»Ich scheiß auf die Moral«, hatte Rupert erwidert und sich zurückplumpsen lassen. Ihm fiel eine Zentnerlast von der Seele, er fühlte sich befreit. »Herrje, ich fühle mich unglaublich, ich habe ja nie gewusst …« Er brach den Satz ab.
»Nein«, hatte Allan amüsiert gesagt. »Das dachte ich mir.«
Dieser Sommer war in Ruperts Gedächtnis eingegraben wie ein einziger großer Rausch. Er hatte sich Allan ganz und gar hingegeben, hatte die ganzen Sommerferien mit ihm verbracht. Er hatte mit ihm gegessen, mit ihm geschlafen, hatte ihn respektiert und geliebt. Niemand sonst schien zu zählen oder überhaupt zu existieren.
Für das Mädchen Milly hatte er sich nicht im Geringsten interessiert. Allan war ziemlich von ihr eingenommen gewesen, hatte ihre Naivität bezaubernd gefunden, sich über ihr unschuldiges Geplapper amüsiert. Aber in Ruperts Augen war sie lediglich ein weiteres oberflächliches, albernes Geschöpf. Eine Zeitverschwendung, eine Rivalin, was Allans Aufmerksamkeit anbelangte.
»Rupert?« Die Frau neben ihm stupste ihn an, und Rupert merkte, dass das Lied zu Ende war. Er setzte sich rasch und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
Aber der Gedanke an Milly hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, er konnte an nichts anderes mehr denken. »Milly aus Oxford« hatte sie sich am Telefon genannt. Wut und Angst überkamen Rupert, als er daran dachte, wie seine Frau ihren Namen ausgesprochen hatte. Was dachte Milly sich eigentlich dabei, ihn nach zehn Jahren anzurufen? Wie war sie an seine Nummer gekommen? War ihr nicht klar, dass sich alles geändert hatte? Dass er nicht schwul war? Dass alles ein schrecklicher Fehler gewesen war?
»Rupert! Du bist mit der Lesung dran!«, zischte die Frau ihm zu, und Rupert kam abrupt zu sich. Er legte seinen Liedertext sorgfältig fort, nahm seine Bibel und stand auf. Langsam schritt er zum Pult, legte seine Bibel darauf und blickte seine Zuhörer an.
»Ich werde aus dem Matthäusevangelium lesen«, verkündete er. »Das Thema lautet Verleugnung. Wie können wir mit uns selbst leben, wenn wir den verleugnen, den wir wahrhaftig lieben?«
Mit zitternden Händen öffnete er die Bibel und holte tief Luft. Ich lese dies für Gott, sagte er sich – wie alle Leser in der St. Catherine’s Church das taten. Ich lese es für Jesus. Das Bild eines ernsten, verratenen Gesichts stieg vor ihm auf, und er verspürte ein vertrautes Schuldgefühl. Aber nicht das Antlitz Jesu sah er vor sich, sondern Allans Gesicht.
Am nächsten Morgen warteten Milly und Isobel, bis ein paar Gäste in die Küche hinunterkamen, und stahlen sich dann davon, ehe Olivia ihnen unliebsame Fragen stellen konnte.
»Okay«, sagte Isobel, als sie beim Auto waren. »Ich glaube, um halb neun geht ein Schnellzug nach London. Den solltest du erwischen.«
»Was ist, wenn er etwas sagt?«, meinte Milly und blickte zu Alexanders zugezogenem Fenster hinauf. »Was, wenn er es Simon erzählt, während ich fort bin?«
»Das wird er schon nicht«, erwiderte Isobel bestimmt. »Simon arbeitet doch den ganzen Vormittag, oder? Alexander wird gar nicht an ihn rankommen. Und bis dahin bist du immerhin schon schlauer.« Sie öffnete die Autotür. »Komm, steig ein.«
»Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte Milly, während Isobel den Motor anließ. »So nervös war ich.« Sie wand eine Haarsträhne fest um ihren Finger und ließ sie dann wieder los. »Zehn Jahre hab ich gedacht, ich bin verheiratet. Und nun … bin ich’s vielleicht gar nicht!«
»Milly, das weißt du noch nicht«, wandte Isobel ein.
»Schon klar«, sagte Milly. »Aber einleuchtend wär’s doch, oder? Warum sollte Allan das Scheidungsverfahren einleiten und es dann nicht durchziehen? Natürlich würde er alles durchziehen!«
»Vielleicht.«
»Sei nicht so pessimistisch, Isobel! Schließlich warst du es doch, die gesagt hat …«
»Das weiß ich. Und ich hoffe wirklich, du bist geschieden.« Sie warf Milly einen Blick zu. »Aber feiern würde ich erst, wenn ich es mit Bestimmtheit wüsste.«
»Ich feiere nicht«, entgegnete Milly. »Noch nicht. Ich mache mir nur … Hoffnungen.«
An der Ampel hielten sie und beobachteten, wie ein langer Zug von Kindern, allesamt in roten Dufflecoats, die Straße überquerte.
