»Ich weiß.« Isobel biss sich auf die Lippen. »Und glaub mir, Milly weiß das auch.«
Als Milly The Strand erreichte, schien bereits die Wintersonne, und es keimte vorsichtiger Optimismus in ihr auf. In wenigen Minuten wüsste sie Bescheid, so oder so. Und mit einem Mal hatte sie das sichere Gefühl, die Antwort zu kennen. Die Last, die sie die letzten Jahre gedrückt hatte, würde von ihr genommen. Endlich wäre sie frei.
Sie bummelte die Straße entlang, spürte eine Brise durch ihr Haar fahren, genoss die Sonne im Gesicht.
»Entschuldigen Sie.« Eine junge Frau tippte ihr auf die Schulter. Milly drehte sich um. »Ich arbeite für einen Salon in Covent Garden. Wir suchen Haarmodelle.« Sie lächelte Milly an. »Hätten Sie Lust?«
Liebend gern hätte Milly sich zur Verfügung gestellt.
»Tut mir leid«, sagte sie bedauernd, »aber ich stehe etwas unter Zeitdruck.« Sie hielt inne, und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich heirate nämlich am Samstag.«
»Ach!«, rief das Mädchen. »Wirklich? Herzlichen Glückwunsch! Sie werden eine bezaubernde Braut abgeben.«
»Danke.« Milly errötete. »Schade, dass es nicht geht. Aber ich muss noch etwas erledigen.«
»Schon gut.« Das Mädchen verdrehte mitfühlend die Augen. »Ich weiß, wie das ist! All die Kleinigkeiten, die man immer bis zuletzt aufschiebt!«
»Genau«, gab Milly ihr recht und ging weiter. »Nur ein paar Kleinigkeiten.«
Als sie das Somerset House betreten und die gesuchte Abteilung schließlich gefunden hatte, hoben sich ihre Lebensgeister noch mehr. Der für die Scheidungsurteile zuständige Mann war rund und fröhlich, mit glitzernden Augen und einem schnellen Computer.
»Sie haben Glück«, sagte er, während er ihre Daten eintippte. »Seit einigen Jahren sind alle Daten im Computer erfasst. Frühere Einträge hätten wir per Hand suchen müssen.« Er blinzelte ihr zu. »Aber in diesen Jahren wären Sie ja gerade mal ein Baby gewesen. Nun, haben Sie noch einen Moment Geduld, meine Liebe …«
Milly strahlte zurück. Sie plante bereits, was sie tun würde, wenn sie die Scheidungsbestätigung erhalten hätte. Sie würde ein Taxi zu Harvey Nichols nehmen, sich schnurstracks in den fünften Stock begeben und sich einen Sekt genehmigen. Und dann würde sie Isobel anrufen. Und dann würde sie …
Der Piepston des Computers unterbrach sie in ihren Gedanken. Der Mann spähte auf den Bildschirm, dann sah er auf.
»Nein«, sagte er überrascht. »Nichts gefunden.«
Milly wurde flau im Magen.
»Was?«, sagte sie. Ihre Lippen fühlten sich plötzlich trocken an. »Wie meinen Sie das?«
»Kein rechtskräftiges Urteil aufgelistet«, sagte der Mann und tippte erneut etwas ein. Wieder piepte der Computer, und der Mann runzelte die Stirn. »Nicht in dieser Zeitspanne und für diese Namen.«
»Aber es muss«, sagte Milly. »Es muss .«
»Ich habe es zweimal versucht«, sagte der Mann. Er sah auf. »Haben Sie die Namen auch sicher richtig buchstabiert?«
Milly schluckte.
»Ziemlich sicher.«
»Und Sie sind sich sicher, der Antragsteller hat sich um ein rechtskräftiges Scheidungsurteil bemüht?« Milly blickte ihn benommen an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Nein«, antwortete sie. »Das bin ich mir nicht.« Der Mann nickte fröhlich.
»Sechs Wochen, nachdem ein vorläufiges Scheidungsurteil vorliegt, muss der Scheidungskläger ein rechtskräftiges beantragen.«
»Ja«, sagte Milly. »Ich verstehe.«
»Ein vorläufiges Scheidungsurteil liegt aber schon vor, oder, meine Liebe?«
Milly sah verständnislos auf und erwiderte den Blick des Mannes, der sie mit unvermittelter Neugierde betrachtete. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun.
