Es war auf dem Weg zu einem Interviewtermin. Ein von den Sowjets mit Orden behängter Dichter, Auschwitz-Überlebender, feierte seinen 95. Geburtstag. Ich passierte einen Platz, der als einer der Treffpunkte der »alternativen Szene« galt: Punks, Gruftis, Schwule und Lesben. Sie saßen in einem großen Rund unter dem Schatten, den die stadtkranken Bäume spendeten, spielten Tabla und Gitarre. Ich erkannte Musik von Krambambulya und einen Song von N.R.M.: »Try Czarapachi – Drei Schildkröten«. Uniformierte standen im Hintergrund, die Polizeimützen in den Nacken geschoben, sie schwatzten, rauchten, mir schien, sie sangen mit den anderen. Vom Gras ging ein Geruch nach Lagerfeuer aus.
Mein Kopf begann zu schmerzen.
Der Jubilar war in eine Wolke beißenden Qualms gehüllt. Wenn er das Wort Kettenraucher nur höre, sei die ganze Erinnerung wieder da. Vor dem Abtransport, erzählte er, hätten ihnen die Nazis das Rauchen verboten. Kaum hatte Kurotschkin das Lager befreit, erbat sich der Dichter eine Zigarette, inhalierte so tief, daß er dachte, er werde auf der Stelle umfallen. Gut so!, denn Rauchen, polterte er, sei Freiheit, Selbstbestimmung, Rechtssicherheit, jeder militante Nichtraucher in seinen Augen ein dreckiger Faschist.
Rechtssicherheit, notierte ich und unterstrich das Wort. Zweimal.
Auf dem Rückweg folgte ich einem Impuls, der mich auf die dem Platz gegenüberliegende Straßenseite zwang. Schon von weitem hörte ich die Sprechchöre: Belarus, Belarus. Es waren weibliche Stimmen. Dazu ein rhythmisches Geräusch. Als ich in Sichtweite kam, sah ich, daß es das Trommeln von Schlagstöcken auf Polizeischilden war. Ich blieb stehen, mit mir fünf oder sechs Passanten, einen Moment kehrte vollkommene Stille ein. Dann brach das Tosen los. Die Spezialtruppen der Miliz rasten ohne vorheriges Kommando in die Menge, eine weiß-rot-weiße Fahne sank in die Tiefe. Die Jugendlichen wichen nach allen Seiten aus, um den Schlägen der Uniformierten zu entgehen, da erst bemerkten sie, daß sie von Zivileinheiten eingekesselt waren. Die zielten vornehmlich auf die Schienbeine, traten die am Boden Liegenden in den Unterleib, zerschlugen Gitarren und Tablas auf dem Pflaster. Vereinzelt waren noch immer Stimmen zu hören, die Belarus, Belarus skandierten.
»Warum rufen sie das, warum?« fragte ein alter Mann neben mir, der auf seinen Spazierstock gestützt stand. Zwei Uniformierte spurteten zwischen den dahinrasenden Autos über den Boulevard auf uns zu, herrschten uns an, weiterzugehen. Mechanisch setzte ich mich in Bewegung, drehte mich noch einmal um, als ich das Geräusch aufjaulender schwerer Motoren hörte. Schwarzblaue Transporter waren vorgefahren, nahmen mir den Blick auf das Geschehen.
»Ausweis! Ausweis!« brüllte einer der Uniformierten den alten Mann an, der seinen Spazierstock abwehrend erhoben hatte. Als die Lastautos davonjagten, fegten bereits Zivile die Holzsplitter zusammen und schwemmten den Platz.
Das Wort Rechtssicherheit strich ich aus meinen Aufzeichnungen.
Wenn Alezja befahl, folgte ich. Ich war ein gutes Hündchen. Auch wenn es zwischen uns schon längst nicht mehr um die Erpressung ging. Beide hatten wir aufgehört, nach einem anderen Weg zu suchen. Oder nach einem anderen Menschen. Keiner wollte oder konnte dem anderen das Remis anbieten. Wir suchten, wir schlugen den in Feuchte erstarrten, klebrigen Leib des anderen.
Tatsiana hatte endlich ihr Studium aufgenommen. Onkel Janka war gestorben, das Wetter hatte dem Neunzigjährigen den Garaus gemacht. Tanja und Marya hatte er zu Erbinnen erklärt. (Lesja tobte.) Viel sei es nicht, sagte mir Tanja am Telefon, aber ausreichend. Ich konnte meine Zahlungen an die beiden einstellen. Sie hatten mich zuletzt einen Gutteil meines Gehalts gekostet.