»Wenn sich dein reizender Freund Rupert natürlich die Mühe gemacht hätte zurückzurufen, dann hättest du mit Allan längst in Verbindung treten können«, sagte Isobel. »Dann wüsstest du schon, was Sache ist.«
»Ja, nicht?«, meinte Milly. »Mistkerl! Mich einfach so zu ignorieren ! Er muss doch wissen, dass ich in Schwierigkeiten stecken muss! Wieso würde ich ihn sonst anrufen?« Ihre Stimme hob sich ungläubig. »Wie kann man bloß so egoistisch sein?«
»Die meisten Menschen sind egoistisch«, erklärte Isobel. »Verlass dich darauf.«
»Und wie kommt’s, dass er plötzlich eine Frau hat?«
Isobel zuckte die Achseln.
»Na bitte, da hast du die Antwort. Deswegen hat er nicht zurückgerufen.«
Milly malte auf das angelaufene Seitenfenster einen Kreis und blickte hinaus. Pendler eilten die Bürgersteige entlang und zertraten den frischen Morgenschnee zu Matsch, warfen im Vorbeigehen Blicke auf grellfarbene Sonderangebotsschilder in Schaufenstern geschlossener Läden.
»Tja, was wirst du also tun?«, fragte Isobel unvermittelt. »Wenn du herausfindest, dass du geschieden bist?«
»Wie meinst du das?«
»Wirst du es Simon erzählen?«
Schweigen.
»Ich weiß nicht«, sagte Milly schließlich bedächtig. »Vielleicht ist es nicht nötig.«
»Aber, Milly …«
»Ich weiß, dass ich es ihm eigentlich hätte sagen sollen«, fiel Milly ihr ins Wort. »Schon vor Monaten hätte ich es ihm erzählen und dann alles ins Reine bringen sollen.« Sie machte eine Pause. »Aber das habe ich nun mal nicht. Und daran ist nichts mehr zu ändern. Dafür ist es zu spät.«
»Na und? Du könntest es ihm doch jetzt erzählen.«
»Aber jetzt ist alles anders! In drei Tagen findet unsere Hochzeit statt. Alles ist perfekt. Warum das alles … damit kaputtmachen?«
Isobel schwieg, und Milly sah sie trotzig an. »Du meinst wohl, ich sollte es ihm auf jeden Fall sagen? Du denkst wohl, man kann vor jemandem, den man liebt, keine Geheimnisse haben?«
»Nein«, erwiderte Isobel, »tue ich nicht.« Milly schaute sie überrascht an. Isobel hatte den Blick abgewandt, sie hielt das Steuer fest umklammert. »Man kann locker jemanden lieben und etwas vor ihm geheim halten.«
»Aber …«
»Wenn es etwas ist, was ihn unnötig belasten würde. Wenn es etwas ist, das er nicht zu wissen braucht.« Isobels Stimme wurde etwas barscher. »Manches behält man am besten für sich.«
»Wie zum Beispiel?« Milly sah Isobel erstaunt an. »Wovon sprichst du?«
»Von nichts.«
»Hast du etwa ein Geheimnis?«
Isobel schwieg. Eine Weile starrte Milly ihre Schwester prüfend an, versuchte, ihren Ausdruck zu deuten. Dann kam es ihr plötzlich. Wie ein Blitz traf sie die entsetzliche Erkenntnis.
»Du bist krank, stimmt’s?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Herrgott, jetzt wird mir alles klar! Deshalb bist du so blass. Du leidest an irgendetwas Schrecklichem – und willst es uns bloß nicht sagen!« Millys Stimme hob sich. »Du glaubst, es ist das Beste, es uns zu verschweigen! Was, bis du stirbst ?«
»Milly!«, rief Isobel mit schneidender Stimme. »Ich sterbe nicht. Und ich bin nicht krank!«
»Aber was hast du dann für ein Geheimnis?«
»Ich habe nie behauptet, eines zu haben. Das war reine Theorie.« Isobel bog auf den Bahnhofsparkplatz ein. »So, da wären wir.« Sie machte die Wagentür auf und stieg ohne einen Blick zu ihrer Schwester aus.
Widerwillig folgte ihr Milly. Als sie in die Bahnhofshalle gelangten, fuhr ein Zug von einem der Bahnsteige ab, und ein Schwarm angekommener Reisender tauchte auf. Unbekümmerte, glückliche Menschen mit Taschen, die ihren Freunden zuwinkten. Menschen, die das Wort »Hochzeit« mit Glück und Feiern verbanden.
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