»Komm schon hoch«, knurrte er schnaufend auf Weißrussisch.
Ich fürchtete eine beispiellose Perfidie und schüttelte den Kopf.
»Nun mach.«
Ich verharrte in meiner Stellung. Dann packte er meine Hand und zog mich in den Stand. Er musterte mich.
»Woher kommst’n du eigentlich?«
»Hrodna. Aus der Nähe von Hrodna.«
»Ich auch. Ich bin aus Bruzgi. Du kannst mich Sjarozha nennen.«
Noch immer wußte ich nicht, worauf das alles hinauslaufen würde.
»Warum machst du es dir eigentlich so schwer hier, hm?«
Ich sah ihn an.
»Und mir? Glaubst du, ich hab Lust, immer dein Hündchen zu spielen?«
Ich verbiß mir die Antwort.
»Mann, uns alle kotzt das an. Alle sind wir abgeschoben worden. Aber du bist doch keine fünf mehr! In einem Jahr bist du hier raus. Und es liegt ganz allein an dir, ob das ein gutes oder ein noch beschisseneres Jahr wird. Mir wär’s zu anstrengend. Ich hab mich entschlossen, für die hier zu funktionieren. Der Rest ist meine Sache. Den Rest bekommen die ja nicht mal mit.«
»Welchen Rest?«
»Du warst noch nie in der Stadt, oder? Na klar warst du da nicht, du hast ja immer nur das Scheißhaus geschrubbt. Was glaubst du, wo ich jetzt wäre, wenn ich dich nicht an der Backe hätte? Willst du nicht mal mitkommen, und dann entscheiden, ob es sich lohnt, dein Beleidigtspielen, weil deine Alten Arschlöcher sind, genau wie meine?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich nickte. Letztlich war alles besser als das hier.
»Also dann los, räumen wir den Mist hier auf, dann ab zur Njamiha.«
Ich schüttelte den Staub von meiner Uniform und setzte mich langsam in Bewegung.
»Übrigens, Wasja…«
Ich drehte mich um und fing mir eine schallende Ohrfeige ein.
»Wofür die war, weißt du selbst am besten.«
Mein erster Impuls hieß: zurückschlagen. Aber dann hörte ich Sergej lachen und mußte selbst grinsen.
Es begannen kopfschmerzträchtige Tage, kopfschmerzhochträchtige Wochen. Sjarhej, wie Sjarozha eigentlich hieß, doch die Erzieher nannten uns nie bei unseren belarussischen Namen, hatte Minsker Freunde. Freunde, die nichts mit dem Internat zu tun hatten. Sie waren drei, vier Jahre älter als wir, studierten. Wir schmuggelten uns und unseren Wodka an der Aufsicht des Studentenwohnheims vorbei, wir saßen auf ihrem Zimmer, einer packte seine Gitarre und spielte ein neues Lied von Grazhdanskaja Abarona, von Aukcyon. Wir übten, so kunstvoll wie möglich, unsere Familien-, Vor- und Vatersnamen auf den Oktoberplatz zu kotzen, ohne uns dabei erwischen zu lassen; wir schlichen, gerade noch rechtzeitig, an der Aufsicht des Internats vorbei und tranken den Letzten gemeinsam auf dem Zimmer, im Dunkeln, rülpsend, lachend, mit dem Stöhnen von Trafim und Sascha, die schlafen wollten, als Generalbaß.
Wir spielten Schach. Sjarhej war ein zäher Gegner, aber er kam bestenfalls mit einem Remis davon. Er riet mir, auf den Sport zu setzen, um mir und dem ganzen Zimmer mehr Freizügigkeit zu verschaffen. Meinen ersten Hundertmeterlauf hatte ich noch in 16,0 absolviert. Den nächsten schon in 11,1 Sekunden.
Die Tage waren jung wie wir. Sie schienen geschlafen zu haben, und wir waren eifrig bemüht, sie der Reihe nach zu wecken. Der baldige Schulabschluß, das Alter, in dem man sich die Nächte um die Ohren schlägt mit Diskussionen, wie die Welt beschaffen, wie sie zu verändern sei, und was sie eigentlich koste. Mit diesem Gefühl, zum ersten Mal aus sich selbst heraus leben, denken, agieren zu können. Die große Genugtuung des Erwachsenwerdens, aber noch nicht erwachsen sein zu müssen. Die große Herausforderung. Wir alle spürten, daß sich nun längst Fälliges vor unseren Augen vollzog. Und wenn nicht gerade vor unseren Augen, so doch hinter unseren Rücken. Litauen hatte sich unabhängig erklärt, die Deutschen planten ihre Wiedervereinigung. Und eines Tages hörte unsere Viererbande, um Trafims Radio geschart, daß sogar die Russen und Ukrainer daran dachten, sich aus der Sowjetunion davonzustehlen. Sjarhej krümmte seine zehn Finger, einen nach dem anderen, wie um die Sowjetrepubliken auszuzählen. Dann sagte er:
»Da bleiben wohl nur noch wir übrig.«
»Das wird ein großes Erbe«, sagte ich.
