»Aha«, sagte Esme. »Verstehe.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an und inhalierte einen tiefen Lungenzug.
»Ja, was würdest du an ihrer Stelle tun?«, fragte Milly. Esme blies nachdenklich eine Rauchwolke aus.
»Welches Risiko geht die andere Person ein, wenn sie sie verrät?«
»Kein großes«, sagte Milly. »Kein großes, denk ich.«
»Dann würde ich nichts sagen«, riet Esme. »Augenblicklich zumindest. Und ich würde mir überlegen, wie ich den anderen dazu bringe, den Mund zu halten.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht verläuft das Ganze im Sande.«
»Glaubst du?« Milly sah auf. »Glaubst du wirklich?«
Esme lächelte.
»Schatz, wie oft hast du dich nachts schon hin und her gewälzt und dir Sorgen um etwas gemacht, nur um morgens dann zu entdecken, dass die ganze Angst völlig unbegründet war? Wie viele Male bist du mit einer Entschuldigung für irgendein Fehlverhalten hereingeeilt, nur um zu erkennen, dass es keinem überhaupt aufgefallen ist?« Sie zog tief an ihrer Zigarette. »Neun von zehn Malen ist es besser, mit gesenktem Kopf den Mund zu halten und zu hoffen, dass alles glatt geht. Und niemand braucht je davon zu erfahren.« Sie hielt inne. »Rein hypothetisch gesprochen, natürlich.«
»Ja, natürlich.«
Stille trat ein, unterbrochen nur durch das Knistern und Prasseln des Feuers. Draußen schneite es wieder in dicken Flocken.
»Trink noch etwas Glühwein«, schlug Esme vor. »Ehe er kalt wird. Und nimm dir noch ein Plätzchen.«
»Danke«, murmelte Milly. Sie nahm sich noch eines und starrte sie an. »Du glaubst also nicht, ich … die Person sollte ehrlich zu ihrem Partner sein?«
»Warum sollte sie?«
»Weil … weil sie ihn heiratet!« Esme lächelte.
»Schatz, an sich ist das ja ein netter Gedanke. Aber eine Frau sollte nie versuchen, ehrlich zu einem Mann zu sein. Das ist so gut wie unmöglich.«
Milly schaute auf. »Wie meinst du das, unmöglich?«
»Versuchen kann man’s natürlich«, meinte Esme. »Aber im Grunde sprechen Frauen und Männer nicht dieselbe Sprache. Sie haben … verschiedene Sinne. Versetze einen Mann und eine Frau in genau die gleiche Situation, und sie werden sie total unterschiedlich wahrnehmen.«
»Und daraus folgt?«
»Daraus folgt, dass sie einander fremd sind«, erklärte Esme. »Und du kannst mit niemandem vollkommen ehrlich sein, den du nicht richtig verstehst.«
Milly dachte eine Weile nach.
»Menschen, die seit Jahren glücklich verheiratet sind, verstehen einander«, sagte sie schließlich.
»Sie wursteln sich durch«, versetzte Esme, »mit einer Mischung aus Zeichensprache und Goodwill und dem einen oder anderen Satz, den sie im Laufe der Jahre aufgeschnappt haben. Zu den wahren Tiefen der Seele des anderen stoßen sie aber nicht vor. Dafür fehlt ganz einfach die gemeinsame Sprache.« Wieder zog sie an ihrer Zigarette. »Und Dolmetscher gibt es keine. Oder zumindest nur sehr wenige.«
Milly schaute sie mit großen Augen an. »Du willst also sagen, so etwas wie eine glückliche Ehe gibt es gar nicht?«
»Damit will ich sagen, so etwas wie eine ehrliche Ehe gibt es nicht«, erwiderte Esme. »Glück ist etwas anderes.«
»Ich schätze, du hast recht«, meinte Milly verzweifelt und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Esme, ich muss los.«
»Schon?«
»In Simons Büro bekommen wir ein Hochzeitsgeschenk überreicht.«
»Ah so.« Esme strich die Zigarettenasche in einem Perlmuttbehälter ab. »Nun, hoffentlich habe ich dir bei deinem kleinen Problem etwas helfen können.«
»Eigentlich nicht«, sagte Milly geradeheraus. »Wenn überhaupt, dann bin ich jetzt noch verwirrter als zuvor.« Esme lächelte amüsiert.
»O je. Das tut mir leid.« Sie musterte Millys Gesicht. »Ja, und was meinst du, was wird deine …hypothetische Person nun tun?«
Stille.
