»Mach, was du schon vor Jahren hättest machen sollen. Ruf deinen Mann an.«
»Das geht nicht«, meinte Milly sofort. »Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«
»Na, dann find’s heraus!«
»Kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du!«
»Ich wüsste nicht mal, wo ich anfangen sollte! Und überhaupt …« Milly ließ den Satz unvollendet und sah fort.
»Was?« Stille trat ein, und Milly zündete sich mit bebenden Händen eine weitere Zigarette an. »Was?«, wiederholte Isobel ungeduldig.
»Ich möchte nicht mit ihm sprechen, okay?«
»Warum denn nicht?« Isobel musterte Millys niedergeschlagenes Gesicht. »Warum nicht, Milly?«
»Weil du recht hast«, sagte Milly plötzlich, und ihr sprangen Tränen in die Augen. »Du hast recht, Isobel! Meine Freunde sind die beiden nie gewesen, oder? Sie haben mich nur benutzt. Sie haben bloß rausgeholt, was sie konnten. All diese Jahre habe ich sie für meine Freunde gehalten. Sie haben einander so sehr geliebt, und ich wollte ihnen helfen …«
»Milly …«
»Weißt du, als ich wieder daheim war, habe ich ihnen geschrieben.« Milly starrte in die Dunkelheit. »Allan hat mir zurückgeschrieben. Ich hatte immer vor, noch mal hinzufahren und sie zu überraschen. Dann haben wir allmählich den Kontakt verloren. Aber ich habe sie immer noch als meine Freunde betrachtet.« Sie sah zu Isobel auf. »Du hast ja keine Ahnung, wie es in Oxford war. Es war wie eine stürmische Romanze zwischen uns dreien. Wir sind Stechkahn gefahren, wir haben Picknicks veranstaltet und uns bis in die Nacht hinein miteinander unterhalten …« Sie verstummte. »Und insgeheim haben sie sich wohl die ganze Zeit über mich lustig gemacht, nicht?«
»Nein«, entgegnete Isobel. »Das haben sie bestimmt nicht.«
»Ich war das ideale Opfer«, sagte Milly bitter. »Eine naive, leichtgläubige dumme Kuh, die alles getan hat, worum man sie bat.«
»Hör mal, lass das Grübeln.« Isobel legte den Arm um Milly. »Das ist zehn Jahre her. Es ist vorbei. Aus. Du musst nach vorn schauen. Du musst etwas über die Scheidung in Erfahrung bringen.«
»Ich kann nicht«, meinte Milly kopfschüttelnd. »Ich kann nicht mit ihm sprechen. Er wird mich bloß … auslachen.« Isobel seufzte.
»Tja, es wird dir gar nichts anderes übrig bleiben.«
»Aber er könnte überall sein!«, sagte Milly hilflos. »Er hat sich einfach in Luft aufgelöst!«
»Milly, wir leben im Informationszeitalter«, versetzte Isobel. »Da kann man sich nicht mehr in Luft auflösen.« Sie holte einen Stift aus ihrer Tasche hervor und riss von einer der Hochzeitsschachteln ein Stück Pappe ab. »So, jetzt komm«, sagte sie forsch. »Jetzt erzähl mir, wo er früher gewohnt hat. Und seine Eltern. Und Rupert. Und dessen Eltern. Und alle anderen, die die beiden gekannt haben.«
Eine Stunde später blickte Milly triumphierend vom Telefon auf.
»Das könnte sie sein!«, rief sie aus. »Sie geben mir eine Nummer!«
»Halleluja!«, erwiderte Isobel. »Hoffentlich ist er es.« Sie studierte den Straßenatlas auf ihrem Schoß, der beim Index aufgeschlagen war. Es hatte eine Weile gedauert, bis Milly sich daran erinnert hatte, dass Ruperts Vater Schulleiter in Cornwall gewesen war, und noch etwas länger, bis sie den Namen des Dorfes auf einen, der mit T begann, eingrenzen konnte. Seitdem hatten sie sich den Index hinuntergearbeitet und bei der Fernsprechauskunft jedesmal nach einem Dr. Carr gefragt.
»Nun, hier ist sie.« Milly legte den Hörer auf und starrte auf eine Nummer.
»Super!«, sagte Isobel. »Na, komm, ruf an!«
»Okay.« Milly holte tief Luft. »Mal sehen, ob es die richtige ist.«
Das hätte ich auch schon früher machen können, dachte sie schuldbewusst, als sie den Hörer abnahm. Ich hätte das jederzeit tun können. Trotzdem wählte sie nur widerstrebend. Sie wollte nicht mit Rupert sprechen. Sie wollte nicht mit Allan sprechen. Sie wollte vergessen, dass die beiden Schufte überhaupt je existiert hatten, wollte sie aus dem Gedächtnis streichen.
