Er hörte dem Klirren zu, mit dem ihr Löffel beim Umrühren gegen die Tassenwand stieß.
»Darf ich fragen, ob es eine junge Dame gibt?«
Sie sah ihn nicht an, lächelte, strich mit den Fingern über eine Falte ihrer Stoffserviette. Einen Moment lang wusste er nicht, was sie meinte.
»Eine Ihnen besondere junge Dame«, setzte sie hinzu.
Nicolai sah zum Fenster, es hatte zu regnen begonnen, dachte an Camille auf den Stufen.
»Nein«, sagte er, »es gibt keine besondere junge Dame.«
Sie nickte, zufrieden, wie ihm schien.
»Sieh mal«, sagte sie, »das haben die Wichtel gebracht.«
*
»Tschüs.«
Der Ägypter antwortete nicht, schloss nur die Tür hinter ihr. Ebba betrachtete das Tütchen in ihrer Hand, drückte es zusammen, wollte fühlen, wie voll es war, manchmal hatte sie das Gefühl, er verarschte sie, nahm ein paar Blüten raus, bevor er es ihr gab. Sie brauchte eine Waage. Musste noch einkaufen, ging die Stufen hinauf, wollte das Tütchen hochbringen, ihr Portemonnaie holen.
Erst hatte sie mitgeraucht, weil sie mehr trank als die Jungen: Stell dir vor, was Ebba gestern. Kiffen war die logische Erweiterung von Trinken gewesen. Anfangs hatte sie lachen müssen, so, dass die Muskulatur rings um die Lippen vom Hochziehen der Mundwinkel schmerzte, die Bauchdecke am nächsten Morgen sauer zog. Alle hatten gelacht, und gleichzeitig lachen war wichtig. Später war lediglich ihr Mund trocken geworden, ihre Zunge von einem bitteren Film überzogen. Schwer hatte sie sich gefühlt, als wären die Unterseiten ihrer Schenkel, ihre Waden, sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, von einer Metallschicht überzogen. Die Lider zugequollen, sie meinte, jeden Wimpernschlag auf den trockenen Augäpfeln zu spüren, blutunterlaufen im Badezimmerspiegel. Hatte sich beobachtet gefühlt, stumm geworden, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Ebba war außer Atem, zwischen erstem und zweitem Stock meinte sie jemanden zu hören, die Stufen knarrten, sie nahm das Tütchen in die linke Hand, schloss ihre Finger darum, so, dass es nicht zu sehen war.
Meist hatte sie bezahlt, zehn Euro für eine fingernagelgroße grüne Flocke. Gelangweilt hatte sie sich, als sie in der Hintertasche einer Jeans, Theresa wollte waschen, wartete im Flur, einen Rest gefunden hatte. Ebba hatte ihn in der hohlen Faust versteckt, als sie Theresa die Wäsche reichte, hatte am Fenster geraucht, den Oberkörper weit hinausgelehnt, der Rahmen schmerzhaft gegen ihren Bauch gedrückt. Hatte sich auf den Rücken gelegt, die Bettdecke glatt unter sich gefühlt, den Luftzug auf der Haut. Als wäre die Zeit weich geworden, ihr Zimmer ein helles Aquarium ohne Strömung, der Stillstand schmerzlos, die Waschmaschine hatte irgendwo leise gesummt, Theresa räumte in der Küche den Geschirrspüler aus, sie hatte Porzellan aneinanderstoßen hören, und das war gut, denn es war egal.
Ebba hielt den Bund in der Rechten, begann nach dem richtigen Schlüssel zu suchen. Sah erst zur Seite, als sie fast oben angekommen war, das dunkelhaarige Mädchen saß auf der Treppe zum nächsten Stock. Die Arme um die Beine gelegt, eine Wange auf den Knien. Sein Blick war auf die Holzstreben des Geländers gerichtet, es sah zwischen ihnen durch, sah Ebba an. Sie blickte hinab auf ihre Hand, vergewisserte sich, dass keine durchsichtige Plastikecke hervorragte.
»Was machst du hier«, fragte Ebba und blieb stehen.
»Ich warte«, sagte das Mädchen, hob die Wange von den Knien und rieb mit den Fingerspitzen über einen Kratzer auf ihrer Schuhspitze. Braune Stiefeletten.
»Auf wen?«
»Meinen Freund«, das Mädchen drehte den Kopf zur Wand, legte die andere Wange aufs Knie.
Ebba hatte ihn gar nicht kommen sehen.
»Du kannst drinnen bei mir warten«, sie deutete auf ihre Wohnungstür, bereute es sogleich. Dachte an die Fliegen, die sich von den Essensresten erhoben, durch ihre Küche kreisten, sobald man sie betrat.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Er kommt gleich raus«, sagte es zur Wand und rührte sich nicht mehr.