Im Juni hatte der Präsident wieder einmal eine Wahl gewonnen. Natürlich hatte er das. Dafür sorgten schon die Pensionisten, die die Hitzewelle überlebten. Wahrscheinlich hätte er es auch ohne Fälschungen geschafft, aber er war sowjetische Ergebnisse gewöhnt. Und sechzig Prozent schienen ihm nach wie vor eine Splittergruppen-Mehrheit.
Immer mehr Oppositionelle verschwanden. Dann gingen auch ehemalige Weggefährten des Herrn Präsidenten in die Sommerfrische, um nie wieder zurückzukehren. Es schien, als wollte er sich und seine Vergangenheit neu schreiben. Als nächstes wäre dann die Vergangenheit unseres Staates dran.
Auf dem Oktoberplatz war die obligatorische Menge zusammengekommen, um gegen das Procedere der Wahl zu demonstrieren, beobachtet und flankiert von den obligatorischen Polizisten und Geheimdienstlern und wenigen, säuerlich dreinblickenden Kameraleuten ausländischer Fernsehstationen, die von Mailand oder Madrid träumten, aber mit Minsk hatten vorlieb nehmen müssen. Ohne ihre Ausrüstung erkannte man sie daran, daß sie nicht gegen Hauswände pinkelten.
Es sei eine regelrechte Zeltstadt, hatte mir ein Kollege verschwörerisch zwischen zwei Schluck Kaffee in der Redaktion zugeflüstert. Davon konnte nicht die Rede sein. Was ich sah, erinnerte mehr an das traurig gelichtete Haupthaar des führenden Oppositionellen. Wo der Kreis der Demonstranten am dichtesten stand, fand ich Stanislau. Sein Blondschopf überragte die Menge.
»Du traust dich, hierherzukommen? Hast du keine Angst, daß dich jemand aus der Redaktion sehen könnte?«
»Sowieso nur eine Frage der Zeit, bis mich Bublik rauswirft. Aber schön, daß wenigstens du an meine Karrierefähigkeit glaubst.«
»Du weißt, daß ich an dich glaube, früher oder später – « »Ja, die Wette«, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn, »ich hab schon mal leichtfertig oder leichtgläubig so eine Wette verloren, Stas. Solange ihr euren freien Markt anbetet, werde ich nicht den Weihrauch dazu schwingen. Wenn man’s schon im Guten zu nichts bringt, soll man im Schlechten nicht alles verpatzen.«
»Schreib das unserem Herrn Präsidenten.«
»Was macht die Promotion, Stas?«
»Sag bloß, das weißt du noch nicht? Hat dir Tanja nichts gesagt?«
Ich stutzte. Tanja? Weshalb sollte mir Tanja etwas über Stas erzählen? Das letzte Mal, als die beiden zusammengekommen waren, hatte sie gerade aufgehört, mit ihren Puppen Sprechstunde zu spielen. Ich sah, wie Stanislaus Hände zitterten, er versuchte, sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette anzuzünden (er war endlich von Belamorkanal abgekommen, halleluja!), aber er schlug nur kleine Funken aus dem Zündstein, schüttelte es, schlug Funken, er gab auf und sah mich mit einem sehr belämmerten Gesichtsausdruck an, die trockene Kippe zwischen den Lippen.
»Ich bin raus. Sie haben mich relegiert.«
»Das hab ich nicht gewußt. Ehrlich, Stas, tut mir leid.« »Schon in Ordnung«, sagte er. Er hatte von einem der Umstehenden Streichholzbriefchen bekommen, mehr als er hätte tragen können.
»Schon in Ordnung. Oder magst du darüber schreiben? Darüber, daß schon wieder Gesinnungswissenschaft in diesem Land betrieben wird?«
»Ach komm, Gesinnungswissenschaft betreiben sie im Westen doch auch.«
»Aber da halten sie sich an gewisse Prinzipien.«
»Die sie vorher selbst aufgestellt haben. Wie einen Meilenstein, einen für alle Zeiten und Landstriche gültigen Weg zum politischen Heil. Die machen sich ja nicht einmal Gedanken über ihre Vorurteile.«
»Dann schreib doch darüber, was gestern hier auf dem Oktoberplatz passiert ist.«
»Was ist denn passiert?«
Das sei doch in aller Munde gewesen, ereiferte sich Stas: Alte Frauen waren herbeigeströmt und hatten Suppen und böse wie gute Worte gebracht, die einen, um damit aufzustacheln, die anderen, um Mut zu machen, Mut zum Durchhalten. Aber als es Abend wurde, begannen immer mehr Demonstranten sich zu übergeben. In der Nacht kamen die Koliken dazu, einer nach dem anderen besudelte sich die Hose. Die meisten wurden vom Notarzt, einige von der Polizei mitgenommen. Bis zum Morgen blieben nur die übrig, die auf Omas gute Suppe verzichtet hatten.
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