»Und ich verstehe nichts von moderner Kunst. Und ich gucke schreckliche Sachen im Fernsehen an.«
»Was zum Beispiel?«, lachte Simon.
»Zeug, von dem du noch nie gehört hast. Wie … wie Family Fortunes !«
»Milly …« Simon ging auf sie zu.
»Und ich … ich kaufe mir billige Schuhe und zeige sie dir bloß nicht.«
»Ja und?«
»Wie meinst du das, ja und?« Tränen der Wut traten in Millys Augen. »Die ganze Zeit habe ich so getan, als sei ich jemand anders. Bei der Party damals, bei der wir uns kennen gelernt haben, da hatte ich von Vivisektion eigentlich überhaupt keinen Schimmer! Ich habe nur zufällig in Blue Peter was darüber gesehen.«
Simon blieb stehen. Eine lange Stille trat ein.
»Du hast es in Blue Peter gesehen«, sagte er schließlich.
»Ja«, erwiderte Milly mit tränenerstickter Stimme. »Ein Blue Peter Special .«
Simon warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.
»Das ist nicht lustig!«, entrüstete sich Milly.
»O doch!«, brachte Simon lachend heraus. »Sehr sogar!«
»Nein!«, schrie Milly. »Die ganze Zeit über hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen! Begreifst du denn nicht? Ich habe Wissen und Intelligenz vorgetäuscht. Und ich habe dich zum Narren gehalten. Aber ich bin nicht intelligent! Das bin ich einfach nicht!«
Simon hörte abrupt zu lachen auf.
»Milly, ist das dein Ernst?«
»Natürlich!«, sagte Milly unter Tränen. »Ich bin nicht clever! Ich bin nicht schlau!«
»O doch, bist du schon.«
»Nein! Nicht so wie Isobel!«
»Wie Isobel ?«, wiederholte Simon ungläubig. »Du hältst Isobel für schlau? Findest du es etwa schlau, sich von seinem Freund ein Kind anhängen zu lassen?« Er zog eine Augenbraue hoch, und Milly kicherte unvermittelt.
»Isobel mag intellektuell sein«, versetzte Simon. »Aber der hellste Stern der Familie bist du.«
»Wirklich?«, fragte Milly kleinlaut.
»Wirklich. Und selbst wenn nicht, selbst wenn du nur über eine einzige Gehirnzelle verfügen würdest – würde ich dich trotzdem lieben. Ich liebe dich , Milly. Nicht deinen IQ.«
»Das geht gar nicht«, wandte Milly stockend ein. »Du …«
»… kennst mich nicht?«, vollendete Simon den Satz. »Natürlich kenne ich dich. Milly, eine Person zu kennen, bedeutet nicht, eine Reihe von Fakten zu kennen. Das ist mehr wie ein … ein Gefühl.« Er hob die Hand und strich ihr zart eine Haarsträhne zurück. »Ich spüre, wann du lachen und wann du weinen wirst. Ich fühle deine Güte und Wärme und deinen Sinn für Humor. All das fühle ich in mir. Und genau darauf kommt es an. Nicht auf Sushi. Nicht auf moderne Kunst. Nicht auf Family Fortunes .« Er machte eine Pause und sagte dann mit unbewegter Stimme: »Our survey said …«
Milly sah ihn mit großen Augen an.
»Du guckst das auch?«
»Gelegentlich.« Er grinste. »Na, komm, Milly. Ich bin doch auch nur ein Mensch, oder?«
Stille. In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr. Milly atmete zittrig aus und sagte, fast wie zu sich selbst: »Jetzt könnte ich …«
»Eine Zigarette gebrauchen?«, unterbrach sie Simon. Milly hob den Kopf, um ihn anzuschauen, dann zuckte sie kurz mit den Achseln.
»Vielleicht.«
»Na, komm!«, grinste Simon. »Hatte ich nicht recht? Beweist das nicht, dass ich dich kenne?«
»Vielleicht.«
»Gib’s zu! Ich kenne dich! Ich weiß, wann du eine rauchen willst. Das muss wahre Liebe sein. Oder etwa nicht?«
Es entstand eine Pause, dann sagte Milly erneut: »Vielleicht.« Sie langte in ihre Tasche nach der Zigarettenschachtel und gestattete es Simon, die Flamme ihres Feuerzeugs vor dem Wind zu schützen.
»Na?«, fragte er, als sie ihren ersten Lungenzug inhalierte.
»Na?«
Eine angespannte Stille trat ein. Milly tat einen weiteren Zug und wich Simons Blick aus.
