Die Nachbarn hatten Bemerkungen gemacht, wegen der Pakete, wenn Theresa sie im Hausflur traf. Die Putzfrau hatte sich beschwert, über das Staubwischen, »das Glas schaffe ich gar nicht«, hatte sie gesagt.
In den ersten Jahren in Deutschland hatte Theresa das grau lackierte Gatter vor Augen gehabt, wenn Claas wir sollten einander nicht im Weg stehen sagte, die Stäbe bildeten in der Mitte drei Rauten, oder Ebba: Ich hasse dich.
*
Die ist nie wieder bewohnbar, dachte Claas. Wenn dich jetzt jemand sehen könnte, dachte er, Styroporkugeln in den Haaren, Putz und alter Kleister unter den Fingernägeln, auf den Händen, graubraun in jeder Falte. Ein frischer Fleck feuchtkalt auf der Wange, Tapetenstreifen, hellgrau und mintfarben auf seinem Pullover. Sie ließen sich abziehen wie Aufkleber. Wenn dich jetzt jemand sehen könnte, klingeln würde, ein Nachbar, der nachsehen kam, wegen der ungewohnten Geräusche. Ebba. Theresa vielleicht. Er räusperte sich, Sand zwischen den Zähnen, strich die Haare nach hinten, hinterließ einen weiteren Putzstreifen auf seiner Stirn. Er renovierte, das war etwas Konstruktives, positive Verarbeitung, er räusperte sich erneut, aber niemand kam.
Auf dem Rückweg vom Spätkauf hatte er den Stuhl aus dem Hinterhof mitgenommen, hatte ihn in die Küche gestellt, im Sitzen vier Minisalamis gegessen, eine schale Fettschicht auf der Zunge, hatte ein Bier aufgemacht. Wasser und Spülmittel, erinnerte er sich, Tapeten werden mit Wasser und Spülmittel entfernt. Er hatte die Schiebetür unter der Spüle geöffnet, dort stand eine Plastikflasche mit einer zähen grünen Masse, zwei Fruchtfliegen klebten an der Öffnung. Er hatte das Wasser aufgedreht, nichts. Hatte den Haupthahn gesucht, ihn schließlich in der Dusche gefunden, war mit Schuhen in die Wanne gestiegen, um ihn aufzudrehen, braune Schimmelflecken in den Ecken.
Die Tapete hatte er bis auf einen Meter unterhalb der Decke abgezogen, die Decke war immer noch mintfarben, er brauchte eine Leiter. Claas betrachtete den löchrigen Putz vermischt mit Farbpigmenten, unten Sienabraun, oben Ocker, in der Mitte blasse Reste eines grün aufgedruckten Blumendekors. Schutzlos und nackt sahen die Wände aus, ohne Dämmschicht, ohne glatte Oberfläche.
Claas hatte die Streifen hinter sich geworfen, ein Haufen in der Zimmermitte, ineinander verschlungen, hatte an den Wänden entlang einen Gang freigelassen, seine Finger waren aufgeweicht und schwielig, als habe er zu lange in der Badewanne gelegen.
Es begann zu dämmern, der Himmel Enteneierblau, er besaß einen Satz Schälchen in der Farbe, japanisch, für eingelegten Ingwer, eine Zeit lang hatte er mit Theresa am Wochenende Sushi zubereitet. Gleichmäßig enteneierblau ohne Wolken, Sterne, Mond, das Licht im Zimmer orange. Seine Handflächen schmerzten, die Haut auf den Ballen, bei jedem Griff, sie war sehr glatt, wie geschmirgelt. Er schob den Tapetenhaufen mit den Füßen in die Ecke gegenüber von Fenstern und Tür, die kleineren Fetzen rechte er mit den Fingern zusammen und warf sie obenauf. Das feuchte Papier türmte sich hüfthoch, er stieg auf den Haufen, drückte ihn mit den Füßen zusammen, sackte langsam tiefer, das aneinanderreibende Styropor quietschte. Er stampfte auf der Stelle, Filmbilder von Weinernten im Kopf.
Es sah wie ein Nest aus, wie ein Lager, das sich ein Tier bauen würde. Einen Moment sah er sich, die Knie an die Brust gezogen, in Embryonalhaltung auf dem Lager liegen. Die Dielenritzen waren gefüllt mit Styroporkügelchen, Claas holte die Isomatte aus dem Flur, den Beutel mit den Sachen aus der Praxis. Er löste das Gummiband, hängte es über den Fenstergriff, rollte die Matte aus, Ebba Jansen, Klasse 7c stand mit schwarzem Edding in Theresas Schrift auf der Rückseite.
Das Handy hatte sie ausgeschaltet, unter der Festnetznummer kam nur das Besetztzeichen, egal, wie oft Claas es versuchte, er sah den Stecker unter der Buchse auf dem Schifferparkett liegen. Sie hatte die letzte Flasche Rotwein geöffnet, saß auf Nappaleder, die Kaschmirdecke um die Füße gewickelt, und verschwendete keinen Gedanken an Nachtfröste. Es war Oktober, er könnte erfrieren.
