»Da sind doch Teller.«
Sie sah sich um, Claas stand im Flur, deutete auf das Spülbecken.
»Geh raus«, brüllte sie, so laut sie konnte, das half, er machte einen Schritt rückwärts. Sie nahm eine der Tassen, ging zur Tür und reichte sie ihm. Claas sah in die Tasse, musterte Boden und Wand.
»Hör auf, die ist sauber.« Ebba deutete hinter sich, auf die Spüle, »die Teller sind dreckig.«
»Egal«, sagte er, »ich kann oben abwaschen.«
Sie nahm den obersten vom Stapel, eingetrocknete rote Ketchupreste und Salz, Pommes hatte sie gegessen. Erst als sie den Teller zur Tür trug, bemerkte sie den dunklen Flaum an der Unterseite. Sie drehte ihn um, helloranges Pulver, Reiskörner, die wie Maden aussahen, und dunkelgrauer Pelz. Der Teller gehörte zu dem Geschirr, das Theresa und Claas ihr zum Auszug geschenkt hatten, blau-weiß, gemeinsam bei Ikea gekauft. Sie hatte es nicht haben wollen, hatte nichts haben wollen. Überlegte, ob sie den Teller in eine Tüte legen sollte, oder abspülen, war an der Küchentür stehen geblieben.
»Lass, ich kauf mir morgen einen«, Claas sah zu Boden, verlegen, als schämte er sich für sie. »Besteck wäre gut.«
*
Claas hatte nichts gegessen, hatte geplant, mit Theresa zum Portugiesen zu gehen, oben auf der Fensterbank lag der Jutebeutel, vier Müsliriegel waren noch in der Packung, der Sekt durchgeschüttelt und warm mittlerweile. Vorne an der Karlsstraße war ein Spätkauf, das Fahrrad hatte er im Hinterhof angeschlossen. Hatte keine Lust, Geschirr und Isomatte hochzubringen, an der Schneide des Messers klebte etwas Helles, Eingetrocknetes, Claas stellte beides auf die Stufen zum Dritten, dicht an die Wand. Betrachtete die Tür neben Ebbas, er war sicher, sie klauten in diesem Haus, auch egal, dachte er. Er ging die Treppe hinab, auf dem Absatz zwischen erstem Stock und Erdgeschoss ging das Licht aus. Claas suchte den rotleuchtenden Punkt des Schalters, es dauerte, bis er ihn sah. Er tastete mit dem Fuß vor sich, nach der ersten Stufe, überlegte, ob er Ebba rufen sollte, mach das Licht an. Vielleicht stand sie noch im Flur, schützend vor den Kartons, es war über zwei Jahre her, dass sie eingezogen war. Er fand den Treppenanfang, eine Hand am Geländer, so würde es gehen.
Bei den Mülltonnen im Hinterhof stand ein Stuhl. Sitzfläche und Lehne waren mit weinrotem Kunststoff überzogen, das Polster war an einer Ecke eingerissen, Schaumstoff quoll hervor. Der Stuhl sah sauber aus, keine Flecken, Verkrustungen, er besah ihn von allen Seiten, suchte nach Ungeziefer, Kakerlaken, roch an ihm. Kein Urin, er hob ihn an, der Stuhl war leicht. Claas stellte ihn neben den Fahrradständer, schloss das Rad auf, er würde im Sitzen essen, nicht auf dem Boden kauern, suchte den kleinen Hebel, mit dem man den Dynamo gegen das Vorderrad presste, egal, dachte er.
Er fuhr auf dem Bürgersteig, die Straße war kopfsteingepflastert, musste achtgeben, erstaunlich viele Menschen waren unterwegs. Es war nach halb zwölf, sie waren jung, in Gruppen unterwegs, redeten laut miteinander, immer wieder musste er anhalten, warten, bis sie ihn durchließen. Sie saßen auf den Stufen vor den Hauseingängen, den Promenadenbänken, standen in einer Traube vor einer Bar und rauchten. Claas musste auf die Straße ausweichen. An die Bar konnte er sich nicht erinnern. Er hörte sie noch lachen, als er in die nächste Querstraße eingebogen war. Aus einem Afro-Shop kamen Musik und ein seltsam schaler Geruch, auch der Afro-Shop war voll, sogar vor dem Spätkauf stand ein Grüppchen und trank Bier.
Claas schloss das Rad an einen Laternenpfahl, hatte kurz überlegt, ob er es mit hineinnehmen sollte. Eine hagere Gestalt spiegelte sich in der Schaufensterscheibe, er sah rasch weg, als ihm klar wurde, dass er das war. Er kaufte vier Minisalamis, ein Sechserpack Bier, eine Tüte Chips.
