Dave stand trotz seines Verbotes eines Tages vor der Tür, in einem zu großen, verdreckten Anorak, mit einem Bluterguß, der unterm Auge verlief. Er war auf die Verachtung gefaßt gewesen, mit der Jim ihm öffnete, stand schuldbewußt da, aber dann winkte Jim ihn herein und holte aus dem Kühlschrank zwei Bier, knallte eins ärgerlich auf den Tisch vorm Sofa, bedeutete Dave, daß er sich hinsetzen solle. Da hockte Dave. Er erinnerte Jim an Hisham, hatte irgend etwas Sanftmütiges, so wie die, die gegen den Krieg demonstrierten, gegen das Böse, Hunderttausende, friedfertig und entschlossen, und Dave sah ihn an, als glaube er an das Gute. Hockte da, erzählte von einem Hinterhalt, in den sie ihn gelockt hatten, ein paar aus seiner Schule, die sich freiwillig melden wollten, und er hatte etwas darüber gesagt, daß es nicht die Schuld der Irakis wäre, nicht die Schuld der Leute, erzählte etwas von einer Schlägerei, deswegen, weil er gegen den Krieg war, und Jim grinste, ließ ihn reden, brachte ihm ein zweites Bier, wartete noch ein bißchen und gab ihm, als er schläfrig wurde, eine Decke. Dankbar sah Dave ihn an. Aber Jim zog ihm mit einem Ruck die Decke wieder weg, hielt sie in die Luft, als spielte er mit einem Hund, und Daves Gesicht verzog sich ängstlich, gleich würde er losheulen, er bewegte sich unruhig hin und her und zitterte, weil sein Versteck nicht taugte, seine Lüge nicht taugte. Kein Versteck taugt für lange, dachte Jim, es brach an den Rändern auf wie ein Pappkarton, er sah den Jungen dasitzen wie in einem Käfig, es ekelte ihn ein bißchen. — Mann, dein Vater hat dich verdroschen! Stimmt’s? Er trat auf Dave zu, hatte Lust, ihn zu treten, trat ihn gegen die Hüfte, die knochig war. — Dein Vater, stimmt’s etwa nicht? Dave wand sich, er war rot geworden, und Jim lachte, schwenkte die Wolldecke hinauf, hinunter, traf die Glühbirne, Glas zerbarst, die Splitter fielen auf das Sofa, den Tisch, er riß Dave am Arm hoch. — Von wegen Hinterhalt, dein Vater war es; er betrachtete ihn, wie er dastand, überführt, beschämt, noch immer rot. — Und du kleiner Bastard lügst mich an! Zu feige, nach Hause zu gehen, oder wie? Die Bierflasche kippte um. Jim wartete, aber Dave bewegte sich nicht, wehrte sich nicht. Er packte ihn am Schopf, riß ihn zu Boden. Nichts, nicht einmal ein Wimmern. Jim ließ ihn liegen, ging zur Gartentür, öffnete sie. Auf der Backsteinmauer saß eine Amsel, sang. Die hellgelben Spitzen dünner Zweige hingen über die Mauer, es wurde allmählich Abend, es ging allmählich der Tag zu Ende, von der Straße oder aus anderen Gärten hörte man Stimmen, von irgendwo einen aufheulenden Motor, Musik, einen Staubsauger. Jims Gesicht spiegelte sich in der Glastür, es sah hell aus, hell, schön. Er starrte es an. Schön, hell, hatte Mae gesagt. So wie früher, als er ein so hübscher Junge gewesen war wie Dave jetzt, als die Lehrer ihm gesagt hatten, daß es schade um ihn sei, daß er in die Schule gehen müsse, daß er durchhalten solle, hatte ihm ein Lehrer gesagt, als er mit den blauen Flecken, den Striemen, die sein Vater ihm beigebracht hatte, im Sportunterricht erschien. Dave hätte nicht kommen dürfen. Seine eigene Schuld, und er wußte es. Hatte sich auf irgendwas verlassen, auf Jim verlassen, auf seine Gutmütigkeit, oder wie? Jim drehte sich um. — Steh auf, sagte er. Ging in die Küche, holte sich ein Bier, kramte in einer Schublade, holte sich ein Briefchen, weiß und fein, fein und rein, scheiß drauf, dachte er, erwartete jeden Moment Mae zu sehen, hallo Mae, da bist du ja, wie sie auf dem Sofa lag, unter einer Decke, ihn ansah, und die Jungs wollten in den Irak, so wie er früher zur Fremdenlegion, weil sein Vater ihn verprügelt hatte, den Gürtel rasch aus den Schlaufen gezogen, und später wieder, als er sich für Albert den Arsch aufreißen ließ. Aber Dave hatte gelogen. Hatte Prügel bezogen, weil immer irgend jemand Prügel bezog, warum nicht Dave? Er atmete vorsichtig aus, machte sich eine line , atmete tief ein. Dave war aufgestanden, stand einfach da, mit hängenden Armen, trotzig, stolz. — Sie wollen aber in die Armee, sagte er, die Älteren. Und es war wegen meiner Schwester. Dad läßt sie