»Hallo?« Plötzlich sprach ihr eine männliche Stimme ins Ohr, und Milly fuhr erschrocken zusammen.
»Hallo?«, sagte sie vorsichtig. »Spreche ich mit Dr. Carr?«
»Ja, am Apparat.« Dass sie seinen Namen kannte, schien ihn angenehm zu überraschen.
»Oh, gut«, sagte Milly und räusperte sich. »Dürfte ich … dürfte ich bitte Rupert sprechen?«
»Der ist leider nicht hier«, erwiderte der Mann. »Haben Sie es schon unter seiner Londoner Nummer versucht?«
»Nein, die habe ich gar nicht.« Milly wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang. Sie warf einen Blick hinüber zu Isobel, die beifällig nickte. »Ich bin eine alte Freundin aus Oxford und versuche gerade wieder, auf den aktuellen Stand zu kommen.«
»Ja, inzwischen wohnt er in London. Arbeitet als Rechtsanwalt bei einem Obergericht. Ich gebe Ihnen mal seine Privatnummer.«
Während Milly sich die Nummer aufschrieb, spürte sie Verwunderung in sich aufsteigen. So einfach war das also. Jahrelang hatte sie gedacht, Rupert und Allan seien für immer aus ihrem Leben verschwunden, seien nebulöse Gestalten, die sich inzwischen sonstwo auf der Welt aufhalten konnten, die sie nie wieder sehen würde. Und doch war sie hier, sprach mit Ruperts Vater, nur einen Telefonanruf von Rupert persönlich entfernt. In ein paar Minuten würde sie seine Stimme hören. O Gott.
»Kennen wir uns eigentlich?«, erkundigte sich Ruperts Vater. »Waren Sie am Corpus?«
»Nein«, sagte Milly eilig. »Tut mir leid, ich muss Schluss machen. Ich danke Ihnen vielmals.«
Sie legte den Hörer auf und starrte ihn eine Weile an. Dann holte sie tief Luft, hob ihn erneut ab und wählte Ruperts Nummer, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
»Hallo?«, hörte sie eine angenehme Frauenstimme.
»Hallo«, erwiderte Milly, bevor sie feige auflegen konnte. »Ich hätte gern Rupert gesprochen, bitte. Es ist ziemlich wichtig.«
»Natürlich. Dürfte ich bitte den Namen erfahren?«
»Milly. Milly aus Oxford.«
Während die Frau ihn holen ging, wand Milly die Telefonschnur um die Finger und versuchte, gleichmäßig weiterzuatmen. Aus Angst vor einer Panikreaktion traute sie sich nicht, Isobel in die Augen zu sehen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit. Wie Rupert jetzt wohl aussah? Was er wohl zu ihr sagen würde? Leise hörte sie im Hintergrund Musik und stellte sich ihn vor, wie er auf dem Boden lag, einen Joint rauchte und sich Jazzmusik anhörte. Oder vielleicht saß er auf einem alten Samtstuhl, spielte Karten und trank Whisky. Vielleicht spielte er Karten mit Allan. Millys Herz klopfte schneller. Jeden Moment konnte Allan am anderen Ende der Leitung sein.
Plötzlich war die Frau wieder dran.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber Rupert ist augenblicklich sehr beschäftigt. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Milly. »Aber vielleicht könnte er mich zurückrufen?«
»Natürlich.«
»Die Nummer lautet 8 94 06 in Bath.«
»Okay, ich habe sie notiert.«
»Super«, sagte Milly. Sie blickte auf das Gekritzel auf ihrem Notizblock und verspürte eine Woge der Erleichterung. Sie hätte das vor Jahren tun sollen; es war einfacher als gedacht. »Sind Sie Ruperts Mitbewohnerin?«, setzte sie im Plauderton hinzu. »Oder nur eine Freundin?«
»Weder noch.« Die weibliche Stimme klang überrascht. »Ich bin Ruperts Frau.«
Rupert Carr saß am Kamin seines Hauses in Fulham und zitterte vor Angst. Francesca legte mit einem merkwürdigen Blick den Hörer auf, und Rupert wurde es flau im Magen. Was hatte Milly seiner Frau gesagt? Was genau hatte sie ihr gesagt?
»Wer ist Milly?« Francesca nahm ihr Weinglas und nippte daran. »Und warum wolltest du nicht mit ihr sprechen?«
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