wie sie heiße. — Ich wollte nur wissen, wie du heißt, falls wir uns noch einmal treffen, hatte er gesagt und war gleich wieder gegangen.
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