War erleichtert gewesen, als die Hunde bellten. Hart und abgehackt erst, unsicher noch, dann plötzlich schneller, Knurren dazwischen, immer wieder Knurren, und dann explodierten die harten Töne. Sie hatte das Gatter im Vorhof gehört, das Metall, das in den Angeln schwankte, weil einer der Hunde dagegengesprungen war. »Sscht«, sagte sie leise.
»Jede Nacht«, hatte Lela in ihrem nackten Rücken gesagt. Theresa hatte durch den Türspion gesehen, die Hände rechts und links aufs Holz gelegt. »Ich sehe nichts«, sie hatte sich umgedreht. Lela hielt die Finger vorm Bauch verschränkt, der Ehering ging nicht mehr ab. Sie hatten es mit Seife versucht, Theresa hatte gezogen. »Lass gut sein«, hatte Lela gesagt, »ein Ehering muss ja nicht abgehen.« Die Hunde waren wieder lauter geworden, hart und abgehackt. Theresa hatte sich erneut dem Durchguck zugewandt. »Vielleicht ein Straßenhund«, das Patiogatter hatte geschwankt, sie hörte die Hundekrallen auf dem Metall, einer der Großen hatte sich auf die Hinterbeine gestellt. Sie hatte sehen können, wie die Vorderpfoten den Lack vom Gatter kratzten. »Sie machen es kaputt«, hatte Lela hinter ihr gesagt. »Aus«, hatte Theresa gerufen, wütend plötzlich, gegen die winzige runde Öffnung, »aus!«. Sie hatte sich abgestoßen, das lackierte Holz kühl unter ihren Händen, kühl und glatt, sie hätte gerne noch ein wenig an der Tür gelehnt, den ganzen Körper an die Tür gelehnt. Fühlte den Blick ihrer Mutter auf ihrem Rücken, ihren Hinterbacken, den Cellulitedellen, ihren Oberschenkeln, den Blick eines Besitzers, der nach langen Jahren sein Eigentum nach Gebrauchspuren absuchte. »Mama, leg dich schlafen«, Theresa war an der kleinen Gestalt vorbeigegangen, ihre Schultern waren nach vorn gesunken, sie wurde immer kleiner, weil ihre Schultern nach vorn sanken. »Steh gerade«, hatte Theresa gesagt, war in ihr Zimmer zurückgegangen, hatte den Schrank geöffnet und eines der Nachthemden herausgenommen. Es war hellgrün, ein überlanges Shirt mit drei weißen Hasenköpfen auf der Brust, gehörte Ebba, die kommt eh nicht mehr her, hatte sie gedacht und es über den Kopf gezogen. »Ein Straßenhund«, hatte sie erneut zu dem weißen Rücken gesagt, der jetzt an der Tür lehnte, das Auge aufs Guckloch gedrückt, »nur ein Hund«, schon auf dem Weg in die Küche. Lela müsste nur gerade stehen, dann würde sie nicht kleiner. Der Eimer war in der Speisekammer, Theresa hatte zornig an ihm gezogen, der Bügel hing fest, am Staubsauger. Der Staubsauger war umgekippt, sie hatte ihn liegen gelassen, die Zehen unter die Gummischlaufen der Latschen geschoben. Im Bad war der Wasserdruck stärker. Sie hatte den Eimer genommen, musste an dem weißen Rücken vorbei. »Ssch«, hatte der Rücken gemacht, »ssch«, zu den Hunden draußen im Vorhof. Die Klinke der Badezimmertür war gegen die Wand geschlagen. »Vorsicht, die Tapete«, hatte sie Lela sagen hören, ungeduldig den Griff des Wasserhahns aufgedreht. Die Hunde hatten sich beruhigt. »Was machst du«, Lela lehnte am Türrahmen. Theresa hatte den Schlauch der Dusche in der einen Hand gehalten, war sich mit der anderen durch die Haare gefahren. »Siehst du doch«, hatte sie gesagt, den Hahn zugedreht, der Eimer sehr voll, »geh zur Seite«, hatte sie gesagt.
Das Wasser lief über die trockene Erde, lief in die Spalten, lief durch sie hindurch, perlte ab an den harten braunen Krumen, wurde nicht aufgesogen, lief auf den Schotter, die Auffahrt hinab. Das Wasser blieb klar, bis es den Schotter erreichte, trug keine Sandkörner mit sich fort, nichts mit sich fort, der Boden war zu hart. Theresa roch warme Erde, dumpf wie Mutterleib, musste sie denken, wie Blut in warmem Fleisch. Sie sah dem Wasser nach, es hatte die Straße erreicht, lief über die Kante des Bürgersteigs auf die Fahrbahn, machte eine Rechtskurve, als würde es sich in den Verkehr einordnen und dann den Berg hinab.