nicht in die Schule. Er sagt, daß die Behörden uns nicht finden werden, weil wir in die Wohnung meiner Tante gezogen sind, und daß sie zurückgeblieben ist, weil sie nicht wächst, daß sie ein Schandfleck ist. — Dann verpfeif ihn doch, sagte Jim gleichgültig. Sag’s doch deinen Lehrern in der Schule, die kommen sofort, darauf kannst du wetten. — Aber er schlägt sie, sagte Dave. Jim richtete sich auf, klarer jetzt, schüttelte sich, als könnte er abschütteln, was ihm durch den Kopf ging, der Junge und Mae, die junge Frau mit ihren nackten Beinen, den Turnschuhen, flink, erwartungsvoll, wie sie die Treppenstufen hinunterlief, ihr Mantel flatterte, und er wußte genau, wie sie aussah, ihre Hüften und ihre Brüste, obwohl er ihr Gesicht noch nicht gesehen hatte, und manchmal glaubte er, daß Mae tot war. Daß sie sich über ihn lustig machte. Die Stimmen, die Toten. Es war nur eine Täuschung gewesen, wie ein Tier, dessen Farbe sich der Umgebung anpaßt. — Wisch das Bier auf, sagte er zu Dave. — Ich könnte etwas zu essen holen? Dave sah ihn hoffnungsvoll an. — Ich könnte aufräumen, etwas zu essen holen? — Von meinem Geld? spottete Jim. Dave wurde wieder rot. — Nein, sagte er, das habe ich nicht gemeint.
Zwei Stunden später lag Dave auf dem Sofa und schlief, die Wolldecke mit beiden Händen festhaltend, das Gesicht ruhig und gerötet. Wachte nicht auf, als Jim den Fernseher anstellte, wieder abschaltete, hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Gegen Morgen kam er zurück, Dave hatte tatsächlich aufgeräumt, nachts, in seiner Abwesenheit, und um sieben Uhr ging er.
Der Mann aus Nummer 49 — Dave hatte gesagt, es seien Deutsche — ging vorbei, rotblond, gepflegt und kräftig, einer von denen, die nach dem Einkaufen die Brieftasche so nachlässig einsteckten, daß es nicht einmal Spaß machte, sie zu stehlen, kräftig, gepflegt, und trotzdem sah man, daß er Sorgen hatte. Vielleicht wegen des Kriegs, der nachts angefangen hatte, mit Bomben auf Bagdad, keine Bodentruppen, einen Tag später dann, es war Frühlingsanfang, doch Bodentruppen, und Jim ließ den Fernseher laufen, obwohl er sich darüber ärgerte, weil es ihn nichts anging. Mae hatte es gehaßt, wenn er morgens schon den Fernseher einschaltete, eine dieser Sachen, bei denen sie irgendwelche Prinzipien hatte, zusammen essen, zusammen am Tisch sitzen und essen und keine Schimpfwörter benutzen, als hätten sie Kinder, Kinder mit einer vielversprechenden Zukunft, und sie mochte es nicht, wenn er darüber lachte und sich beim Essen eine Zigarette ansteckte und rauchte. Er lag vor dem Fernseher, rauchte. Ein Heizkörper tropfte, und dann fing der Fernseher an zu flimmern. Triumphierend die Lichter der Treffer, wenn es Treffer waren. Von der Eingangstür blätterte die Farbe. Man sah nicht die Bilder einer zerstörten Stadt, keine weißen Fahnen. Angeblich war Saddam tot, dann lebte er doch. Angeblich kaum Tote, vier oder fünf Tote? Mae hatte gesagt, daß es kaum noch Spatzen gab, kaum noch Spatzen, wo immer sie abgeblieben sein mochten. Im Garten hüpften kleine, gelbliche Vögel, abends sang auf der Mauer eine Amsel. Das Gras wuchs, an der Mauer gab es Osterglocken, er malte sich aus, wie Mae sich bückte, das Gras kurz schnitt, Blumen pflanzte. Die Vögel hatten keine Angst. Mae drehte sich um und lachte ihm zu. Was mit den Sachen aus ihrer Wohnung passiert war, wußte er nicht. Der Fernseher? Klappstühle, die sie gekauft hatten? Sogar ein Sonnenschirm, weil sie nach Brighton fahren wollten?
Der Notfall wurde in einer Station der Circle Line geprobt, die sowieso geschlossen war, und da bot es sich an, war es die Chancery Lane? Aber die Lichter waren ausgefallen, was eine Panik ausgelöst hatte, die medizinische Ausrüstung war zertrampelt worden und ein Arzt verletzt, das Licht war nicht wieder angegangen. Hisham rief Jim an, gab ihm eine Adresse in Holloway, sie würden ihm, sagte er, den ganzen Stoff abnehmen, Serben, Albaner, Zigarettenschmuggler, die hofften, ins Drogengeschäft zu kommen, bevor sie von einer rivalisierenden Bande erschossen wurden. Dave lief, gehorsam den Kopf abgewandt, vorbei.
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