Marya. Von mir unbemerkt war sie herangewachsen und hatte diese Phase der Jugend erreicht, in der sie ganz heiliger Ernst und missionarischer (oder zumindest reformatorischer) Eifer ist, das für gut und recht Erkannte durchzusetzen und es aufs äußerste zu verteidigen; mehr noch: diese Phase, in der die Jugend ganz Glaube ist, den Verworfenen und seine verworfene Welt reinigen und retten, ja, an sich aufrichten zu können. Vielleicht war sie gerade auf der Suche nach solch einem Verworfenen. Und sie sah um sich (meist hinauf, bei ihrer Größe), immer auf der Suche nach etwas, das sie ganz und gar gutheißen könnte. Du sollst etwas gutheißen können. Ihr elftes Gebot.
Nach der x-ten Kreisvermessung begann die Ruderpartie nun wirklich zu langweilen. Ich registrierte mit klammheimlicher Freude, wie ein Gewitter von Polen heranzog. Unter denselben Flüchen wie auf dem Hinweg trug ich meine Last zurück. Marya hatte uns schon am Tümpel verlassen, sie wollte nach Hause, Essen vorbereiten. Ich sagte, ich käme bei Stanislau unter, aber der winkte ab, geh nur, bedeutete mir sein Blick, hier ist die Jugend, da kann man noch etwas gutmachen, hier ist Rhodos, hier springe.
Ich dachte nicht daran, heute noch irgendetwas zu tun, geschweige denn zu springen. Aber dann kam der überfallartige Regen, ein Krieg zwischen Himmel und Erde. Wie im Himmel. So auf Erden. Von oben waren wir durch das Boot geschützt, doch der Sturm trug die Feuchtigkeit von allen Seiten an uns heran, pudelnaß enterten wir die Garage von Stas’ Eltern, vor Erschöpfung lachten wir, bis ich Seitenstechen und Stanislau einen Hustenanfall bekam.
»Wir reden ein andermal, ja?«
»At your command! Du wolltest reden, nicht ich.« Stanislau drückte mir stumm die Hand. Er drehte sie so, daß meine oben auflag. Ein Zeichen der Unterwerfung, dachte ich, oder der Abbitte. Stand es so schlimm um den Sender, waren es etwa Mafiagelder?
»Waldfee!« rief ich, als ich die Haustür öffnete, »ich bin klitschnaß, ich geh erstmal duschen, hab eigentlich auch keinen Hunger, ich – «
Manja kam mit zwei Tellern in der Hand auf den Flur. Sie hatte sich eine Küchenschürze umgebunden. Ich sah, daß sie ziemlich wenig darunter trug. Einen Moment blieb ich wie ein Trottel auf der Türschwelle stehen.
»Kochst du immer im Bikini?« fragte ich.
Marya blickte an sich herab, die Augenbrauen vor Irritation zusammengezogen, dann sah sie wieder zu mir her.
»Duschst du immer im Hemd?«
»Nein«, sagte ich und bemühte mich, ein Lächeln aufzusetzen, »nein, nur wenn meine kleine Tante in der Nähe ist.«
»Willst du wirklich nichts essen?«
»Wirklich nicht. Danke.«
Ich brauchte lange im Badezimmer. Dann legte ich mich aufs Sofa, verdöste den Tag. Als es Abend wurde, trat ich auf die Veranda. Es hatte aufgeklart. Diese nimmermüden Frühlingsnächte. Mit Regenbogenhorizont. Ein schwarzer Rachen, der sich auftut und gierig immer mehr Rot verschlingt. Bis nur ein letzter, fast leerer Streifen Violett verbleibt. Violett. Dann Blau. Dann Finsternis. Finsternis über Hrodna, Finsternis über dem Westen.
Ich setzte mich. Im übervollen Aschenbecher begann ich nach Kippen zu suchen, die Tanja, nicht Lesja gehört hatten, also so gut wie keine Lippenstiftspuren trugen. Ganz unten wurde ich fündig. Ich dachte an den Abend vor zehn Jahren, als wir uns wiedergefunden hatten. Plötzlich war es da, das Bedürfnis zu laufen, mit langen harten Schritten auf meinen Ballen. Ich wollte mich für meine Schwäche bestrafen, aber mir fiel nichts Passendes, nichts Unpathetisches ein. Ich hatte alles verdorben, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder und wieder, immer, wenn ich mit Lesja geschlafen hatte. Es ließ sich nichts mehr daran ändern. Die Gefühle waren aufgebraucht, sie würden nicht mehr wiederkommen. Vielleicht hätten Tanja und ich noch eine Chance auf Wandlung, aber nicht mehr auf Neubeginn. Dabei ersehnte alles in mir so sehr einen Neubeginn.