»Das wird vor allem teuer, Kamerad.«
»Teuer?«
»Teuer. Wenn der Kapitalismus kommt, wird es teuer für uns. Oder denkst du, daß Gorbatschow sich halten könnte, wenn wir nicht schon längst pleite wären?«
Teuer. Pleite. Es war mir neu, daß man in Kategorien von teuer und pleite denken konnte, wenn es um einen ganzen Staat ging. Zumal wir immer davon ausgegangen waren, daß es uns, der Belarussischen SSR, gut ging. Am besten. Schließlich waren immer wir das Vorbild, das Leitbild, würden als erste die Vollendung erreichen, den Kommunismus verwirklichen. Zumindest hatte Chruschtschow davon gefaselt.
Das Jahresende nahte, ich mußte nach Hause, einmal mußte ich doch nach Hause. Auch wenn ich noch keinen Beweis dafür hatte, daß sie sich Sorgen um mich machten. Die Briefe, die wir aus Disziplinierungsgründen an die Eltern schrieben, kopierte ich getreu nach Vorlagen, die Sjarhej aufgetrieben hatte. Breschnjew ersetzte ich durch Gorbatschow. Doch der schwulstige Rest hätte meine Familie stutzig machen müssen, vor allem die Tatsache, daß es in Minsk weder einen Kasaner Bahnhof noch einen Kreml gab.
Als mein Zug in Hrodna ankam, war niemand da, um mich abzuholen. Als ich zu Hause ankam, war niemand da, um mich zu empfangen. Ich ging zu Stanislau. Bei der Begrüßung gaben wir einander die Hand, wie zwei alte Bekannte, die sich wunderten, daß sie sich nicht so recht darüber freuen konnten, einander wiederzusehen. Und der Herr wandte sich um und sah Petrus an. Einen Moment hatte ich das Gefühl, selbst ein Verleugner zu sein. Ich hatte ihm in der ganzen Zeit vielleicht drei Briefe geschrieben, den letzten vor etwas mehr als einem halben Jahr. Sicher hatte ich mich verändert, sicher hatte sich meine Sprache verändert. Stanislau ereiferte sich, daß auch wir bald einen souveränen Staat hätten und uns nicht mehr dafür schämen müßten, im eigenen Land die eigene Sprache zu sprechen. Ich gähnte, die Fahrt hatte mich erschöpft, ich schnitt das Gespräch mit Sjarhejs lapidarem Kommentar ab, einen unabhängigen Staat müßten wir uns erst einmal leisten können. Stanislau zog lautstark Luft durch die Nase ein. Viel mehr Luft als nötig, viel mehr als im Zimmer war, er hörte gar nicht mehr auf, Luft durch die Nase einzuziehen, ich bekam Angst, er würde platzen. Und als er sie endlich wieder ausstieß, ließ er am Ende des Luftzugs ein merkwürdig niederfrequentes Stöhnen hören.
Ich ging nach Hause und wunderte mich, wie groß Marya geworden war. Sie fand kaum mehr Platz auf meinem Arm. Ich spielte Väterchen Frost für sie, der Rest agierte als schimpfendes Volk: Alezja weigerte sich, das Schneeflöckchen zu geben, Großmama war beleidigt, weil Tanja und ich nicht rechtzeitig zum katholischen Fest nach Hause gekommen waren. Und sie weigerte sich, zum orthodoxen nachzufeiern. Vater war besoffen wie immer, aber zugleich suchte er merkwürdig gerührt meine Nähe, ich dachte, er dachte, ich hätte inzwischen irgendeine Art männlicher Initiation hinter mir, oder vielleicht roch er auch einfach nur die hormonellen Ausdünstungen des geschlechtsreifen jüngeren Männchens, Duschtag war ja schon eine Woche her. Mutter drückte mich, ohne rechte Überzeugung, wie mir schien, und Alezja war so fett geworden, daß sich ihr Bauch bei unserer Umarmung fast zu wohlig an meinem Schritt rieb.
Und Tatsiana?
»Komsomolzenlager. Du mußt schon mit mir vorlieb nehmen«, frotzelte Alezja.
Ich war überrascht. Noch zu Großpapas Lebzeiten hatten er und Großmama einander neutralisiert in Fragen der ideologischen Erziehung. Die Formel, die dabei herauskam, lautete: Pioniere ja, Komsomol nein. Selbst als mein Lauftrainer eines Tages vorsprach und erklärte, aus mir könne noch etwas werden, aber ohne Eintritt in die Komsomol müßte ich immer eine halbe Sekunde schneller sein als alle anderen, erklärte Großmama, die Geschwindigkeit sei ein Geschenk des Herrn, und wenn Gott mich laufen sehen wolle, würde er schon für die halbe Sekunde sorgen. Jefim Abramawitsch raufte sich das Haar, aber niemand hielt dagegen. Vater, weil er gerade nüchtern war und vom Laufen ohnehin nichts verstand, Mutter, weil ihr sowieso alles egal war, Großpapa, weil ihn die Motoren riefen und er sich nicht in offene Feldschlacht mit Großmama begeben wollte.
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