*
Theresa drehte den Hahn zu. Das Wasser klar und grünlich in der eiförmigen Wanne, sie hatte vergessen, den Badezusatz hineinzugießen, feuchtwarm legte sich der Dampf auf ihr Gesicht, auf ihre Arme, winzige Tröpfchen in ihren Haaren. Sie rollte die Strumpfhose von den Beinen, der Spiegel war an der von der Tür entfernten Seite beschlagen, die Fliesen kalt unter ihren Füßen. Sie hatte den Badezimmerteppich gewaschen, bevor sie geflogen war, er hing noch auf dem Ständer in der Kammer neben der Küche, sie hatte keine Lust, ihn zu holen. Stattdessen hob sie einen Fuß über den Wannenrand, unterdrückte den Impuls, ihn gleich wieder zurückzuziehen. Die Hitze ließ sie die Luft anhalten, stumm begann sie, Sekunden zu zählen. Bei zehn tauchte sie den Fuß weiter ein, nach einer Weile zog sie den anderen nach.
Sie hatte nicht auf den Saum des Kleides geachtet, weiß mit schwarzem Zebramuster, er schwamm auf der Oberfläche, Chiffon, so leicht, dass er nicht unterging. Sie raffte den Stoff mit der Hand zusammen, heiße Tropfen liefen ihre Beine hinab, der ist hin, dachte sie, tastete mit der anderen Hand nach den Knöpfen am Rücken. Versuchte sie durch die Ösen zu schieben, vergeblich, »egal«, sie sagte es laut, ihre Stimme wurde von den Fliesen zurückgeworfen. Wütend hockte sie sich hin, wartete, bis die Haut sich an die Temperatur gewöhnt hatte, der Chiffon hatte sich vollgesogen, ging schwebend unter.
Der Stoff folgte verzögert ihren Bewegungen, strich die Beine entlang, in Zeitlupe, als habe er einen eigenen Willen, eine eigene Geschwindigkeit, langsamer als ihre. Die Wellen setzten sich im Gewebe fort, »schön«, sagte sie leise, nicht käuflich, holte tief Luft und ließ sich unter Wasser gleiten.
Sie lag in einer Kapsel, hörte das Blut in den Ohren, entfernte Laute schwappender Flüssigkeit, Fruchtwasser, dachte sie, Mutterleib. An den sanften Fisch in ihrem Inneren, der zu Ebba geworden war. Sie spreizte die Arme ab, stieß gegen die Wannenwände, kalt und hart und kunststoffglatt. In einer Bar hatte sie Claas kennengelernt, er hatte vor ihr in der Schlange am Tresen gestanden. »Wo kommst du her«, hatte er gefragt, seine Bierflasche genommen, gewartet, bis sie einen Weißwein bestellt hatte. »Tavira, Portugal.« – »Was gibt es dort«, hatte er gefragt. »Salz«, hatte sie geantwortet und von den weißen Ringen in den Blumentöpfen erzählt, von der Wäsche, die die Finger stumpf und klebrig machte, wenn der Wind auf den Küchenbalkon stand, wo sie an der Leine trocknete.
Theresa drückte sich mit den Füßen an der Wanne ab, schob sich bis zu den Schultern über die Oberfläche. Wasser rann an ihr herab, ein warmer Strom über Stirn, Augenlider, Nase, Kinn, lief aus ihren Haaren, presste sie glatt an ihren Schädel, in ihren Mund, als sie ihn öffnete, um hastig Luft einzusaugen.
Sie wischte über ihr Gesicht, die rollenden Tropfen zur Seite, die Augen frei, schwärzliche Partikel schwammen in den Senken und Linien ihrer Handflächen. Wimperntusche, Lidschatten, Theresa streckte den Arm nach dem Handtuch aus, wischte dunkle Streifen in das eierschalenfarbene Frottee.
Sie hatte vergessen, die Badezimmertür zu schließen, konnte die Kommode sehen, belgisch, siebzehntes Jahrhundert, »der Dampf schadet dem Furnier«, hörte sie Claas’ Stimme sagen.
Vergnügt hatte er das Befremden registriert, mit dem sich seine Eltern in der ersten Berliner Wohnung umgesehen hatten. Die hochgezogenen Schultern, als sie sich in die Freischwingersessel setzten, ihre Mäntel wollten sie anbehalten. Seine Mutter hatte die Esszimmerlampe mit dem Finger angetippt, die grünlichen Kristallelemente waren minutenlang klirrend aneinandergestoßen. Sie waren ohne Blumen, Brot, Salz gekommen, wie Claas später betonte, waren auf dem Weg zu Verwandten gewesen. »Schade, dass Ebba schläft«, hatte Claas zum Abschied gesagt und gelächelt, »vielleicht fahrt ihr irgendwann noch mal nach Dresden.« Exklusiv habe für seine Eltern bedeutet, in der Möbelabteilung von Karstadt das Teuerste zu wählen, sagte er oft. Die wüssten nicht einmal, was das ist, sagte er und hielt irgendetwas hoch.
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