»Er ist tot, Mama«, sagte Theresa, schob die kleine Gestalt zur Seite, stellte den Eimer unter den Hahn und drehte ihn auf, »er ist tot«, sagte sie und sah dem Wasser zu, »aber ich bin da.«
Ihr erstes Wort war Comboio, Zug, gewesen. Ihr Vater war die Linha Litoral gefahren, die Küste entlang, bräunliche Marschlandschaften, dunkle Baumreste zwischen den Salzfeldern, zu den grünen Dünen. Von der spanischen Grenze über die großen Holzbrücken vor Portimao, wo alles zu hüpfen begann, Verwirbelungen unten im Wasser, bis nach Sagres und zurück. Er hatte jede Flechte auf den Dächern der Stationsgebäude gekannt, jedes Storchennest, die defekten Uhren an den Bahnsteigen, römische Ziffern auf weißem Grund, ihre rostenden Metalleinfassungen, die Farben, mit denen die jeweiligen Bänke gestrichen waren.
Wenn er keinen Dienst hatte, saß er in der Küche, die Füße in einer Schüssel mit warmem Wasser und zwei Löffeln Senf, der es gelblich färbte und in Klumpen darin schwamm, dunkelblaue Krampfadergebirgszüge an den Waden. Ein Ellbogen auf die Wachstuchdecke gestützt, Kinn auf die Handfläche, Zigaretten, Feuerzeug und Aschenbecher in Reichweite, die andere Hand hatte auf dem kleinen Radio gelegen. Er hörte die Sportsendungen oder drehte an dem Rädchen und suchte die Sportsendungen, jeden Abend, und sagte nichts.
Nach seiner Pensionierung hatte er den ganzen Tag dort gesessen, Füße in der Schüssel, die Haut weiß aufgequollen, jede Falte, übergroß, sein Kopf aufgestützt, die Hand auf dem Radio. Sie hatte ihn einmal bei der Arbeit gesehen, in Sagres war sie gewesen, Schulausflug, er blieb stumm, als er das Abteil betrat, grüßte nicht zurück, betrachtete nur die Hände, nickte, wenn sie ihm die Fahrkarten reichten, knipste und drehte sich bereits zum Nächsten, als er sie zurückgab. Sie war nicht sicher, ob er sie gesehen hatte, die Lehrerin hatte eine Gruppenkarte gelöst.
Lucas lauschte in den Hausflur, die alte Frau war nicht zu hören, sie wohnte im Zweiten. Sie hatte angefangen, ihm Süßigkeiten zu schenken, wenn sie sich im Treppenhaus trafen. »Augen zu und Hände auf«, sagte sie dann, und er hielt die Hände vor sich, mit den Innenflächen nach oben und blinzelte nicht. »Ich warte, bis nichts mehr flattert«, sagte sie, irgendwann hatte Lucas verstanden, dass sie von seinen Augenlidern sprach. Er hörte, wie sie den Verschluss ihrer Handtasche, zwei goldene Stäbe mit Kugeln an den Enden, öffnete. Die Tasche roch süßlich, ein Geruch, der sich in der Nase wie Staub festsetzte, er verspürte den Drang, Rotz hochzuziehen, das mochte sie nicht. Hatte ihm mit dem Fingerknöchel auf den Schädel geklopft, »nimm ein Taschentuch« gesagt, als er es einmal gemacht hatte. Er versuchte, nicht zu atmen, und zählte still, bis sie ihm etwas Kühles auf die Hände legte. Lucas hatte gelernt am Gewicht zu erkennen, was sie aus der Tasche holte. »Augen auf«, kommandierte sie, die Süßigkeiten befanden sich in Gefrierbeuteln. In Stanniolpapier verpackte Schokoriegel, ohne die Pappschachtel, in die sie gehörten. Verklebte Gummibärchenklumpen ohne Tüte. Zerbröselte Kekse, der geschmolzene Schokoladenüberzug auf dem durchsichtigen Plastik verschmiert. Trotzdem musste er jedes Mal überrascht die Augen aufreißen, »Danke schön« sagen. Musste probieren, während Frau Streml danebenstand, ihr versichern, dass es gut war.
Die Kekse warf Lucas in die Abfalltonnen im Hinterhof. Die Gummibärchen zog er zwischen den Fingern lang, drehte die Enden gegeneinander, bis sie durchrissen, er aß erst das kleinere und dann das größere Stück. Die Schokolade hatte ihn mehr Überwindung gekostet, sie schmeckte, wie die Handtasche roch, und ganz hinten auf der Zunge und im Rachen war sie scharf.
Letztes Mal hatte sie auf seine Schuhe gedeutet, die unterste Gummischicht der Sohle hatte sich an der Spitze abgelöst, hing ein wenig herunter, manchmal klemmten Steinchen dazwischen, wenn er abends nach Hause kam. »Deine Mutter muss mit dir zu Beck gehen, dem Schuster vorne an der Straße.« – »Stört mich nicht«, hatte Lucas geantwortet, an der Straße war kein Schuster.
Читать дальше