Ebba war auf dem Weg in den Speisesaal, hielt den Zimmerschlüssel in der Hand. Sie suchte den Fahrstuhl, der Flur erinnerte sie an den der Berufsschule, grün-grau gesprenkeltes Linoleum, Türen zu beiden Seiten. Am Ende des Flures wurde es hell, blau-weiß gestreifter Teppichboden, sie war auf dem Schiff, wieder auf Kreuzfahrt durch die Ägäis, Holzanker hingen an der Wand rechts und links der Rezeption. Ebba legte ihren Schlüssel auf den Tresen, der Mann dahinter trug eine Kapitänsuniform und nickte ihr zu.
»Meine Eltern warten im Speisesaal auf mich«, sagte sie.
Der Mann nahm den Schlüssel vom Tresen, hängte ihn nicht an das Brett, auf einen Haken unter der Zimmernummer, nein, er steckte ihn in die Hosentasche.
»Wie komme ich dahin«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Deine Eltern sind abgereist, hast du Geld?«
Sie tastete ihre Rocktaschen ab, nur Stoff unter den Fingern, nichts Hartes.
»Nein. Im Zimmer vielleicht.«
»Dann musst du jetzt gehen.« Er drehte sich um, betrachtete das Schlüsselbrett, der Boden vibrierte, fiel ihr mit einem Mal auf.
»Aber wir fahren doch schon«, sie hörte das sonore Summen der Maschinen, »ich will meinen Schlüssel wiederhaben, ich will in mein Zimmer.«
Sie sah den langen Flur vor sich, an den Türen hatten keine Nummern gestanden.
»Du hast kein Zimmer«, sagte er.
Ihr Unterhemd, T-Shirt, die Jogginghose zwischen den Oberschenkeln waren nassgeschwitzt, als Ebba aufwachte. Der Schweiß bereits kalt, sie fror, beugte sich vor, drehte die Heizung weiter auf. Wendete die Bettdecke, so dass die Feuchtigkeit oben war. Die Heizungsrohre knackten, sie zog ein Blättchen aus der Packung, es dauerte eine Weile, bis sie den Tabak fand. Er war in den Spalt zwischen Matratze und Wand gerutscht, die weiße Dose stellte sie über Nacht auf die Fensterbank. Sie hatte sie einmal im Schlaf umgerissen, das Gras auf den Dielen verteilt, Staubflusen hingen an den Blüten, Krümel, einzelne Blattfitzel am Bettbezug, sie hatte sie mit spitzen Fingern abgesammelt.
Ebba zündete die Tüte in der Küche an, rauchte, wunderbar benommen, während der Kaffee durchlief. Als er fertig war, holte sie die Packung Donuts aus dem Kühlschrank und nahm sie mit zur Fensterbank. Sie setzte sich auf das Brett, die Füße stellte sie auf die warmen Heizungsrippen, löste einen Teigring von den anderen und biss hinein. »Wie lange kann es dauern, einen Multiple-Choice-Test zu korrigieren«, hatte Theresa beim letzten Telefonat eingewandt, »man legt die Folie auf und zählt durch.« Der Kuchenteig füllte sanft ihre Mundhöhle aus, schmiegte sich an Schleimhäute, drängte zum Gaumen, süß auf der Zunge und auch in der Luft, durch die Nase eingeatmet.
Die Rollläden des Cafés waren hochgezogen, sie stellten die Tische nicht mehr raus, nur einen zylinderförmigen Aschenbecher. Das dunkelhaarige Mädchen saß nicht auf der Stufe vor dem Eingang und rauchte. Er ging nicht zwischen den Autos durch, kein Blond unter den blattlosen Ästen der Platanen, den Samenkapseln, die an ihnen schaukelten.
Sie nahm den nächsten Donut, noch fühlte sie die Leere im Magen, den Hohlraum, der ausgefüllt werden wollte. Ihre Magensäure ein stilles Gewässer. Bald würde sie die Speiseröhre hochsteigen, sauer branden, wenn sie schluckte. Später würde es sich anfühlen, als staue sich der Brei in der Speiseröhre, als türme er sich auf. »Das geht gar nicht«, hatte die Ernährungsberaterin gesagt, zu der Theresa sie geschickt hatte. Einen Pfropfen bilden, der den Brustkorb eng werden lässt.
Bibi war nach Osnabrück gezogen, in eine WG, an eine Hochschule für Touristik. Bibi hatte neben Juliane gesessen, hatte nicht protestiert, als Ebba ihren Tisch an den der beiden heranschob. Wenn Juliane fehlte, rutschte Bibi auf deren Platz und erlaubte Ebba aufzurücken. Ebba konnte dann ihren Atem auf der Wange fühlen, wenn sie ihr während der Stunden etwas zuwisperte, nicht bewegen, dachte sie, nichts kaputtmachen. Bibi sei sehr sozial, sagten die Lehrer.
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