»Ich weiß nicht«, meinte Milly schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«
James Havill hatte mittags das Büro verlassen und sich auf den Heimweg gemacht. Bei seiner Ankunft war das Haus bis auf das eine oder andere Knarzen in mittägliche Stille gehüllt. Er stand eine Weile in der Diele und lauschte. Aber sein Heim schien so leer zu sein, wie er es sich erhofft hatte. Zu dieser Tageszeit waren die Gäste auf Sightseeingtour. Milly arbeitete noch, die Putzfrau war fertig. Die Einzige im Haus wäre Olivia.
So leise wie möglich erklomm er die Treppe. Als er im zweiten Stock um die Ecke bog, begann sein Herz erwartungsvoll zu pochen. Er hatte diese Begegnung den ganzen Vormittag geplant; er hatte in Besprechungen gesessen und an nichts anderes gedacht als daran, was er seiner Frau sagen würde – und wie.
Ihre Zimmertür war geschlossen. Bevor er anklopfte, starrte James einen Augenblick auf das Porzellanschild, auf dem das Wort PRIVAT stand.
»Ja?« Ihre Stimme klang erschrocken.
»Ich bin’s nur«, sagte er und machte die Tür auf. Im Zimmer war es warm von dem elektrischen Ofen, zu warm für seinen Geschmack. Olivia saß in ihrem verblichenen Chintzsessel vor dem Fernseher. Ihre Füße ruhten auf der Fußbank, die sie selbst mit Gobelinstoff bezogen hatte. Neben ihr stand eine Tasse Tee, und in den Händen hielt sie einen blassrosa Seidenstoff.
»Hallo.« James blickte zum Fernseher, wo eine schwarzweiße Bette Davis sich frostig mit einem Mann mit kantigem Kinn unterhielt. »Ich wollte dich nicht stören.«
»Tust du auch nicht«, sagte Olivia. Sie ergriff die Fernbedienung und verringerte Bette Davis’ Stimme zu einem fast unhörbaren Murmeln. »Was hältst du davon?«
»Was meinst du?«, fragte James überrascht.
»Isobels Kleid!«, erwiderte Olivia und hielt die rosa Seide hoch. »Ich fand es ein bisschen schlicht, deshalb besetze ich es mit ein paar Rosen.«
»Sehr hübsch«, sagte James, den Blick immer noch auf den Bildschirm gerichtet. Er konnte nicht ganz verstehen, was Bette Davis sagte. Sie hatte ihre Handschuhe aufgeknöpft; wollte sie den Mann mit dem kantigen Kinn zu einem Kampf herausfordern? Er sah auf. »Ich wollte mit dir reden.«
»Und ich mit dir«, sagte Olivia. Sie nahm ein rotes Heft zur Hand, das neben dem Sessel lag, und las darin nach. »Also das Erste: Hast du die Strecke zur Kirche mit der Stadtverwaltung abgeklärt?«
»Ich kenne die Strecke«, sagte James. Olivia seufzte verzweifelt auf.
»Schon klar! Aber weißt du, ob am Samstag irgendwelche Straßenarbeiten oder Demonstrationen durchgeführt werden? Nein! Deshalb müssen wir bei der Stadt anrufen. Erinnerst du dich nicht?« Sie schrieb etwas in das Heft hinein. »Schon gut, dann erledige ich es halt selbst.«
James schwieg. Er sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber einen weiteren Stuhl gab es nicht. Schließlich setzte er sich auf die Bettkante. Olivias Bettdecke war weich und roch schwach nach ihrem Parfüm. Sie war gleichmäßig über ihr Bett ausgebreitet, drapiert mit Spitzenkissen, adrett und sauber, als würde sie nie darin schlafen. Soweit er wusste, tat sie es auch nicht. Seit sechs Jahren hatte James die Unterseite von Olivias Bettdecke nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Und dann«, meinte Olivia, »ist da noch die Frage nach den Geschenken für die Gäste.«
»Geschenke für die Gäste?«
»Ja, James«, sagte Olivia ungeduldig. »Geschenke für die Gäste. Heutzutage ist das so üblich.«
»Ich dachte, es wäre andersherum.«
»So rum und so rum. Die Gäste geben Milly und Simon ein Geschenk, und wir schenken den Gästen was.«
»Und wer schenkt uns was?«, wollte James wissen. Olivia verdrehte die Augen.
»Also, du bist wirklich keine Hilfe, James. Milly und ich haben bereits organisiert, dass jeder Gast eine Sektflöte bekommt.«
»Na, das ist doch in Ordnung.« James holte Luft. »Olivia …«
»Aber ich habe mich gefragt, ob ein blühender Rosenbusch nicht origineller wäre? Schau!« Sie deutete auf eine aufgeschlagene Zeitschrift auf dem Boden. »Ist das nicht hübsch?«
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