»Ich habe mir überlegt …«, meinte Simon.
»Was?«
»Wenn du Lust hättest, dann könnten wir uns eine Pizza holen. Und vielleicht …« Er machte eine Pause. »Könntest du mir ein bisschen was über dich erzählen.«
»Okay.« Sie blies eine Rauchwolke aus und schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Das wäre nett.«
»Du magst Pizza«, fügte Simon hinzu.
»Ja. Stimmt.«
»Du tust nicht nur so, um Eindruck zu schinden.«
»Simon. Halt den Mund!«
»Ich hole das Auto.« Er griff in seine Tasche nach den Autoschlüsseln.
»Nein, warte. Lass uns zu Fuß gehen. Mir ist so danach. Und nach … Reden.« Simon sah sie mit großen Augen an.
»Den ganzen Weg bis nach Bath?«
»Wieso nicht?«
»Das sind drei Meilen!«
»Na, da sieht man’s mal wieder!«, versetzte Milly. »Du kennst mich nicht. Ich lauf locker drei Meilen. In der Schule war ich in der Cross-Country-Mannschaft!«
»Aber es ist verflixt kalt!«
»Beim Laufen wird uns warm werden. Na, komm schon, Simon!« Sie hakte sich bei ihm unter. »Ich möchte wirklich.«
»Okay.« Simon steckte seine Autoschlüssel weg. »Schön. Gehen wir.«
»Sie gehen in den Garten«, bemerkte Isobel. »Zusammen.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Aber geküsst haben sie sich noch nicht.«
»Vielleicht wollen sie dazu kein Publikum«, meinte Harry. »Vor allem keine ältere Schwester.«
»Die wissen doch nicht, dass ich sie beobachte. Ich war sehr vorsichtig. Oh, jetzt sind sie verschwunden.« Sie biss sich auf die Lippen und setzte sich auf die Fensterbank. »Ich hoffe … du weißt schon.«
»Entspann dich«, riet ihr Harry von seinem Platz am Kamin aus. Er hielt ein Blatt Papier und einen Füller in der Hand.
»Was machst du da?«, erkundigte sie sich. Harry blickte kurz auf, Isobel sah ihn an.
»Nichts.« Hastig faltete er das Stück Papier zusammen.
»Zeig schon!«, befahl Isobel.
»Das ist nichts von Bedeutung.« Harry wollte das Blatt in seiner Tasche verschwinden lassen. Aber Isobel hatte im Nu den Raum durchquert und es ihm entrissen.
»Nur ein paar Namen, die mir in den Sinn gekommen sind«, meinte Harry steif, als sie es auseinanderfaltete. »Wollte sie mir nur schnell notieren.«
Isobel sah auf das Blatt und lachte los.
»Harry, du bist verrückt! Wir haben noch sieben Monate Zeit, uns darüber Gedanken zu machen!« Sie las die Liste durch, lächelte bei manchen der Namen und verzog bei anderen das Gesicht. Dann drehte sie das Blatt um. »Und was soll das hier noch?«
»Oh, das.« Er machte eine leicht betretene Miene. »Das war nur für den Fall, dass wir Zwillinge bekommen.«
Milly und Simon gingen langsam durch die Gärten von Pinnacle Hall auf ein schmiedeeisernes Tor zu, das auf die Hauptstraße führte.
»Eigentlich sollte ich heute Abend etwas ganz anderes tun.« Milly starrte zum Sternenhimmel empor. »Ich sollte zu Hause ein bisschen was zu Abend essen und dann meinen Koffer für die Flitterwochen packen.«
»Und ich hätte eigentlich mit Dad eine Zigarre rauchen und mir die Sache mit der Hochzeit noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen sollen.«
»Und? Hast du das?«
»Du?«
Milly schwieg, starrte aber weiter zum Himmel. Schweigend gingen sie weiter, am Rosengarten und am gefrorenen Springbrunnen vorbei, in den Obstgarten.
»Da ist sie.« Unvermittelt blieb Simon stehen. Er sah sie kurz an. »Erinnerst du dich?«
Milly erstarrte etwas. »Ja. Natürlich erinnere ich mich. Du hattest den Ring in deiner Tasche. Und im Baumstumpf stand schon der Champagner bereit.«
»Ich habe Tage für die Vorbereitung gebraucht«, erinnerte sich Simon. »Ich wollte, dass alles perfekt ist.«
Milly sah ihn an und ballte seitlich die Hände zur Faust.
Ehrlichkeit, sagte sie sich. Sei ehrlich.
»Es war zu perfekt«, sagte sie unverblümt.
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