»Ja«, erwiderte sie rasch, ehe er weitere Fragen stellen konnte. »Natürlich. Es war alles in Ordnung. Ich … ich gehe zurück und prüfe, was da passiert ist.«
»Wenn Sie eine Rechtsberatung benötigen sollten …«
»Nein danke«, sagte Milly und entfernte sich. »Sie waren sehr freundlich. Herzlichen Dank.«
Als sie sich umwandte und nach der Türklinke griff, rief er sie noch mal zurück. »Mrs. Kepinski?«
Mit bleichem Gesicht wirbelte sie herum.
»Oder ist es jetzt Ms. Havill?«, erkundigte sich der Mann lächelnd. Er kam um den Tresen herum. »Hier ist eine Broschüre, die das ganze Verfahren erklärt.«
»Danke«, sagte Milly verzweifelt. »Sehr liebenswürdig.«
Sie schenkte ihm ein weiteres allzu strahlendes Lächeln, steckte die Broschüre ein und verließ mit einem dicken Kloß im Hals den Raum. Sie hatte die ganze Zeit über recht gehabt. Allan war ein egoistisches, skrupelloses Schwein, das sie einfach im Stich gelassen hatte.
Sie trat auf die Straße, voller Panik, die sich immer mehr in ihr breitmachte. Sie war wieder da, wo sie angefangen hatte – aber ihr erschien ihre Lage nun unendlich viel schlimmer, unendlich viel auswegsloser. Plötzlich sah sie Alexander mit boshaft funkelndem Lächeln vor sich, dem Grinsen eines Geiers gleich. Und Simon, der nichts ahnend in Bath wartete. Allein der Gedanke an die beiden in der gleichen Stadt verursachte ihr Übelkeit. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Das Schild eines Pubs erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie ging automatisch hinein, steuerte direkt auf die Bar zu und bestellte einen Gin Tonic. Als der ausgetrunken war, bestellte sie einen neuen und dann noch einen. Allmählich zeigte der Alkohol seine Wirkung, sie wurde ruhiger, und ihre Beine hörten zu zittern auf. Hier, in dieser warmen Bieratmosphäre, war sie anonym, weit entfernt von der Realität. Sie konnte alles aus dem Gedächtnis streichen, bis auf den Geschmack des Gins und der Nüsse, die an der Bar in kleinen Metallschüsseln angeboten wurden.
Eine halbe Stunde stand sie einfach nur da, ohne sich um die Menschen um sie herum zu kümmern, Frauen, die ihr neugierige Blicke zuwarfen, Männer, die versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Sie ignorierte sie allesamt. Als sich ein leises Hunger- und Übelkeitsgefühl einstellte, schob sie ihr Glas weg, nahm ihre Tasche und verließ den Pub. Leicht schwankend stand sie auf der Straße und fragte sich, wohin nun. Es war Mittagszeit, und auf dem Bürgersteig wimmelte es von Leuten, die vorbeieilten, Taxis herbeiwinkten, in Geschäfte, Pubs und Sandwich-Bars einfielen. In der Ferne erklang Glockengeläut, und ihr schossen Tränen in die Augen. Was sollte sie bloß tun? Lieber gar nicht dran denken.
Sie starrte auf die Menschenmassen und wünschte sich von ganzem Herzen, sie wäre eine von ihnen. Gern wäre sie das fröhlich wirkende Mädchen gewesen, das ein Croissant aß, oder jene gelassene Dame, die in den Bus stieg, oder …
Plötzlich erstarrte Milly. Sie blinzelte ein paarmal, wischte sich die Tränen fort und schaute erneut. Aber das Gesicht, das sie entdeckt hatte, war bereits verschwunden, verschluckt von der wogenden Menschenmenge. Voller Panik eilte sie vorwärts und spähte um sich herum. Einige Augenblicke sah sie nichts als Fremde, Mädchen in bunten Mänteln, Männer in dunklen Anzügen, Anwälte, die noch immer ihre Perücken trugen. Sie drängten sich an ihr vorbei, und sie bahnte sich ungeduldig ihren Weg hindurch. Fieberhaft sagte sie sich, sie müsse sich geirrt haben. Sie müsse jemand anderen gesehen haben. Aber dann setzte ihr Herz einen Schlag aus. Dort war er wieder, ging auf der anderen Straßenseite und unterhielt sich mit einem Mann. Er wirkte älter, als sie ihn in Erinnerung hatte, und dicker. Aber er war es eindeutig: Rupert.
Bei seinem Anblick erfasste Milly eine Woge glühenden Hasses. Wie konnte er es wagen, so glücklich und gelöst durch die Straßen Londons zu schlendern? Wie konnte er es wagen, nicht zu wissen, was sie alles durchmachte? Seinetwegen war ihr Leben in Auflösung begriffen. Seinet- und Allans wegen. Und er hatte keine Ahnung davon.
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