Es war nicht mehr hell, war noch nicht dunkel. Der westliche Himmel hatte sich über dem Horizont tiefblau gefärbt, in der Höhe war er grau geworden. Marya trat aus der Tür, sah in die Ferne, und dehnte sich behaglich.
»Katzendämmerung«, sagte sie.
»Katzendämmerung?«
»Die Stunde nach Sonnenuntergang. Wenn es Sommer wird. Die Kater kommen heraus, sitzen rum und warten auf ihre große Zeit.«
»Wenn die Mäuse kommen?«
»Wenn die Katzen kommen.«
»Die Katzen. Natürlich.«
Ich erwartete einen Kommentar wie: »Was hat man euch eigentlich an der Uni beigebracht?« Aber der kam nicht. Denn das hier war Marya. Nicht Tatsiana. Nicht Alezja. Marya war nicht ironisch. Oder noch nicht. Oder noch nicht oft.
»Wasja«, sagte sie unvermittelt, »entspann dich, streng dich einfach nicht so an, ok?«
»Was meinst du?«
»Ich meine: ich freue mich, wenn du da bist. Ich mag dich nämlich, falls du das noch nicht weißt. Aber du mußt meinetwegen nichts Besonderes tun oder so. Das erwartest du die ganze Zeit nur von dir selbst. Ich kann mich ganz gut allein beschäftigen.«
»Ich muß also nicht Väterchen Frost spielen?«
»Und du mußt mir auch kein Geschenk mehr machen, in dem nichts drin ist.«
Ich senkte meinen Blick, ein Lächeln drängte herauf.
»Ich hatte befürchtet, daß es nicht funktioniert hat.«
»Nein, nein, funktioniert hat es, und wie es funktioniert hat.«
Marya geriet ins Stottern.
»Also je nachdem, was du eigentlich damit beabsichtigt hast. Es war jedenfalls total süß, daß du dich so um mich bemüht hast. Keiner hat sich damals so um mich bemüht.«
Ich räusperte mich.
»Ja, Tanja schon, aber das war was anderes. Kein Fremder.«
Ich nickte.
»Aber jetzt bin ich groß. Du mußt dich nicht bemühen.
Mach dir einfach keinen Streß. Ok?«
»Ok.«
Marya gab mir einen Nasenstüber, bevor sie ins Haus ging. Mir. Ihrem dreißigjährigen Neffen. Marya. Die Nierenkosterin.
Als es mir eine halbe Stunde später doch zu kalt wurde und mein Magen zu knurren begann, fand ich sie in der Küche über ein Buch gebeugt.
»Was liest du?« fragte ich, während ich mich über den Kühlschrank hermachte.
» Sie kommen! Die Hufe der Nacht,
die Pferde des großen Schlafs kommen heran
unter ihren Mähnen aus Dunkelheit
Und immerdar fließen die Ströme
Tief wie die Flutgezeiten des Schlafs fließen die Ströme
Wir rufen – «
» Sie kommen «
fiel ich in ihren Sprechrhythmus ein,
» meine großen dunklen Pferde kommen!
Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe
Die Pferde des Schlafs galoppieren,
galoppieren über das Land. «
Sie blickte mich an. Ich hatte mir Wurst, Butter und Brot genommen, aß gierig.
»Du kannst das auswendig, Wasja?«
»Ich hab Thomas Wolfe auf dem Internat gelesen. Er hat mir das Leben gerettet. Er und Blok und Rimbaud – «
Marya wippte mit Kopf und Körper im Takt eines unhörbaren Rhythmus’, aufgeregt, erregt, als sie den Faden weiterspann:
» – und Sologub, und Brjussow, und Balmont. Nur Claudel mag ich nicht.«
»Ich auch nicht. Ist mir zuviel – «
»Kackruß, katholischer?«
Ich lachte. Diese Worte von diesen Lippen! Ich lachte und verschluckte mich an einem Wurstbrocken. Woher hatte sie nur diese Worte?
Als ich mich endlich beruhigt hatte, erzählte sie mir, was ihr die Bücher bedeuteten, wie sie ihr Halt gaben in diesen Jahren. Sie konnte gar nicht mehr ablassen, an mich auszuteilen, was sie an Überfülle besaß, was sie vor Neugierde auf das Lesen, auf das Leben überlaufen ließ. Ich erschrak über ihre Formulierungen. Ebensogut hätten sie von mir sein können, von mir, als ich in ihrem Alter war. Es war mehr als nur eine Reminiszenz an das Internat. Das war nicht das fremde Kind, das anzutreffen ich erwartet hatte. Marya war nicht fremd. Und nicht Kind.
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