Die Platanenblätter waren sonnenbeschienen, unbewegt vor bläulich grauen Wolken, die sich über den Dächern der anderen Straßenseite ineinanderstauchten. Ebba setzte sich auf die Fensterbank, die Zimmertür ließ sie offen, wartete auf die Schritte im Flur der Nachbarwohnung. Die Dielen im Treppenhaus knarrten, wenn das Mädchen sich bewegte, wir warten gemeinsam, dachte sie, warten auf das Gleiche, ich hier drin und sie da draußen. Es hätte klingeln können, das Mädchen, vielleicht hatten sie vereinbart, dass er die alte Frau vorbereitete und sie dann hereinbat.
Sie hatte ihn auf der Treppe getroffen, vier Mal. Hatte ihn kommen sehen, roter Scheitelstrich zwischen hellem Blond, hatte gewartet, bis die alte Frau ihn hereinbat. Hatte sich fertiggemacht und war nach unten gegangen, zu den Briefkästen. Sobald sie ihn oder Frau Stremls Stimme wieder im Treppenhaus hörte, die Alte verabschiedete ihn immer in mehreren Anläufen, hatte sie sich auf den Weg nach oben gemacht. »Hallo«, sagte er dann und machte Platz.
Vom Einkaufen war sie gekommen, als er unten auf der Bank saß. Nicht allein, mit dem dunkelhaarigen Mädchen, neben ihr auf der Lehne, Füße auf die Sitzfläche, Ellbogen auf die Knie gestützt. Er hatte zu Boden gesehen und genickt.
Sobald Ebba oben angekommen war, war sie auf den Balkon gegangen, seine Turnschuhe hatte sie sehen können, ein Stück seiner Jeansbeine zwischen den Platanenblättern, nicht mehr. Der kurze Augenblick, wenn sie der Wind bewegte und eine Lücke entstand, die mehr freigab, reichte nicht, um festzustellen, ob sich die Position der Gliedmaßen und Gesichter zueinander veränderte. Sie hatte Lachen gehört, war nicht sicher, ob es das Mädchen war. Dunkel war es, als die beiden die Promenade überquerten, in Richtung Karlsstraße gingen.
Ebba sah zur Wand, dahinter war der helle, langgezogene Ton einer ungeölten Türzarge zu hören, Schritte auf den Dielen. Wenn sie direkt an der Mauer stand, konnte sie auch die Vibration im Holz spüren.
»Bei Appelts, im Tuchlager hinten im Hof, neben der Werkstatt. Bei ihnen in der Wohnung waren die Schlesier, einquartiert. Acht Mann, Großeltern, Schwiegertochter und fünf Kinder, die Marken machen nichts wett, hat Frau Appelt gesagt.« Langsam bewegten sich die Schritte hinter der Wand vorwärts, Ebba wusste genau, wo sie gerade standen, Frau Streml redete unentwegt, von ihm kein Laut, vielleicht nickte er. »Später habe ich möbliert gewohnt, auf Etage«, fuhr sie fort, »die Wirtin wohnte Parterre, und alle mussten bei ihr klingeln, zehn Reichsmark Strafe zahlen, wenn man ohne sich anzumelden ins Zimmer ging. Sie hat dann ihre Brille aufgesetzt und sich vorgebeugt, so«, Frau Streml machte eine kurze Pause, wahrscheinlich machte sie ihm vor, wie sich die Wirtin vorgebeugt hatte, »rechts und links an mir vorbei hat sie in den Hausflur gesehen. ›Keine Kerle in meinen Zimmern‹, hat sie gesagt. Am Anfang durfte Erika kommen. Ich hatte eine Heizplatte auf der Fensterbank, Malzkaffee haben wir gemacht. Hat sie dann auch verboten, wo sei denn da der Unterschied, hat sie gesagt.« Sie waren an der Tür angelangt. »Vielen Dank für den Tee«, hörte Ebba ihn sagen, »und die Wichtel.« Sie hörte die Wohnungstür, die Sicherheitskette klapperte, das Mädchen hatte sich nicht gerührt, musste noch auf der Treppe sitzen. »Blaugrau war es, als ich eingezogen bin, ist dann immer heller geworden, bis es so war wie die Tauben draußen, wie das Gefieder. Dann haben sie es hellgelb lackiert.« Frau Streml schien vom Treppengeländer zu sprechen, unvermittelt unterbrach sie sich. »Da sitzt jemand.« Die Stufen knarrten, das Mädchen musste aufgestanden sein, einen Moment war es still, nicht bewegen, dachte Ebba und wartete auf seine Reaktion, aber es blieb still. »Hellgelb war es dann«, hörte sie schließlich die alte Frau, »da gehörte das Haus noch den Sauers, und später wurde es dann dunkelbraun, dass es wie poliertes Holz aussah, war aber nur brauner Lack.« Er hatte ihr das Mädchen nicht vorgestellt, keine Schritte auf den Stufen, das Mädchen musste stumm auf der Treppe stehen, und die Alte sprach weiter.
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